DIE VERSCHWÖRUNG DER SCHATTEN. Sören Prescher
seiner Ohnmacht erwacht. Langsam richtete er sich auf und verzog schmerzvoll sein Gesicht.
»Alles okay?«, fragte ich und wusste auch ohne seine Antwort, dass es nicht so war. Der Mann sah aus, als wäre er frontal vom Güterzug gerammt geworden.
»Wohin fährst du mich?«
»Ins Krankenhaus. Keine Sorge, wir sind gleich …«
Weiter kam ich nicht, denn Locken-Johnny versuchte, meinen Arm zu sich zu ziehen. Dumm nur, dass ich mit der rechten Hand das Lenkrad festhielt und der Buick dadurch einen gefährlichen Schlenker machte. Die Reifen quietschten. Ein weiteres Mal befürchtete ich, die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Der entgegenkommende Autofahrer hupte wütend. Die Scheinwerfer von der Gegenfahrbahn steuerten direkt auf uns zu. Im Geiste hörte ich es bereits knallen. Im letzten Moment zog der andere Fahrer seinen Wagen zur Seite. Ich keuchte vor Erleichterung.
Inzwischen hatte die Leuchte auf dem Nebensitz seinen Fehler eingesehen und meinen Arm losgelassen. Mein Fuß blieb auf der Bremse und ich versuchte, den Wagen unter Kontrolle zu bekommen. Die Reifen quietschten noch einige Male, ansonsten sah es gut aus.
»Kein Krankenhaus. Ich bin okay.«
»Ja, und der Papst raucht Crack. Das glaubst du doch allein nicht.«
»Kein Krankenhaus«, wiederholte er und setzte sich richtig auf. Sein Blick war ebenso grimmig wie entschlossen. Keinen Zweifel, er meinte es tatsächlich ernst. »Lass mich einfach an der nächsten Ecke raus. Mir geht's gut. Nur ein leichter Schwächeanfall.«
Seine Worte klangen ehrlich, widersprachen aber vollends dem, was ich auf dem Sitz neben mir erblickte. Ich brauchte keine Medizinkenntnisse, um zu sehen, dass der Bursche völlig am Ende war. Rein äußerlich wies er keine schwerwiegenden Verletzungen auf, lediglich ein paar Kratzer, die von allein heilen würden. Doch wer außer ihm wusste, was für Wunden er unter der Kleidung verbarg?
»Glaub mir, es ist alles in Ordnung.«
Ich war noch immer nicht überzeugt, aber wenn es wirklich sein Wunsch war, würde ich ihn am Straßenrand aussteigen lassen. Er hatte gewiss seine Gründe, in keine Notaufnahme gehen zu wollen. Mit einer fehlenden Krankenversicherung hatte es vermutlich nichts zu tun. Aber ich war klug genug, nicht nachzuhaken. Das Bier in Joes Bar rückte näher. Das war alles, was mich interessierte.
Am Straßenrand parkte eine Stoßstange an der nächsten, doch fünfzig Meter vor uns mündete eine Gasse in unsere Straße. Ich brachte den Buick davor zum Stehen.
»Danke fürs Mitnehmen«, sagte der Fremde. »Ich hoffe, ich habe dir nicht allzu große Umstände gemacht.«
»Nicht im Geringsten. Ich les gern Leute auf, die mir vor den Kühler springen.«
»Entschuldige nochmals. Ich war irgendwie nicht ganz bei der Sache.«
»So kann man das auch ausdrücken.«
Beim Aussteigen lächelte er dünn. So wie die Beifahrertür ins Schloss fiel, folgte ihm mein Blick in die Seitengasse. Dank der städtischen Sparmaßnahmen gab es nur wenige Straßenlaternen, sodass der Fremde schon fast vollständig in der Dunkelheit verschwunden war. Trotzdem sah ich, dass er sich nur zögernd bewegte.
Gerade als ich losfahren wollte, blieb er ganz stehen. Was denn jetzt? Er verharrte eine Sekunde lang, dann drehte er sich abrupt um und rannte so schnell er konnte zu mir zurück. Entweder war er zornig oder auf der Flucht. Keine der Möglichkeiten gefiel mir. Ich wollte Gas geben, aber etwas hielt mich zurück. Bevor ich mich versah, riss er die Beifahrertür auf.
»Fahr! Schnell! Sie dürfen uns nicht erwischen.« Eine Sekunde später hatte er bereits von innen die Tür verriegelt.
»Wer darf uns nicht erwischen?«
»Die dunklen Männer. Sie werden gleich hier sein. Dann sind wir verloren.« In seinen Augen sah ich so viel Panik, wie nie zuvor in meinem Leben. »Los, schnell!«
Ich verstand nach wie vor nicht und lugte an ihm vorbei in die Seitenstraße. Da war nichts außer Schwärze. Im selben Moment wie ich mich genervt abwenden wollte, fiel mir in der Finsternis eine Bewegung auf. Ich sah nicht genau, was es war, aber es genügte, dass sich meine Nackenhaare aufstellten.
