In Fesseln. John Galsworthy

In Fesseln - John Galsworthy


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ihn hier zu Hause haben, aber es war sehr schön, zu wissen, dass sein Tutor ihn so mochte. Er zwinkerte Imogen beim Hinausgehen zu und sagte: »Sag mal, Mama, könnte ich vielleicht zwei Kiebitzeier haben, wenn ich nach Hause komme? Die Köchin hat welche. Die sind ein richtig guter Abschluss. Ach, und noch was – hast du etwas Geld für mich? Ich musste mir einen Fünfer vom alten Snobby leihen.«

      Winifred sah ihn liebevoll scharfsinnig an und antwortete: »Mein Lieber, was Geld angeht, bist du wirklich unmöglich. Aber du solltest ihm das Geld ohnehin nicht heute Abend geben, du bist doch eingeladen.« Wie hübsch und schlank er in seinem weißen Gehrock aussah, und seine dunklen vollen Wimpern!

      »Oh, aber wir wollen ins Theater, weißt du, Mama. Und ich denke, ich sollte die Tickets bezahlen. Er ist immer knapp bei Kasse, weißt du …«

      Winifred holte einen Fünfpfundschein hervor und sagte: »Na ja, vielleicht solltest du ihm besser das Geld zurückgeben, aber zahl nicht auch noch die Tickets!«

      Val steckte den Fünfer ein.

      »Wenn ich das mache, dann kann ich es auch gar nicht«, sagte er. »Gute Nacht, Mama!«

      Mit erhobenem Haupt und keck aufgesetztem Hut ging er hinaus und schnupperte die Piccadilly-Luft wie ein junger Jagdhund, den man ins Dickicht losgelassen hat. ’Ne echt feine Sache nach dem muffigen, alten, langsamen Loch dort unten!

      Er traf seinen ›Tutor‹ nicht wirklich im Oxford and Cambridge, sondern im Goat’s Club. Dieser ›Tutor‹ war ein Jahr älter als er selbst, ein gutaussehender junger Mann, hübsche braune Augen, glattes dunkles Haar, kleiner Mund, ovales Gesicht, lässig, makellos, recht kühl, einer jener jungen Männer, die mühelos moralische Überlegenheit innerhalb ihrer Clique erlangen.

      Er war ein Jahr vor Val einem Schulverweis entgangen, hatte jenes Jahr in Oxford verbracht, und Val konnte fast schon einen Heiligenschein um seinen runden Kopf erkennen. Er hieß Crum, und niemand konnte schneller Geld ausgeben als er. Es schien sein alleiniges Lebensziel zu sein – beeindruckend für den jungen Val, auch wenn sich hin und wieder der Forsyte in ihm zu Wort meldete und sich fragte, wo denn der Gegenwert für dieses Geld war.

      Sie aßen schweigend, stil- und geschmackvoll, verließen dann den Klub Zigarre rauchend und mit nur zwei Flaschen intus und setzten sich im Liberty in die Loge. Was Val anbetraf, wurden der Klang lustiger Lieder und der Anblick schöner Beine von quälender Sorge beeinträchtigt, dass er nie an Crums stillen Dandyismus herankommen würde. Sein Idealismus war geweckt, und wenn das der Fall ist, dann fühlt man sich nie ganz wohl. Sein Mund war sicher zu breit, sein Gehrock hatte nicht den besten Schnitt, seine Hose keine Biesen und seine lavendelfarbenen Handschuhe keine schwarzen Stiche auf der Oberseite. Außerdem lachte er zu viel – Crum lachte nie, er lächelte nur, und dabei hob er seine ebenmäßigen dunklen Brauen ein wenig, sodass sie über seinen leicht gesenkten Augenlidern einen Giebel formten. Nein!

      Er würde niemals an Crum heranreichen. Trotzdem war die Vorstellung echt verdammt gut und Cynthia Dark einfach der Wahnsinn. Zwischen den Akten versorgte Crum Val mit Einzelheiten aus Cynthias Privatleben und ließ ihn zu der Ehrfurcht gebietenden Erkenntnis kommen, dass er, wenn er wollte, hinter die Bühne gehen könnte. Val wünschte sich einfach nur zu sagen: »Hey, nimm mich mit!«, aber er traute sich nicht wegen seiner Unzulänglichkeiten, und das machte die letzten ein, zwei Akte fast zu einer Qual.

      Als sie hinaustraten, sagte Crum: »In einer halben Stunde machen sie zu, lass uns noch ins Pandämonium gehen!« Sie nahmen eine Droschke für die knapp hundert Meter, kauften Karten für je sieben Shilling und sechs Pence, weil sie Stehplätze wollten, und gingen in den Wandelgang. Gerade in diesen Kleinigkeiten, in dieser schieren Missachtung von Geld, lag Crums einnehmende Eleganz begründet. Es war die letzte Vorstellung des Balletts und das Ballett war am Ende und der Verkehr im Wandelgang war gerade etwas problematisch. Männer und Frauen drängten sich in drei Reihen vor der Barriere. Das Gewirbel und das helle Licht auf der Bühne, das Halbdunkel, das Gemisch aus Tabakschwaden und Frauendüften, all die eigenartige Verlockung zu Unmoral und Frivolität, die zu Wandelgängen gehört, führten dazu, dass Val langsam seinen Idealismus vergaß. Er blickte bewunderungsvoll in das Gesicht einer jungen Frau, sah, dass sie nicht jung war, und schaute schnell wieder weg. Nur ein Abklatsch von Cynthia Dark! Der Arm der jungen Frau berührte unbeabsichtigt seinen, es roch nach Moschus und Reseda. Val sah sie unter seinen Wimpern an. Vielleicht war sie ja doch jung. Sie trat auf seinen Fuß und entschuldigte sich. Er sagte: »Nichts passiert. Ein echt gutes Ballett, oder?«

