DIE VERSCHWÖRUNG DER SCHATTEN. Sören Prescher
zu. Der Bremsweg war viel zu kurz, um den Wagen rechtzeitig zum Stehen zu kriegen. Also riss ich das Lenkrad herum und hätte um ein Haar einen entgegenkommenden Nissan gerammt. In letzter Sekunde lenkte ich gegen und brachte den Buick damit vollends ins Trudeln.
Der Nissanfahrer bedankte sich mit lautstarkem Hupen, aber das bekümmerte mich nicht. Eine Sekunde lang befürchtete ich, die Kontrolle über den Wagen verloren zu haben. Ich schwitzte Lava, verkrampfte mich, rechnete damit, gleich irgendwo dagegen zu knallen. Dann verringerte sich die Geschwindigkeit. Der Buick kam mit quietschenden Reifen zum Stehen.
Mein Herz hämmerte im Maschinengewehrsalventakt, meine Knie zitterten. Doch da war noch etwas Anderes: Eine gewaltige Wut auf den Wahnsinnigen, der völlig ohne Sinn und Verstand auf die Fahrbahn gelaufen war. Also sprang ich aus dem Wagen und freute mich darauf, den Wahnsinnigen zur Schnecke machen. Hatte er keine Augen im Kopf? Selbst ein Blinder hätte die herannahenden Wagen bemerkt. Nach einem langen und harten Arbeitstag war das genau das Richtige, um angestaute Aggressionen loszuwerden.
Beim Näherkommen sah ich allerdings, dass mit dem Fremden etwas nicht stimmte. Sein Gesicht war bleich und seine Arme hingen hinab. Den Oberkörper hielt er merkwürdig nach vorn gebeugt und er schleppte sich mehr, als dass er lief. Dieser Mann war nicht achtlos auf die Straße gelaufen. Er war völlig desorientiert, was entweder auf Trunkenheit oder Drogenkonsum zurückzuführen war. Augenblicklich hatte ich die Bilder von den Drogenleichen im Kopf, wie sie manchmal auf meinem Obduktionstisch landeten.
Wahrscheinlich hatte er nicht mal bemerkt, dass er sein und das Leben vieler anderer aufs Spiel gesetzt hatte. Zuerst wollte ich ihn als verdammten Cracksüchtigen abstempeln, wie sie es hier in rauen Mengen gab, doch etwas widersprach dieser Theorie aufs Heftigste: Der Mann schien mit den Kräften vollkommen am Ende zu sein. Außerdem lag etwas Gehetztes und Verzweifeltes in seinem Gesicht. Meine Wut verpuffte und wurde durch Mitleid ersetzt.
Ich drehte ihn vorsichtig an der Schulter herum. Er war Anfang dreißig, hatte schwarzes Lockenhaar und ein ausgemergeltes Gesicht. Dunkle Augenringe, einen matten Ausdruck in den Pupillen und ein mit Schmutz und Abschürfungen übersätes Kinn. Passend dazu waren seine Lippen rissig und bluteten. Vielleicht hatte er sich mit einer Krankheit infiziert.
»Bitte hilf mir«, stammelt der Fremde und stützte sich auf mich. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn aufzufangen und ihn trotz meiner schmerzenden Schulter nicht fallen zu lassen. In dem Moment kam ich mir ebenfalls hilflos vor. Warum ich, fragte ich mich und bereute es, heute nicht eine andere Strecke gefahren zu sein.
Eine Handvoll Schaulustiger sammelte sich an, doch nicht einer kam auf die Idee, mir zur Hand zu gehen. Verdenken konnte ich es ihnen nicht, vermutlich hätte ich an ihrer Stelle nicht einmal angehalten. Vorsichtig drückte ich den Fremden von mir weg, um ihn etwas zu fragen. Als sein Kopf zur Seite sackte, wusste ich, dass auch das zwecklos war. Der Mann war ohnmächtig, vielleicht Schlimmeres. Blutflecken auf seinem ehemals hellgrauen Pullover nährten meine Befürchtungen. Ich suchte nach einem Puls und atmete erleichtert auf. Wenigstens den gab es noch.
Abermals warf ich den Schaulustigen einen hilfesuchenden Blick zu, doch es schien noch immer besser zu sein, das Ganze aus sicherer Entfernung zu beobachten. Wahrscheinlich dachten sie ebenfalls, dass es sich um einen Haschbruder handelte, der einfach zusammengeklappt war.
Was nun? Ihn an den Straßenrand legen und zusehen, dass ich verschwand? Im Grunde genommen ging mich der Typ nichts an. Dennoch brachte ich es nicht übers Herz. Irgendwer musste ihm helfen und so, wie es schien, kam ich als Einziger dafür infrage.
Großartig. Einfach nur großartig.
Ihn zum Wagen zu schleppen, war anfangs nicht problematisch, doch nach der Hälfte der Strecke verdoppelte Locken-Johnny plötzlich sein Gewicht. Ich keuchte vor Anstrengung und war heilfroh, als ich das Auto erreichte. Blieb die Frage, wie ich ihn gleichzeitig festhalten und die Beifahrertür öffnen sollte.
