DIE VERSCHWÖRUNG DER SCHATTEN. Sören Prescher
Möglicherweise nicht.
»Hast du das gesehen?«, fragte Norman leise. »Wir fahren besser.«
Ich spürte ein unangenehmes Kribbeln. Zuerst nur in den Fingern, wenig später ebenso im Bauch. In der Innenstadt gab es so viele beleuchtete Plätze. Wenn das, was Norman sagte, stimmte, war die Dunkelheit im Augenblick sein beziehungsweise unser größter Feind. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wieso hatte Norman dann nichts gesagt, als wir zum Stadtrand fuhren? Hatte er tatsächlich geglaubt, dass wir im Auto sicher wären?
Ich sehnte mich nach Licht, selbst eine dünne Taschenlampe wäre mir recht gewesen … Taschenlampe? Licht? Augenblick! Wieso zum Teufel war ich nicht früher darauf gekommen? Jeder verdammte Idiot hätte zuallererst an die Autoscheinwerfer gedacht. Sofort behob ich meinen Fehler, wünschte mir aber noch im selben Atemzug, es nicht getan zu haben.
Da draußen befand sich tatsächlich etwas. Es bewegte sich auch nicht bloß von einer Seite her, sondern schien aus allem Richtungen gleichzeitig zu kommen. Manchmal wirkte es wie Nebelschwaden, mal wie verschiedene Personen. Nichts, was sich tatsächlich erkennen oder zuordnen ließ. Dennoch genügte es, mich noch mehr einzuschüchtern. Mein Mund wurde staubtrocken und mein Puls raste.
Ich wollte das alles nicht und hätte in diesem Moment lieber bei Joes eine Saalrunde geschmissen, als hier zusammen mit Norman in der Finsternis zu hocken. Sämtliches Blut war aus meinen Händen gewichen.
Plötzlich wurde das Bild klarer. Abseits der grellen Scheinwerfer stand sie: Undefinierbare Gestalten, alle in Finsternis gehüllt, so als wären sie ein Teil davon. Mal sah ich die Andeutung eines bleichen Kinns oder einer Stirn, jedoch nie das komplette Gesicht.
Ein wenig erinnerten sie mich an die Nazgûl, die Ringgeister aus Tolkiens Der Herr der Ringe. Keine besonders angenehmen Zeitgenossen, wenn ich mich recht an die Verfilmung erinnerte.
Es wurde noch schlimmer: Die Lehren von Optik und Licht schienen nicht mehr zu stimmen. Mein an Naturgesetze glaubendes Gehirn weigerte sich, die Tatsachen zu akzeptieren, die mein Auge aufnahm. Die Gesichtslosen standen nur wenige Meter vor dem Auto. Und dennoch erfassten die Scheinwerfer sie nicht. Das Licht schien regelrecht von ihnen verschluckt zu werden. Dahinter herrschte dieselbe Dunkelheit, die wir auch links und rechts vom Auto sahen.
»Das ist unmöglich«, war das Einzige, was ich herausbrachte.
»Wirf den Motor an!«, rief Norman. Er klang kilometerweit entfernt. »Schnell! Sie haben uns gefunden.«
Erst, als er an mir rüttelte, erwachte ich aus der Starre. Zitternd drehte ich den Zündschlüssel um. Das Motortuckern klang noch nie so willkommen. Ich trat das Gaspedal durch und versuchte parallel dazu noch immer, die Wesen in der Finsternis auszumachen. Zwei von ihnen standen regungslos vor den Buickscheinwerfern. Doch wo war der Rest?
Etwas klatschte gegen die Beifahrertür. Erschrocken fuhr ich herum. Eine blassweiße Hand klebte am Fensterglas. Einen Augenblick lang glaubte ich, Teile einer kantigen Nase, und eines spitzen Kinns in der Finsternis auszumachen. Es war kein Knochenschädel aber wie menschliche Haut sah es auch nicht aus. Das bildest du dir nur ein, schrie eine Stimme in meinem Kopf.
Ich gab weiter Gas und der Wagen schoss über den Parkplatz. Es kümmerte mich nicht, ob sich eines der Wesen direkt vor dem Kühlergrill aufhielt. Im Moment zählte nur unser Überleben und wie wir diesen Ort möglichst unversehrt verlassen konnten. Auch von links stürmten die Wesen auf uns zu. Ich versuchte, das Gaspedal weiter durchzudrücken. Es ging nicht, denn es klebte längst am Bodenblech.
»Schneller«, schrie Norman. »Du musst schneller fahren.«
»Ich tu, was ich kann. Mehr geht es nicht.«
»Du musst! Ansonsten sind wir verloren.«
Die Gestalt auf der rechten Wagenseite versuchte, die Hand durch den Fensterschlitz zu schieben. Es waren übermäßig lange Finger mit spitzen braunen Nägeln. Norman bemerkte es und kurbelte, was das Zeug hielt. Ein zorniges Fauchen ertönte und die Kreatur riss die Hand in die Finsternis zurück. Mein Herz pochte schneller, als ein Düsenjet fliegen konnte. Am liebsten hätte ich vor Panik geschrien. Stattdessen versuchte ich gewagte Schlenker, um den Widersacher endlich abzuschütteln.
