Lange Schatten. Louise Penny
war mit feinen Stofflappen zwischen den Tellern sorgfältig gestapelt. Das hatte er von seiner Mutter gelernt. Sie hatte ihm beigebracht, dass Ordnung Freiheit bedeutete. Chaos konnte ein Gefängnis sein. Ordnung befreite den Geist für andere Dinge.
Von seinem Vater hatte er gelernt, wie man Menschen führte. Wann immer er in seiner Kindheit einen schulfreien Tag hatte, durfte er ihn in seinem Büro besuchen. Dann saß er auf dem Schoß seines Vaters und roch dessen Rasierwasser und Tabak, während er telefonierte. Schon als Kind wusste Pierre, dass man ihn auf eine Aufgabe vorbereitete. Zurechtstutzte und formte, polierte und schliff.
Wäre sein Vater enttäuscht von ihm gewesen? Weil er es nur zu einem Maître d’hôtel gebracht hatte? Er glaubte nicht. Sein Vater wollte eigentlich immer nur eines für ihn. Dass er glücklich war. Er drehte das Licht aus und ging durch den verlassenen Speisesaal in den Garten, um sich noch einmal den Marmorblock anzusehen.
Mariana summte vor sich hin, während sie sich Schicht um Schicht aus ihren Kleidern schälte. Dabei sah sie von Zeit zu Zeit zu dem schmalen Bett, das neben ihrem stand. Bean schlief schon oder tat zumindest so.
»Bean?«, flüsterte sie. »Gib deiner Mommy einen Gutenachtkuss, Bean.«
Das Kind war still. Anders als das Zimmer. Fast jede freie Fläche war mit Weckern vollgestellt. Digitalwecker, elektrische Wecker und solche zum Aufziehen. Alle auf sieben Uhr gestellt. Alle bewegten sich unerbittlich auf diese Uhrzeit zu, wie sie es seit Monaten Tag für Tag machten. Sie schienen sogar dauernd mehr zu werden.
Mariana fragte sich, ob es nicht langsam zu weit ging. Ob sie etwas unternehmen sollte. Das konnte doch nicht normal sein bei einem zehnjährigen Kind, oder? Was als ein neuer Wecker pro Jahr begonnen hatte, hatte sich unkrautartig vermehrt und Beans Zimmer zu Hause inzwischen völlig überwuchert. Der allmorgendliche Lärm war kaum auszuhalten. Sie bekam von ihrem Schlafzimmer aus mit, wie ihr merkwürdiges Kind die Wecker einen nach dem anderen ausmachte, bis endlich das letzte blecherne Rasseln verklungen war.
Das konnte doch nicht normal sein.
Wobei an Bean eine ganze Menge nicht normal war. Insofern wäre es ein bisschen so, als versuche sie, den Brunnen zuzudecken, nachdem das Kind hineingefallen war, wenn sie jetzt psychologische Hilfe suchte, dachte Mariana. Sie zog das Buch unter Beans Hand hervor, lächelte und legte es auf den Boden. Es war auch eines ihrer Lieblingsbücher gewesen, und sie fragte sich, welche Geschichte Bean am liebsten mochte. Odysseus? Pandora? Herakles?
Als sich Mariana vorbeugte, um Bean einen Kuss zu geben, bemerkte sie das alte Textilkabel an dem Lüster. Vor ihrem geistigen Auge sah sie einen Funken in einem leuchtenden Bogen auf das Bett fallen, das zuerst zu schwelen und dann zu brennen begann, während sie beide schliefen.
Sie trat einen Schritt zurück, schloss die Augen und richtete wieder die unsichtbare Mauer um Bean herum auf.
Jetzt konnte nichts mehr passieren.
Sie drehte das Licht aus und legte sich ins Bett, sie fühlte sich wabbelig und verschwitzt. Je näher sie ihrer Mutter kam, desto schwerer wurde sie, so als hätte ihre Mutter eine eigene Atmosphäre und Schwerkraft. Morgen würde Spot eintreffen, und es würde anfangen. Und aufhören.
Sie versuchte, eine bequeme Stellung zu finden, aber die Nacht schloss sich mit festem Griff um sie, und die Decke lag schwer wie Blei auf ihr. Sie strampelte sich frei. Aber was wirklich zwischen ihr und dem Schlaf stand, war weder die widerliche Hitze noch das schnarchende Kind oder die schwere Bettdecke.
Es war eine Banane.
Warum stichelten sie immer gegen sie? Und warum machte es ihr mit ihren siebenundvierzig Jahren immer noch so viel aus?
Sie drehte sich um, um einen kühlen Fleck unter der jetzt schon völlig verschwitzten Decke zu finden.
Banane. Und wieder hörte sie ihr Lachen. Und sah ihre Blicke.
Denk nicht dran, ermahnte sie sich. Sie schloss die Augen und versuchte, nicht an die Banane zu denken und nicht an das Ticktack der Wecker in ihrem Kopf.