Ich lehnte den Bewusstlosen an den Buick und presste ihn mit meinem Körper dagegen. Auf diese Weise verhinderte ich, dass er fallen konnte, und hatte die Hände frei, um die Tür zu öffnen. Als ich den Fremden auf den Beifahrersitz verfrachtete, bedankte sich mein Rücken stichhaltig dafür.
Schweißnass lief ich zur Fahrerseite und verfluchte meine Hilfsbereitschaft.
Auf dem Fahrersitz überprüfte ich nochmals seinen Puls. Er schlug regelmäßig. Die Atmung schien ebenfalls in Ordnung zu sein. Dennoch war er nach wie vor ohne Bewusstsein. Außerdem stank er, als hätte er tagelang keine Dusche gesehen.
Während ich den Motor anließ, warf ich einen grimmigen Blick hinaus. Die Schaulustigen gafften, als wäre ich eine barbusige Blondine in einer Peepshow. Am liebsten hätte ich das Lenkrad herumgerissen und einige von ihnen aufs Korn genommen. Es blieb beim Wunschdenken und ich war froh, als ich an der nächsten Kreuzung abbiegen konnte.
Ich war nicht mal besonders schnell unterwegs, aber ein Bewusstloser konnte sich trotzdem nicht festhalten. Sein Kopf knallte gegen meine Seite und verharrte dort regungslos. Verdammt, warum hatte ich daran nicht früher gedacht? Ich hielt an, schob ihn auf den Beifahrersitz zurück und legte ihm einen Gurt an. Worauf hatte ich mich da nur eingelassen?
Über die geistige und körperliche Verfassung meines Beifahrers wusste ich genauso wenig wie darüber, warum er so übel zugerichtet war. Möglicherweise saß neben mir ein Serienmörder. Genauso gut konnte er, so wie ich gestern Abend, nur knapp einem Überfall entkommen sein. Eigentlich stand es mir gar nicht zu, Mutmaßungen über ihn oder seinen Gesundheitszustand anzustellen. Dafür gab es Fachleute im Krankenhaus.
Zum Glück lag die nächste Notfallambulanz nicht weit entfernt. Sobald ich den Verletzten abgeliefert hatte, würde ich zu Joe fahren und mir mein verdientes Bier gönnen. Ich konnte es kaum erwarten.
Ohne es zunächst zu bemerken, summte ich leise vor mich hin. Vermutlich, um meine Nervosität zu überspielen. Normalerweise kam es in meinem langweiligen Leben nicht vor, dass ich um ein Haar einen Fußgänger unter die Räder bekam und mich gleich darauf als guter Samariter entpuppte. Üblicherweise war ich bloß ein unscheinbares Gesicht in der Menge, das nicht auffallen wollte und dennoch nach Existenzberechtigung suchte.
Durch mein Summen wurde mir bewusst, dass nach wie vor das Autoradio dudelte. Vor lauter Aufregung war dies völlig untergegangen. Lou Reeds Ablösung bestand aus CCRs Bad Moon Rising, einer flotten Rocknummer, die ich immer gern hörte. Heute allerdings nicht. Es traf mich wie ein Kanonenschlag. Da war wieder eine Stimme, die meinen Namen rief!
»Nathaniel«, flüsterte sie unglaublich leise, doch ich verstand sie trotzdem. Genau wie gestern schien sie aus den Lautsprecherboxen heraus mit mir zu kommunizieren. Aber es war kein Dèjá-vu und auch keine Wiederholung. Gestern in Joes Bar war es eine Frauenstimme gewesen, nun hörte ich einen Mann. An der schaurigen Situation änderte es allerdings nichts.
Von meinem bewusstlosen Beifahrer konnten die Laute nicht stammen. Außerdem kannte er meinen Namen nicht. Wer war es dann? Woher kannte die Stimme mich? Was wollte sie von mir? Wieder hatte ich das Gefühl, dass der Wahnsinn seine langen Finger nach mir ausstreckte.
»Nat …«
Mein Herz setzte vor Schreck einen Schlag aus. Abgesehen von einem kleinen Straßenschwenker blieb jegliche Folgereaktion aus.
»Tu es nicht.«
Was sollte ich nicht tun? Ich kam mir vor wie ein Esel bei der Bergpredigt. Noch etwas fiel mir auf: Auch die männliche Stimme passte sich der Musik und dem Gesang an. Sie erklang nur, wenn sie sicher sein konnte, dass sie nicht von anderen Lauten übertönt wurde.
»Nathaniel … tu es nicht«, flüsterte der Radiomann wieder.
War es wirklich bloß ein Stressprodukt, das sich mein Geist einbildete, um den Arbeitsstress zu kompensieren? Die Stimme kannte nicht nur meinen Namen, sondern übermittelte mir Botschaften. Was außer einer beginnenden Schizophrenie sollte es sonst sein? Das machte mir mehr Angst als alles andere.
Ich war so frustriert, dass ich das Radio abstellen wollte. Die Hand hatte ich bereits ausgesteckt, als ein leises Stöhnen ertönte. Es dauerte einen Moment, bis