Direkt vor mir erschien die Parkplatzausfahrt. Ich jagte darauf zu. Ein kurzer Blick zur Beifahrerseite. Unser ungebetener Passagier hatte sich von der Wagentür verabschiedet. War vielleicht einer aufs Wagendach geklettert? Gewiss hätten wir das mitbekommen.
Dann lag die Straße vor uns. Die Reifen quietschten, als wir darauf einbogen. Es klang wie Musik in meinen Ohren. Schweißnass preschte ich den grellen Großstadtlichtern entgegen. Von Finsternis hatte ich die Nase gestrichen voll.
Immer wieder schüttelte ich den Kopf, weil ich einfach nicht begreifen konnte, was gerade geschehen war. Noch gestern Morgen hatte ich ein langweiliges, aber in geordneten Bahnen verlaufendes Leben geführt. Inzwischen hörte ich Stimmen aus dem Radio und Norman war mir vor den Wagen gelaufen.
Alles hatte sich verändert.
Lag es an mir oder an der Welt selbst? Ich wusste es nicht. Auf einmal war ich mir bei fast gar nichts mehr hundertprozentig sicher. Das Schlimmste war, dass es kein Zurück mehr gab. So gern ich auch alles ausgeblendet und ignoriert hätte, es war unmöglich.
Während wir durch die Innenstadt fuhren, gestand mir Norman, dass er nicht wusste, wohin er gehen sollte. Da wir nach den zurückliegenden Ereignissen beide erschöpft waren, bot ich ihm an, bei mir zu übernachten. Es war verrückt, aber das traf auf alles zu, was ich in den vergangenen Stunden erlebt hatte.
Selbstverständlich protestierte Norman anfangs, doch letztendlich wusste er meinen Argumenten nichts entgegenzusetzen. Am triftigsten waren wohl die Punkte, dass er laut eigener Aussage in Gebäuden nicht aufzuspüren war und in meiner Wohnung eine äußerst bequeme Couch stand.
Eigentlich hatte ich vor, mir daheim bei einer guten Flasche Bier erzählen zu lassen, was genau es mit dem ominösen König auf sich hatte. Weitere Infos über die dunklen Männer wären ebenfalls nicht schlecht. Doch als wir die Wohnung betraten, hatte Norman nur noch zwei Fragen. Die erste stellte er mir noch auf der Türschwelle, nämlich ob ich verheiratet war. Meine knappe Antwort darauf lautete »Nein, nicht mehr« und er gab sich damit zufrieden. Als Zweites fragte er, ob man die Couch ausklappen konnte. Nachdem das erklärt war, vergingen keine fünf Minuten, bis er tief und fest schlief.
Ich fütterte noch meinen anderen Mitbewohner – einen für sein Gewicht viel zu klein geratenen Kater namens Joseph – und wollte mich ebenfalls hinlegen. Als ich an Normans Couch vorbeiging, vernahm ich ein leises Murmeln und beugte mich zu ihm hinab. Zwar verschluckte er die meisten Laute beim Aussprechen, dennoch waren Sätze wie: »Der König ist tot«, oder: »Was tun wir jetzt nur?«, deutlich zu verstehen. Ich runzelte die Stirn und verzog mich ins Bett. Es dauerte lang, bis ich endlich einnickte. Auch dann gelang es mir nur im Schein der Nachttischlampe.
4 – Der König ist tot
Als ich am Morgen erwachte, fühlte ich mich, als hätte ich die Nacht auf einem ratternden Wäschetrockner verbracht. Selbst das Augenöffnen wurde zur Tortur. War ich die vergangenen Stunden eventuell schlafgewandelt? Es wäre auf jeden Fall eine gute Erklärung, weshalb ich mich so fertig fühlte.
Mein neuer Freund hingegen flog geradezu durch die Küche. Beim Näherkommen roch ich den Minzegeruch meines Duschgels. Im Bad war er also auch schon gewesen.
Mein Blick fiel auf den Tisch rechts neben der kleinen Küchenzeile. Ich sah Toastbrot, Schinkenspeck, Käse und ein Marmeladenglas, von dem ich nicht einmal mehr gewusst hatte, dass es noch im Kühlschrank gestanden hatte. Auf dem Küchenstuhl links außen hatte es sich Joseph bequem gemacht und beobachtete Norman mit neugierigen Augen. Erst als ihm das Tellerklappern zu laut wurde, verdrückte er sich.
Obwohl Norman nach dem Duschen im perfekten Glanz erstrahlte, besaß seine Kleidung noch immer den Charme einer überquellenden Mülltonne. Ich