Grado abseits der Pfade. Michael Dangl
Abkürzung Rino) würde „der ein wenig Strenge“ bedeuten – „Strengchen“ vielleicht, österreichisch „Strengerl“.
Rino ist, obwohl er keine deutschen Bücher verkauft, mit einer Deutschen verheiratet, einer Schwäbin (mit entsprechend markantem Akzent), aus einem Dorf nahe Stuttgart, dem einst, höre, einer der Patriarchen von Aquileia entstammte. Ob dieser Umstand, dass Rino also damit in eine wenn auch sehr entfernte Verwandtschaft zur großen Geschichte Grados und der noch größeren Aquileias getreten ist, zu seinem Verlangen, die Schwäbin zu heiraten, beigetragen hat, wird sein Geheimnis bleiben.
Nun hat Rino heute einen Freund, Giovanni, eingeladen, um mit mir ein Gespräch über Grado, dessen Geschichte(n) und Traditionen zu führen. Eigentlich hatte ich ihn nur gebeten, mir ein wenig über seine Stadt zu erzählen, aber Rino, das hätte ich wissen müssen, nimmt Dinge, um die man ihn bittet, ernst. Der Vagheit seiner Zeitangabe und meiner profunden Kenntnis des italienischen Umgangs mit dem Begriff „Pünktlichkeit“ folgend, erscheine ich statt um „halb fünf, fünf“ um zehn vor halb sechs, was Rino veranlasst, zu einem auf der anderen Seite des Zeitungstresens stehenden Kunden „Eccolo qua!“ zu rufen. Aber es ist kein Kunde, sondern Giovanni, kleiner als Rino, gedrungen, kahlhäuptig, der seit 50 Minuten auf mich gewartet hat, im Mantel, und mir scheu, freundlich, stolz auch, die Hand gibt. Er ist als Experte geladen, als Grado-Experte, erregt in dieser Rolle und geschmeichelt, und nun stehen wir da, Rino hinter seinen Zeitungen mit leicht fieberndem Blick, Giovanni, mich erwartungsvoll anstrahlend, und ich, der ich vorschlagen will, ins nächste Café zu gehen, den Satz aber mit einem russischen Wort beginne und verstumme. Welche Fragen ich hätte, fragt Rino sachlich, wie in einem Auskunftsbüro, und da verstehe ich: Wir bleiben hier stehen. Italiener brauchen zur Kommunikation nicht notwendigerweise ein äußeres Gerüst, an dem man sich festhalten kann – ein Kaffeehaus, ein Weinglas, eine Teetasse –, das Gespräch ist das Entscheidende, und es ist hier vorgesehen, im Stehen, im Wintermantel. Den ich gleich, bevor ich zu schwitzen anfange (im Geschäft ist es warm), ausziehe, den Schal, die Mütze, die Tasche, alles lege ich ab, eine zutiefst mitteleuropäische Handlungsweise, der Skandinavier, auch der Russe wäre zuerst ins Gespräch gegangen und hätte dann erst, später vielleicht, äußeren Bedürfnissen nachgegeben, nur ich antizipiere, rational, dass sich das Geschehen auf eine halbe Stunde mindestens ausdehnen wird, und bedaure, nach der Siesta in meiner gegenwärtigen Bleibe in der Riva Dandolo zu wenig Wasser getrunken zu haben, mich auf dem Weg in eine Gastwirtschaft wähnend. Nun, stammle ich, es sei schwer, konkrete Fragen zu stellen, da nimmt mir Giovanni in voller Zustimmung das Wort aus dem Mund und beginnt einen kleinen Vortrag, den er sichtlich vorbereitet, möglicherweise gar zu Hause geübt hat, der trockene Mund verrät ihn.
Leider – und da fällt er, nicht ohne sich der dramatischen Wirkung bewusst zu sein, mit der Tür ins Haus –, leider müsse man sagen, dass alles zugrunde gegangen sei. Alles verloren, nichts mehr da. – „Warum?“ – „Aah …“ (große Geste). Den Anfang genommen habe es mit dem Bau der großen Autobrücke 1936 („millenovecentotrentasei“, Rino sekundiert mit der Jahreszahl, feierlich wie er auch das Datum zelebrieren würde, als Aquileia von den Hunnen zerstört wurde). Die Faschisten hätten sie gebaut, fährt Giovanni fort. Vollendet sei es mit der Brücke auf der Landstraße nach Monfalcone geworden („millenovecentosessantasei“, fällt Rino verlässlich ein, 1966), nun war Grado endgültig keine Insel mehr. Auf diese Meldung der einschneidenden Katastrophe vor 80 bzw. 50 Jahren folgt eine Schweigepause, in der ich ratlos vom einen zum andern schaue. Ich merke: Ich bin an zwei Ultratraditionalisten geraten. Was genau verloren sei, wage ich mich vor. – Die Fischerei, zum Beispiel. – Die ganze?! – Die ganze. – Nun, nicht die ganze, widerspricht Rino, nein, gesteht Giovanni, die Fischerei, wie er sie gekannt hat. Sein Großvater sei Fischer gewesen, er selbst in seiner Jugend auch. Es folgt eine lange, akribische Erklärung der verschiedenen Fangmethoden, der modernen vor allem, und ihrer schädlichen Auswirkung auf Meeresgrund und Fischpopulation. Da wird von beiden stark gestisch gearbeitet, mit vier Armen die ganze Buchhandlung durchgepflügt, um die Verderblichkeit der Schleppnetze und die Staubsaugerwirkung der turbosoffianti zu demonstrieren. Dazwischen kommen Leute und kaufen ihre Zeitung, sie werden schnell abgefertigt, sie stören heute. Verstehe ich ein Wort nicht, ein besonders wichtiges, ohne das die Geschichte nicht weiterkommt, stiva etwa, holt Rino mit einer Leiter die große Enzyklopädie herunter, sie ist noch originalverpackt, er müht sich mit der Schachtel, Giovanni tritt unruhig von einem Bein aufs andere, die Erzählung ist ins Stocken geraten, immer wiederholt er das eine Wort, das entscheidende, stiva, stiva!, als könnte ich es durch oftmaliges Hören endlich verstehen; als Rino das Buch öffnet, habe ich es in meinem Handylexikon gefunden, „Laderaum“, sage ich, doch Giovanni ist skeptisch, auch Rino geht nicht darauf ein und sucht weiter, da, er hat es und hält es mit dem Finger fest: „La - de - ra - ùm!“ – Ja, Laderaum. Manche Wörter finde ich nicht selbst, wir sind ja in einem Fachgespräch, Rino assistiert mit dem Lexikon.