Julia Martin saß an dem Toilettentisch und nahm ihre Perlenkette ab. Schlicht und elegant, ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem achtzehnten Geburtstag.
»Eine Lady gibt sich stets zurückhaltend«, hatte er gesagt. »Sie drängt sich nie in den Vordergrund. Sie nimmt anderen ihre Befangenheit. Vergiss das nicht.«
Und sie hatte es nicht vergessen. Sie hatte sofort gewusst, dass er recht hatte mit dem, was er sagte. Und plötzlich waren die Unbeholfenheit, die Ungewissheit und die Einsamkeit, die sie in ihrer Pubertät empfunden hatte, verschwunden. Vor ihr erstreckte sich ein gerader Weg. Schmal, das ja, aber gerade. Sie empfand eine grenzenlose Erleichterung. Sie hatte ein Ziel, eine Richtung. Sie wusste, wer sie war und was sie zu tun hatte. Anderen ihre Befangenheit nehmen.
Sie legte ihre Kleider ab und ging den Tag im Kopf noch einmal durch, um eine Liste der Leute aufzustellen, die sie womöglich verletzt hatte, der Leute, die sie wegen irgendetwas, das sie gesagt oder getan hatte, womöglich nicht mochten.
Und sie dachte an den netten Frankokanadier und ihr Gespräch im Garten. Er hatte sie beim Rauchen ertappt. Was musste er von ihr halten? Und dann hatte sie auch noch mit dem jungen Kellner geflirtet und einen Drink angenommen. Trinken, rauchen, flirten.
Oje, er musste sie für oberflächlich und schwach halten.
Sie gelobte für den nächsten Tag Besserung.
Sie ließ den Perlenstrang wie eine junge Schlange auf sein blaues Samtbett gleiten, dann nahm sie ihre Ohrringe ab und wünschte, dabei auch gleich ihre Ohren abnehmen zu können. Aber dafür war es sowieso zu spät.
Die Eleanor-Rose. Warum machten sie das nur? Nach all den Jahren und obwohl sie sich so bemühte, nett zu sein, warum brachten sie da diese blöde Rose wieder aufs Tapet?
Denk nicht dran, ermahnte sie sich, es ist egal. Es ist ein Witz. Mehr nicht.
Aber die Worte waren schon bis tief in ihr Inneres gedrungen und nicht mehr zu vertreiben.
Im Nachbarzimmer, dem Seezimmer, stand Sandra unter einem funkelnden Sternenhimmel auf dem Balkon und fragte sich, wie sie es zuwege bringen konnten, beim Frühstück den besten Tisch zu bekommen. Sie war es überdrüssig, immer als Letzte bedient zu werden, immer nachfragen zu müssen und selbst dann noch garantiert die kleinsten Portionen zu bekommen.
Und dieser Armand war der schlechteste Bridgespieler aller Zeiten. Warum hatte gerade sie mit ihm zusammenspielen müssen? Die Hotelangestellten scharwenzelten ständig um ihn und seine Frau herum, bestimmt, weil sie Frankokanadier waren. Eigentlich ein Skandal. Sie schliefen in dieser Besenkammer, dem billigsten Zimmer im ganzen Manoir. Wahrscheinlich ein Krämer und seine Gattin, die Putzfrau. Dass sie überhaupt im selben Hotel nächtigen mussten, war schon eine Riesenungerechtigkeit. Aber dennoch hatte sie es bislang ihnen gegenüber nicht an Höflichkeit fehlen lassen. Mehr konnte man wirklich nicht erwarten.
Sandra hatte Hunger. Und sie war wütend. Und müde. Und morgen würde Spot eintreffen und alles nur noch schlimmer machen.
Aus ihrem luxuriösen Zimmer heraus betrachtete Thomas den steifen Rücken seiner Gattin.
Er hatte eine schöne Frau geheiratet, und aus einer gewissen Distanz und von hinten war sie noch immer umwerfend.
Nur schien ihr Kopf seit Kurzem gewachsen und der Rest geschrumpft zu sein, so als hätte er nun eine Art Luftmatratze an seiner Seite, aus der die Luft entwichen war. Orangefarben und weich und schlaff und eigentlich zu nichts mehr nutze.
Während Sandra ihm den Rücken zuwandte, nahm er mit einer schnellen, geübten Handbewegung die alten Manschettenknöpfe ab, die ihm sein Vater zu seinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte.
»Die hat mir einmal mein Vater geschenkt, und jetzt ist es an der Zeit, sie an dich weiterzugeben«, hatte sein Vater gesagt. Thomas hatte die Manschettenknöpfe und den abgegriffenen Samtbeutel, der dazugehörte, genommen und sie mit einer möglichst lässigen Bewegung, mit der er seinen Vater verletzen wollte, in seine Hosentasche befördert. Und tatsächlich,