DIE VERSCHWÖRUNG DER SCHATTEN. Sören Prescher
Ich nutzte den Augenblick, um meinen Arbeitskollegen telefonisch mitzuteilen, dass ich mir über Nacht eine der derzeit grassierenden Grippeviren eingefangen hatte. Da ich gestern bereits ziemlich fertig ausgesehen hatte, glaubten sie mir jedes Wort und wünschten gute Besserung. Nebenbei blätterte ich in der Tageszeitung. Abgesehen von der Meldung, dass vom flüchtigen Marty Beckett auf Philadelphia noch immer jede Spur fehlte, gab es nichts von Belang.
So wie ich das schnurlose Telefon auf der Küchenarbeitsplatte ablegte, kam Norman zurück. Neben einer dunklen Jeans trug er einen blauen Pullover mit dünnen schwarzen Streifen.
»Gut siehst du aus«, sagte ich und übersah bewusst, dass er sich ausgerechnet für mein Lieblingsshirt entschieden hatte.
Während wir frühstückten, beehrte uns Sir Joseph wieder mit seiner Anwesenheit und schlich so lange um meine Beine herum, bis ich ihm unter dem Tisch das Fell kraulte. Zufrieden maunzte er und genoss seine Dosis Streicheleinheiten. Norman hingegen sah noch immer aus wie ein geprügelter Hund.
»Alles klar bei dir?«, fragte ich deshalb. Der Anfang war plump, aber mir fiel kein anderer Gesprächsbeginn ein.
»Na ja, wie man's nimmt. So gut wie letzte Nacht habe ich lange nicht mehr geschlafen. Trotzdem war es kein ruhiger Schlaf. Ich konnte den gestrigen Abend nicht vergessen. Es ist wieder mal verdammt knapp gewesen.«
»Das brauchst du mir nicht zu sagen. Ich haben zwar keine Ahnung, was uns verfolgt hat, aber diejenigen waren definitiv nicht zum Scherzen aufgelegt.«
»Die dunklen Männer sind unberechenbar. Bei denen darfst du dir nie sicher sein.«
Kurz dachte ich daran, wie sie direkt im Scheinwerferlicht standen und trotzdem nicht angestrahlt wurden. Wäre es das nur allein gewesen, hätte ich es vermutlich als Sinnestäuschung abgetan. Aber zusammen mit all den anderen unerklärlichen Dingen schied diese Erklärung aus. Etliche Fragen gingen mir durch den Kopf, aber sie waren nur Tropfen auf den heißen Stein.
Wichtiger war mir, wieso die Schattenwesen – denn Menschen konnten dies beim besten Willen keine sein – Norman überhaupt verfolgten. Vielleicht hatte mein neuer Freund etwas Unrechtes getan und befand sich deswegen auf der Flucht. Doch je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Fragen warf das Thema auf. »Lass uns doch am besten noch mal auf gestern Abend zurückkommen«, schlug ich vor. »Wenn ich mich recht entsinne, waren wir bei diesem ominösen König und seiner Rolle in dem Spiel stehengeblieben.«
Er nickte zögerlich, hörte jedoch nicht auf, weiter sein Salamisandwich zu belegen. Selbst nach dem ersten Bissen fügte er noch etwas Belag hinzu. »Bist du dir sicher, dass du das wirklich wissen willst? Überleg dir die Antwort gut, damit du es später nicht bereust. Glaub mir, das ist nicht bloß so ein Spruch, das meine ich ernst.«
»Ich meine es ebenfalls ernst. In den vergangenen zwei Tagen habe ich so viele seltsame Dinge erlebt. Die Frage, ob ich das alles wollte oder will, stellt sich also gar nicht mehr. Ich stecke längst mittendrin.«
Norman lehnte sich im Stuhl zurück und setzte eine sorgenvolle Miene auf. Das Sandwich wurde nun doch zur Nebensache.
»Warum zögerst du?«, fragte ich, als mir die Wartezeit zu lang wurde.
»Weil ich nicht sicher bin, ob ich dir trauen kann.«
»Das ist ja wohl ein schlechter Scherz! Immerhin habe ich dir gestern das Leben gerettet! Und das nicht nur einmal. Wenn ich dadurch mein Vertrauen nicht bewiesen habe, weiß ich auch nicht. Ich finde, ich habe mir das Recht, mehr zu erfahren, redlich verdient.«
»Glaub mir, diesen Spruch höre ich nicht zum ersten Mal. Es gab schon vor dir Leute, die ich einweihen wollte. Am Anfang reagieren alle wie du, doch wenn ich ins Detail gehe, ändern sie ihre Meinung und halten mich für total übergeschnappt. Aus dem Grund habe ich dich auch gefragt, ob du dir sicher bist, dass du es wirklich hören möchtest.