Irgendwie kommen wir dann von der Fischerei auf die allgemeine Moral. Verfall auf Verfall. Der Zusammenhalt der Familien, alles komplett weg. Die Tür öffnet sich und der Pfarrer tritt ein, wie auf Stichwort, gibt mir freundlich die Hand. Haben sie ihn dazubestellt? Den Experten in Moralfragen? Aber er sucht etwas, während Giovanni gedämpft, auf einmal wie in einer Kirche, weiterspricht, fingert das Oberhaupt der Basilica Sant’Eufemia di Grado, als der er mir vorgestellt wurde (ich kenne ihn bereits aus seinen Messen), nervös an den bunten Magazinen an der Wand herum, er fühlt sich unwohl, alle beobachten ihn respektvoll, nach Kurzem gibt er mir wieder freundlich lächelnd die Hand, verabschiedet sich und geht, ohne etwas gekauft zu haben.
Natürlich, und nun kommt man auf einen dunklen Aspekt der Vergangenheit Grados zu sprechen, habe das enge Zusammenleben der Familien – Giovanni zeigt mir Photos von vor nicht einmal hundert Jahren, auf denen teils barfüßige Menschen zu zehnt in eine Stube gepfercht sind – auch solch unangenehme Dinge wie Inzest bewirkt. Das sei ein offenes Geheimnis. „Der Vater mit der Tochter“, sagt Rino ernst und bekreuzigt sich innerlich. Aber das sei überall so, wo Menschen in Isolation leben, auch in den Bergen – und dabei sieht er mich vorwurfsvoll an.
Karten werden ausgebreitet, auf Plätze der Altstadt verwiesen, wo früher Häuser standen, wodurch die Bezeichnung calle, „Gasse“, nicht mehr stimme, „Platz“ müsse es jetzt heißen. Ich nicke bestürzt. Giovanni zeigt mir sein Geburtshaus, da, wo auch der junge Biagio Marin ein- und ausgegangen sei, weil dort die Osteria seiner Eltern war, „Le tre corone“. Da sich an diesem Ort oft Betrunkene herumtrieben, habe der kleine Biagio die Anweisung gehabt, durch die Seitentür zu gehen. Betrunkene – wieder ein Schandfleck.
Ob der Tourismus nicht geholfen habe, die bittere Armut zu bekämpfen, frage ich. Ja, das habe er. Aber die Netze seien heute aus Plastik. – Wie? – Früher habe man überall Fischer gesehen, die ihre Netze reparierten, heute keinen einzigen mehr. Doch, sage ich, ich wohne Riva Dandolo, da sehe ich sie an ihren Netzen flicken, ja, antwortet Giovanni, aber früher saßen sie überall. Und gesungen wurde überall. Wo immer man ging, wurde gesungen. Ich stelle mir das schön, aber auch ein bisschen schrecklich vor. Da hebt Rino ansatzlos zu singen an, ein Lied im Gradeser Dialekt, ein Lied von einer mamola („jungen Dame“), der er alles im Leben verdankt und widmet, mein alter Buchhändler singt von seiner mamola, zweifellos, ein emotionaler Höhepunkt ist erreicht. Giovanni, noch immer im zugeknöpften Mantel, wiegt sich, tänzelt und summt leise mit. Ich applaudiere, und alle lachen gelöst. Die Bäume, surft Giovanni auf der sentimentalen Welle weiter, an denen er als kleiner Junge gespielt, kleine Kügelchen durch ihre gewaltigen Wurzeln gerollt habe (jetzt hat er Tränen in der Stimme), sind einbetoniert und werden vernichtet! Und die lavandini!, kontert Rino, die großen Waschbecken am Ufer, wo die Frauen früher – erst meine ich: sich selbst, dann verstehe ich: ihre Wäsche – gewaschen haben, das ganze Ufer entlang habe man die Laken zum Trocknen aufgespannt, von Steinen beschwert, damit sie nicht davonflögen (hier wird wirklich kein Detail ausgelassen), auch diese lavandini habe man einfach verschwinden lassen. Heute, schimpft Giovanni, haben sie Waschmaschinen!, Wäschetrockner!, und voll Verachtung äfft er die Geste des Wäsche-in-die-Maschine-Stopfens nach.
Und der Dialekt! – Schon