Gleichzeitig musste ich an die geheimnisvollen Helden denken, die mir vergangene Nacht das Leben gerettet hatten. Allerdings vertrug sich diese Erinnerung überhaupt nicht mit dem, was Mr. Schwach-und-Ausgemergelt gesagt hatte.
»Los, fahr schon!«, erinnerte er mich. »Wenn sie uns erwischen, sind wir beide verloren. Dann ist alles vorbei.« Seine Worte beunruhigten mich und setzten sich weiter unter Druck. Wer auch immer die Verfolger waren, es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis sie den Buick erreichten.
Hastig legte ich den Rückwärtsgang ein und stieß einige Meter zurück. Als der Wagen wieder nach vorn schoss, waren die Schatten unglaublich nah. Normalerweise hätten die Verfolger spätestens jetzt deutlich sichtbar sein müssen, doch ich sah nichts außer Schemen in der Dunkelheit.
Wie konnte das sein?
Ich spürte, wie sich mir die Härchen entlang der Wirbelsäule aufrichten. Mein Magen verkrampfte sich. Die Panik meines Beifahrers sprang auf mich über, obwohl ich nicht einmal wusste, wovor wir eigentlich flohen.
Minutenlang düsten wir kreuz und quer durch die Stadt. Erst nach einer Million Querstraßen und Abzweigungen verschwand die Gänsehaut. Mein Begleiter sah ebenfalls entspannter aus, völlig beruhigt wirkte er aber nicht. In seinen Augen stand nach wie vor deutlich die Angst geschrieben und ich überlegte, ob sie möglicherweise vom ersten Moment unseres Treffens an da gewesen war.
Die Lust auf ein kühles Bier war mir vergangen. Stattdessen dürstete es mir nach Antworten auf eine Menge offener Fragen. Ein Happen Essen wäre ebenfalls nicht schlecht. Letzteres hatte für mich Priorität, denn mit vollem Bauch konnte ich besser nachdenken. »Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber mir hängt der Magen in den Kniekehlen.«
Keine Reaktion. Sein ausgemergeltes Gesicht sagte allerdings mehr als tausend Worte.
»Wann hast du das letzte Mal was gegessen?«
Er zuckte mit den Schultern und starrte aus dem Fenster. Er schien jede Straße und Gasse nach möglichen Verfolgern abzusuchen. In dem Moment tat er mir einfach nur leid und ich beschloss, ihn einzuladen. Vielleicht nicht unbedingt ins teuerste Restaurant der Stadt, denn das gab mein Geldbeutel nicht her. Außerdem trugen weder er noch ich die dafür passende Kleidung. Ein Besuch in einem Burgerlokal dürfte allerdings drin sein.
Nahm ich an, doch als ich beim nächsten Wendy's auf den Parkplatz einbogen, schüttelte er den Kopf. »Da geh ich nicht rein. Wahrscheinlich gibt es überall Kameras. Außerdem weiß man nie, wer sich dort herumtreibt.«
Die Antwort ließ tief blicken, aber ich vermied die Diskussion bewusst. Ich stoppte lediglich den Wagen. »Irgendwas müssen wir essen.«
»Nicht hier drinnen.«
Zwei Sekunden dachte ich über seine Worte nach, dann lenkte ich den Buick zum Drive-in. Schließlich hatte er nur gesagt, dass er nicht ins Schnellrestaurant wollte. Als mein Beifahrer sah, was ich vorhatte, schmunzelte er leicht. Ich deutete es als Zustimmung.
Während wir auf das Bestellterminal zurollten, erfuhr ich, dass mein neuer Freund Norman Hancock hieß. Ich nannte ihm meinen Namen und bot ihm an, mich Nat zu nennen. Schließlich taten das alle.
Mit dem Geruch der Hähnchenburgermenüs in der Nase lenke ich den Buick durch eines der letzten Gettogebiete, bevor das Industriegebiet begann und den Stadtrand einläutete. Wir passierten schäbige Mietkasernen, die spätestens zur Jahrtausendwende hätten saniert werden müssen. Die Gegend selbst war ebenso schmutzig wie ungemütlich und vom Stadtrat vermutlich komplett vergessen. Niemand, der klar bei Verstand war, trieb sich hier abends allein auf der Straße herum. Aber selbst bei den entgegenkommenden Autos konnte man nicht sicher sein. Drive by shooting funktionierte nicht nur in Richtung Bürgersteig.
Entsprechend nervös waren die Blicke, die ich auf