Lange Schatten. Louise Penny

Lange Schatten - Louise Penny


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      »Also ich weiß nicht«, sagte Reine-Marie und sah sich nach den im Garten verteilten Finneys um. »Komisches Familientreffen. Da nehmen alle die lange Fahrt auf sich, nur um sich dann aus dem Weg zu gehen.«

      »Könnte schlimmer sein«, sagte er. »Sie könnten sich auch gegenseitig umbringen.«

      Reine-Marie lachte. »Das schaffen sie nie auf die Distanz.«

      Gamache grunzte zustimmend und stellte zufrieden fest, dass es ihm egal war. Es war deren Problem, nicht seins. Abgesehen davon hatte er die Finneys nach den wenigen Tagen komischerweise irgendwie ins Herz geschlossen.

      »Votre thé glacé, madame.« Der junge Mann sprach Französisch mit einem netten englisch-kanadischen Akzent.

      »Merci, Elliot.« Reine-Marie beschattete ihre Augen gegen die Nachmittagssonne und lächelte den Kellner an.

      »Un plaisir.« Er strahlte und reichte Reine-Marie einen Eistee und Gamache Zitronenlimonade, dann ging er weiter, um die übrigen Getränke zu servieren.

      »Ich erinnere mich noch an die Zeit, als ich so jung war«, sagte Gamache wehmütig.

      »Du magst ja einmal so jung gewesen sein, aber du warst niemals so …« Sie nickte in die Richtung von Elliot in seiner schwarzen Hose und dem knapp sitzenden kurzen weißen Jäckchen, der gerade mit weit ausholenden Schritten über den kurz geschnittenen Rasen ging.

      »O nein, schon wieder ein Konkurrent, den ich verprügeln muss?«

      »Vielleicht.«

      »Das würde ich tun, das weißt du.« Er nahm ihre Hand.

      »Das würdest du sicher nicht tun. Du würdest ihm zuhören, bis er tot umfällt.«

      »Das ist nicht die schlechteste Strategie. Zermalme ihn mit Geistesgröße.«

      »Mir steht sein Grauen regelrecht vor Augen.«

      Gamache nippte an seiner Limonade, und gleich darauf verzog er das Gesicht, und es stiegen ihm Tränen in die Augen.

      »Ach, welche Frau könnte diesem Anblick widerstehen?« Sie betrachtete seine blinzelnden, tränenden Augen und die jämmerliche Miene.

      »Zucker. Ich brauch Zucker«, keuchte er.

      »Warte, ich frage den Kellner.«

      »Mach dir keine Mühe. Das erledige ich selbst.« Er hustete, dann sah er sie gespielt streng an und erhob sich schwungvoll von seinem bequemen Stuhl.

      Mit der Limonade in der Hand wanderte er durch den Garten auf die breite, vor der schlimmsten Nachmittagssonne geschützten Terrasse, auf der es jetzt schon etwas kühler war. Bert Finney ließ sein Buch sinken und sah zu Gamache, dann lächelte er und nickte höflich.

      »Guten Tag«, sagte er. »Warm heute.«

      »Wobei es sich hier durchaus aushalten lässt, finde ich«, erwiderte Gamache und lächelte das alte Paar an, das still nebeneinandersaß. Finney war um einiges älter als seine Frau. Sie war nach Gamaches Schätzung Mitte achtzig, während er mindestens neunzig sein musste und etwas Durchsichtiges an sich hatte, wie viele Menschen, die sich dem Ende ihres Lebens näherten.

      »Ich wollte gerade ins Haus gehen. Kann ich Ihnen vielleicht etwas mitbringen?«, fragte er und dachte erneut, dass Bert Finney bei all seiner Vornehmheit der unansehnlichste Mensch war, den er kannte. Er schalt sich selbst oberflächlich, schaffte es aber immerhin, den Mann nicht anzustarren. Monsieur Finney war so hässlich, dass er fast schon wieder attraktiv war, so als wäre Schönheit eine runde Sache, und dieser Mann hätte die gemeine Welt einmal ganz umrundet.

      Seine Haut war pockennarbig, seine große schiefe Nase rot und mit blauen Äderchen überzogen, als hätte er Burgunder geschnupft, und der wäre hängen geblieben. Seine hervorstehenden gelblichen Zähne standen ihm kreuz und quer im Mund, so als wüssten sie nicht, wohin. Seine kleinen Augen irrten umher und schielten leicht. Amblyopie, dachte Gamache. Früher glaubte man, es ginge der böse Blick von solchen Augen aus, und Leute wie dieser Mann wurden aus der Gesellschaft ausgeschlossen, wenn sie Glück hatten, und wenn sie Pech hatten, fanden sie sich an einen Pfahl gebunden wieder.

