DIE VERSCHWÖRUNG DER SCHATTEN. Sören Prescher
war ich davon überzeugt, dass mir in der Stadt jemand entgegenkam, den ich erst kurz vorher obduziert hatte. Wirklich lustig waren solche Erfahrungen nicht. Aber meist genügte eine ausgiebige Dusche, um die Gedanken wegzuspülen.
Mittlerweile hatte Mister Slowhand dem guten alten Chuck Berry die Gitarre in die Hand gedrückt. Sein Lied war nicht so schnulzig und traf meinen Musikgeschmack eher. Ich schaute mich um, in der Hoffnung, dass neue Gäste in die Bar gekommen waren. Im Idealfall wäre es mein Kumpel Lennie gewesen, der mir noch einen Batzen Geld schuldete. Aber niemand Neues war erschienen und von den acht bis zehn Biertrinkern kann ich nicht mal die Hälfte.
»Nat«, rief plötzlich jemand. Ich fuhr herum. Erst eine Sekunde später dämmerte mir, dass ich eine Frauenstimme gehört hatte. Das Problem war nur, dass es hier niemand Weibliches gab. Nicht einmal ansatzweise.
»Nathaniel …«, ertönte es wieder. Dieselbe Stimme, nur etwas leiser. Und die Dame rief mich auch nicht mehr, sie hauchte meinen Namen, als wäre dies keine Bar, sondern eines der Etablissements drei Straßen weiter. Mir jagte es eine Scheißangst ein.
Neu angebrachte Lautsprecher gab es keine. Die Versteckte Kamera schloss ich ebenfalls aus. Für so einen Mist hätte sich Joe nie hergegeben. Als die Frau ein drittes Mal meinen Namen säuselte, verkrampften sich meine Muskeln. Die Stimme klang nah, als säße sie auf dem Barhocker neben mir. Für alle Fälle beugte ich mich sogar über den Tresen. Trotzdem sah ich niemanden.
»Was zum Teufel geht hier vor?« War ich wirklich dermaßen überarbeitet, dass ich Stimmen hörte, wo gar keine waren? Vielleicht wurde ich langsam schizophren. Mein Magen zog sich zusammen und ich schnappte nach Luft.
Noch etwas fiel mir auf: Die Frau rief meinen Namen bloß, wenn sie sicher sein konnte, dass Chuck Berry sie nicht übertönte. Dies brachte mich auf eine verrückte Idee: Was, wenn die Stimme aus dem Radio kam? Einerseits wäre dies eine logische Erklärung, anderseits wiederum nicht. Wenn die Frauenstimme tatsächlich von da stammte, weshalb hörte nur ich sie? Ich kannte zwar nicht alle Gäste, aber zumindest Joe hätte mich sofort darauf hingewiesen.
Nach Chuck Berry versuchte sich Neil Young an seiner Stelle. Normalerweise hätte mir dies ein breites Lächeln ins Gesicht gezaubert, aber die Stimmensache ging mir unverändert an die Nieren.
Ich atmete auf, als ich zwei Minuten lang nichts außer der Musik hörte. Zwar wusste ich noch immer nicht, was gerade vorgefallen war, aber es war beruhigend, dass es nicht wieder passierte. Ich klammerte mich an mein Bierglas und starrte vor mich hin. Was tat ich jetzt am besten? Die Sache einfach auf sich beruhen lassen?
Einen Moment später rief mich die Frauenstimme erneut und machte jegliche Freude zunichte.
»Joe, hast du das eben gehört?«
Mein alter Kumpel schaute mich irritiert an. »Was soll ich gehört haben?«
»Na, das Radio!«
»Ja, ich weiß. Is' Neil Young, der alte Haudegen. In den Achtzigern ist er mehrfach hier aufgetreten und wir haben nach den Auftritten das eine oder andere Bier gezischt. Aber das war vor seinem Swing-Album und allem, was danach kam.«
»Nein, das meine ich nicht.«
»Was dann?«
In dem Moment wusste ich definitiv, dass Joe nichts gehört hatte. Ebenso die anderen Gäste.
»Ach, nichts«, wehrte ich ab und nahm einen großen Schluck aus meinem Glas. Als die Frau ein fünftes Mal nach mir rief, wollte ich sie bloß noch ignorieren. Trotzdem entging mir ihr gequälter Tonfall nicht. Vielleicht brauchte sie Hilfe.
Was nun?
Wenn ich ihr antwortete, würden mich alle anderen in der Bar zweifelnd ansehen und Joe würde seinen Standardspruch vom Stapel lassen: »Ich glaube, du hattest genug Bier für heute.« Aber verdammt, ich war nicht betrunken. Nicht nach anderthalb Bier! Vielleicht tat mir ja etwas Luftveränderung gut.