Die Geschichte ist nicht schön und ein Happy End gibt es ebenfalls nicht. Aber es ist hundertprozentig die Wahrheit. Wenn du mir glaubst, gibt es allerdings kein Zurück mehr. Dieses Wissen bleibt.«
Wenn er dachte, mich mit dieser Ansprache abzuschrecken, hatte er seine Sache nicht besonders gut gemacht. Ich war gespannter denn je. »Schieß endlich los!«
»Also gut. Du hast es so gewollt«, sagte er und biss noch einmal von seinem Sandwich ab. »Soweit ich weiß, war der König rein körperlich gesehen ein Mensch wie du und ich. Fleisch, Blut, Knochen. Das übliche Programm. Aber seine Funktion unterschied sich sehr von der restlichen Menschheit. Er war wie eine mächtige Waage, die für das Gleichgewicht sorgte. Er kontrollierte die dunkle und die helle Machtseite und hielt die Balance. Er war schwarz und weiß zugleich.
Doch nun ist er tot und das Böse wird die Kontrolle übernehmen. Der Graffitispruch, den du an den Häuserwänden gelesen hast, dient als Botschaft an alle Auserwählten, sich bereit zu machen. Das bedeutet, die Veränderungen stehen kurz bevor. Kämpfe werden ausgefochten und ich befürchte, das unschöne Ende steht bereits fest.
Ich bin nicht sicher, ob der König etwas von dem ahnte, was hinter seinem Rücken geschah. Falls ja, hatte er es möglicherweise geduldet. Als mir jedenfalls klar wurde, was für Ziele manche Schichten des Königreichs wirklich verfolgten, bin ich geflüchtet, um Hilfe zu holen.
Schon da gab es Gerüchte, dem König ginge es schlechter. Deshalb habe ich mich umso mehr beeilt, habe kaum geschlafen und mir selbst Pausen nur gestattet, wenn sie unbedingt notwendig waren. Aber jetzt ist er tot und wahrscheinlich war meine ganze Flucht umsonst. Mein Leben ist verwirkt. So oder so …«
Auf einmal schepperte es im Hinterhof, wie als wenn jemand gegen die Mülltonnen getreten hatte. Norman zuckte zusammen. »Was war das?«
Ich hörte auf, Josephs Fell zu streicheln. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich nur …«
»Ich glaube, sie sind hier.« Er sprang abrupt auf. »Sie haben uns gefunden.«
»Unmöglich. Du hast doch gesagt, dass sie dich in Gebäuden nicht aufspüren können.«
»Da habe ich mich wohl geirrt.«
Ich stand ebenfalls auf und wäre um ein Haar über die Fellkugel zwischen meinen Beinen gestolpert. Joseph sprang mit empörtem Aufschrei zur Seite.
»Wir müssen weg! Schnell!«, rief Norman und eilte zur Tür. Unterwegs fiel ihm ein, dass er barfuß nicht weit käme, und machte eine Kehrtwendung zum Schuhregal. Irritiert schaute ich hinterher und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Ich war es leid, ständig überstürzt aufzubrechen. Ich sehnte mich nach meinem alten Leben zurück, wo ich allerhöchstens in Eile war, wenn ich morgens verschlafen hatte. Widerwillig folgte ich ihm aus der Wohnung.
Das Treppenhaus war leer, was allerdings nicht bedeutete, dass wir tatsächlich in Sicherheit waren. Am Hauseingang schaute ich mich aufmerksam um, bemerkte jedoch nichts und niemanden, der sich hinter den geparkten Autos oder im Schatten der Mietshäuser versteckte. Fußgänger waren derzeit keine unterwegs.
War möglicherweise doch alles bloß ein falscher Alarm gewesen sein? Trotzdem folgte ich Norman die Straße zum Buick hinauf. »Wo sind denn nun deine dunklen Männer?«
»Keine Ahnung.« Er machte einen langen Hals. Eingestehen, dass er sich geirrt hatte, schien ihm nicht in den Sinn zu kommen. Seufzend stieg ich ins Auto. Er folgte mir Sekunden später und überprüfte vom Beifahrersitz aus sämtliche Spiegel. Doch da war nichts, worüber wir uns Sorgen machen mussten.
Ich startete den Wagen und umrundete das Gebäude, damit ihr einen Blick auf den Hinterhof werfen konnten. Auch hier gab es keine Spur von unseren Feinden. Nicht mal besonders finster war es. Stattdessen sahen wir einen alten Zausel in zerrissener Kleidung, der die Mülltonnen nach Essen durchwühlte.
»Nur ein Obdachloser.«
»Nur ein Obdachloser«, wiederholte Norman und sank in den Sitz. »Dann hatten wir Glück.«
Als Glück wollte ich es nicht bezeichnen, aber ich schluckte die bissige Bemerkung ungesagt herunter. Einen Moment lang spielte ich