      Irene Finney saß in einem geblümten Sommerkleid neben ihrem Mann. Sie war mollig, hatte weiches weißes Haar, das sie locker hochgesteckt trug, und obwohl sie ihr Gesicht abgewandt hatte, konnte er sehen, dass sie zarte, helle Haut hatte. Sie sah aus wie ein weiches, einladendes Kissen, das neben einer zerklüfteten Felswand lag.

      »Vielen Dank, aber wir sind wunschlos glücklich.«

      Gamache hatte bemerkt, dass Finney als einziges Mitglied der Familie immer bemüht war, französisch mit ihm zu sprechen.

      Im Inneren des Manoir war es ein paar Grad kühler. Es war geradezu frisch, was an einem so heißen Tag sehr angenehm war. Es dauerte einen Moment, bis sich Gamaches Augen an das Dämmerlicht gewöhnten.

      Die dunkle Ahorntür zum Speisesaal war geschlossen, und Gamache klopfte leise, dann öffnete er sie und trat in den holzverkleideten Raum. Die Tische waren schon für das Abendessen eingedeckt, frisch gebügelte weiße Damastdecken, Silberbesteck, feines Porzellan und kleine Blumengestecke. Es roch nach Rosen und Holz, nach Politur und Kräutern, Schönheit und Ordnung. Durch die bis zum Boden reichenden Fenster, die zum Garten hinaussahen, fiel die Sonne. Sie waren geschlossen, damit die Hitze draußen und die kühle Luft drinnen blieb. Im Manoir Bellechasse gab es keine Klimaanlage, stattdessen dienten die mächtigen Baumstämme als natürliche Isolierung, die in den kältesten Québecer Wintern die Wärme im Haus und die Hitze an den heißesten Sommertagen draußen hielt. Dieser Tag war noch längst nicht der heißeste. Um die achtundzwanzig Grad, schätzte Gamache. Aber er war dennoch für die Handwerkskunst der coureurs du bois dankbar, die dieses Haus errichtet und jeden Stamm einzeln ausgewählt hatten, sodass nichts eindringen konnte, was nicht eindringen sollte.

      »Monsieur Gamache.« Pierre Patenaude trat auf ihn zu, lächelte und wischte sich dabei die Hände an einem Tuch ab. Er war ein paar Jahre jünger als Gamache und um einiges dünner. Das musste an dem vielen Gerenne zwischen den Tischen liegen, dachte dieser. Dabei schien der Maître d’ immer die Ruhe selbst zu sein. Er hatte Zeit für die Gäste und behandelte jeden einzelnen von ihnen so, als wäre er der einzige Gast im Hotel, ohne dass er dabei einen anderen vernachlässigte oder gar ganz übersah. Das war eine besondere Begabung der besten Maîtres d’, und das Manoir Bellechasse war bekannt dafür, sich nur mit dem Besten zufriedenzugeben.

      »Was kann ich für Sie tun?«

      Gamache hob etwas verschämt sein Glas. »Es tut mir leid, Sie mit solchen Kleinigkeiten zu belästigen, aber ich brauche noch ein bisschen Zucker.«

      »Oje. Das habe ich befürchtet. Er scheint ausgegangen zu sein. Ich habe schon einen der garçons geschickt, um welchen zu besorgen. Désolé. Aber wenn Sie so gut sein und hier warten wollen, ich glaube, ich weiß, wo die Köchin ihren Notvorrat versteckt. So etwas ist wirklich noch nie vorgekommen.«

      Genauso wenig, dachte Gamache, war er jemals Zeuge geworden, wie der unerschütterliche Maître d’ durch irgendetwas aus der Ruhe gebracht wurde.

      »Ich möchte Sie keinesfalls in Bedrängnis bringen«, rief Gamache Patenaude hinterher, aber dieser war bereits durch die Tür verschwunden.

      Kurz darauf kehrte der Maître d’ mit einer kleinen Porzellandose in der Hand zurück.

      »Glück gehabt. Ich musste allerdings erst unsere Köchin niederringen.«

      »Ach, das waren die Schreie, die ich eben gehört habe. Vielen Dank!«

      »Pour vous, monsieur, c’est un plaisir.« Patenaude nahm sein Tuch wieder zur Hand und fuhr fort, eine Silberschüssel zu polieren, während Gamache den wertvollen Zucker in seine Limonade löffelte. Beide Männer sahen im einvernehmlichen Schweigen zu den Fenstern in den Garten und auf den stillen See hinaus. Ein Kanu trieb langsam vorbei.

      »Ich habe gerade vorhin meine Instrumente überprüft«, sagte der Maître


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