Durch die Toilettentür hindurch war die Musik nicht mehr als ein leises Hintergrunddudeln. Ich hoffte, dass auf die Frauenstimme dasselbe zutraf. War sie tatsächlich bloß Einbildung? Oder doch ein erstes Anzeichen von Schizophrenie? Von meiner Arbeit her wusste ich, dass weitere Krankheitssymptome unter anderem soziale Isolation, Beeinträchtigung der persönlichen Hygiene und Depressionen waren. Zwar war ich nicht unbedingt als Spaßkanone bekannt, als isoliert oder depressiv bezeichnete ich mich dennoch nicht. Zudem waren nicht vorhandene Hygiene und Gerichtsmedizin zwei Dinge, die sich gegenseitig ausschlossen.
Während ich mein Geschäft verrichtete, machte ich mir einen Spaß daraus, die an die Wände gekritzelten Toilettenweisheiten zu überfliegen. Die Frau regiert die Fotze und du bist bloß ihr Untertan und A blowjob is better than no job waren noch die harmlosesten Sprüche. Dann fiel mein Blick auf eine Zeile, die sich so grundlegend von allen anderen Weisheiten unterschied: Der König ist tot.
Die Nachricht enthielt keine sexuelle Anspielung und passte überhaupt nicht an diese Wand. Gestern Abend war sie noch nicht hier gewesen. Da war ich sicher. Kopfschüttelnd betätigte ich die Spülung.
Beim Händewaschen betrachtete ich die bedauernswerte Gestalt im Spiegel. Die dunklen Augenringe und das blasse, eingefallene Gesicht des verwitweten Mittvierzigers waren mir zwar vertraut, dennoch deprimierte sie mich jedes Mal.
Auf halbem Wege zum Barhocker merkte ich, dass ich keine Lust auf ein weiteres Bier verspürte. Es war bereits nach halb zehn und wenn Lennie nicht zu mir kam, konnte ich genauso gut zu ihm fahren. Ich bezahlte und verließ die Kneipe.
Es war Mitte November und das Wetter bestand aus eisigem Wind und feinem Nieselregen. Also ideale Voraussetzungen für einen Spaziergang. Zum Glück hatte es aufgehört, in Sturzbächen zu regnen. Vor nicht mal zwei Stunden hatte ich mich davor noch in Joes Bar gerettet.
Ich machte mich auf dem Weg zu meinem Auto. Einem in die Jahre gekommenen Buick mit Dreigangautomatik, der abgesehen vom CD-Radio keinen einzigen Komfort aufwies. Auf einmal beschlich mich das Gefühl, beobachtet zu werden. War es vielleicht die ominöse Frau, die in der Bar zu mir gesprochen hatte? Dann könnte sie mir bei der Gelegenheit verraten, was für einen Trick sie vorhin angewendet hatte.
Doch so gründlich ich mich auch umschaute, außer Finsternis und dem bläulichen Schimmern von Joes Reklametafel sah ich nicht viel. Der Großteil der heruntergekommenen Bauten und der graffitibeschmierten Wände lag im Dunkeln. Eine Pfütze schimmerte im trüben Reklameblau.
Normalerweise brannten hier Straßenlaternen, doch entweder streikten die Stadtwerke oder ein paar Halbstarke hatten sie für Zielübungen verwendet. Wahrscheinlicher für diese Gegend war Letzteres. Entsprechend vorsichtig lief ich die Straße entlang. Auf keinen Fall wollte ich pickligen Schmalspurgangstern mit entsicherten Knarren und nervösen Zeigefingern in die Arme laufen. In diesem Teil der Stadt war alles möglich.
Links und rechts parkten Autos, die ein ideales Versteck boten. Nicht weit von hier befand sich zudem die Howard Street, in der vor einiger Zeit ein tollwütiger Hund sein Unwesen getrieben hatte. Mehr als ein halbes Dutzend Menschen hatte das Mistvieh angefallen, bevor es auf Nimmerwiedersehen verschwunden war.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, verstärkte sich. Mein Magen zog sich unangenehm zusammen und ich riskierte abermals einen Schulterblick. Noch immer war niemand zu sehen und vielleicht war auch dieser Vorfall meinen überreizten Nerven zuzuschreiben. Heute war einfach nicht mein Tag.
Zehn Meter weiter vernahm ich ein Tapsen hinter mir. Ich fuhr herum und sah eine Gestalt mit Skimütze. Sie war einen halben Kopf kleiner als ich und komplett in schwarz gekleidet. Fast im selben Moment schnellte eine Faust nach vorn. Instinktiv riss ich den Kopf zur Seite. Der Angreifer verfehlte mich.
»Scheiße«, fluchte ich. In der rechten Hand hielt der Mistkerl ein Butterflymesser. Die Haare auf meinen Unterarmen stellten sich auf. Panik schnellte hoch. Keuchend wich ich weiter zurück. Die nächste Attacke folgte. Ich spürte, wie die Klinge wenige Zentimeter vor mir die Luft zerschnitt.
»Gib mir deine Kohle und du siehst mich nie wieder«, schlug er vor und winkte mit dem Messer in meine Richtung.