      »Ach, mich langweilt es. Sie nicht?«

      Der junge Val lächelte – sein breites, recht charmantes Lächeln. Weiter ging er nicht – er war noch nicht überzeugt. Der Forsyte in ihm bestand auf größerer Gewissheit. Und auf der Bühne wirbelte das Ballett sein Kaleidoskop aus Schneeweiß, Lachsrosa, Smaragdgrün und Violett und schien dann plötzlich zu einer stillen, glitzernden Pyramide zu erstarren. Applaus erklang, und es war vorbei! Weinrote Vorhänge hatten es beendet. Der Halbkreis aus Männern und Frauen rund um die Barriere löste sich auf, der Arm der jungen Frau drückte sich gegen seinen. Ein wenig weiter weg schien sich um einen Mann mit einer rosa Nelke ein Tumult zu bilden. Val warf noch einmal einen verstohlenen Blick auf die junge Frau, die in die Richtung dieses Tumults sah. Drei Männer kamen Arm in Arm und wackelig auf den Beinen aus der Menge.

      Der in der Mitte trug die rosa Nelke, einen weißen Gehrock und einen dunklen Schnurrbart. Er schwankte ein wenig beim Laufen. Er hörte, wie Crum langsam und gelassen sagte: »Schau dir den ordinären Kerl an, der ist hackedicht!« Val drehte sich um und schaute. Der ›ordinäre Kerl‹ hatte seinen Arm befreit und zeigte geradewegs auf sie. Gelassen wie eh und je sagte Crum: »Der scheint dich zu kennen!« Der ›ordinäre Kerl‹ sagte etwas: »Na, schau mal einer an!«, sagte er. »Da ist ja mein Sohn, der kleine Schlingel!«

      Val sah es. Es war sein Vater! Er hätte in dem karminroten Teppich versinken können. Nicht, weil sie sich an diesem Ort über den Weg liefen, noch nicht einmal, weil sein Vater ›hackedicht‹ war, sondern, weil Crum ihn einen ›ordinären Kerl‹ genannt hatte, und wie durch eine himmlische Erkenntnis sah er in diesem Moment, dass er tatsächlich einer war. Ja, sein Vater sah aus wie ein ordinärer Kerl mit seinem dunklen Teint und guten Aussehen, seiner rosa Nelke und seinem breitbeinigen, selbstbewussten Gang. Und ohne ein Wort ging er hinter der jungen Frau in Deckung und schlüpfte aus dem Wandelgang. Er hörte, wie jemand hinter ihm »Val!« rief, und rannte die mit dickem Teppich belegten Stufen hinunter, vorbei an den ›Rausschmeißern‹, raus auf den Platz.

      Sich für seinen eigenen Vater zu schämen, ist womöglich die bitterste Erfahrung, die ein junger Mann machen kann. Während er davoneilte, schien es Val, als habe seine Karriere geendet, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Wie konnte er jetzt noch nach Oxford gehen mit all diesen Kerlen, diesen so perfekten Freunden von Crum, die wissen würden, dass sein Vater ein ›ordinärer Kerl‹ war! Und plötzlich hasste er Crum. Wer zum Teufel war Crum eigentlich, einfach so etwas zu sagen? Wäre Crum in diesem Moment neben ihm gelaufen, er hätte ihn mit Sicherheit vom Gehweg geschubst. Sein eigener Vater – sein Vater! Es schnürte ihm die Kehle zu und er vergrub die Hände tief in den Taschen seines Mantels. Zum Teufel mit Crum!

      Es kam ihm der verrückte Gedanke, zurückzulaufen und seinen Vater in Schutz zu nehmen, ihn am Arm zu nehmen und mit ihm vor Crums Nase umherzulaufen. Doch er verwarf ihn gleich wieder und ging weiter seines Weges die Piccadilly hinunter. Eine junge Frau stellte sich vor ihn. »Nicht so wütend, Kleiner.« Er wich zurück, ging an ihr vorbei und wurde mit einem Schlag sehr gefasst. Wenn Crum jemals ein Wort sagen sollte, dann würde er ihm aber so was von eine verpassen, und damit wäre die Sache erledigt. Er lief noch gut hundert Meter zufrieden mit diesem Gedanken weiter, dann tröstete ihn das kein bisschen mehr. So einfach war das nicht! Er dachte daran, wie in der Schule, wenn jemandes Vater oder Mutter nicht dem Standard entsprach, das demjenigen dann immer anhaftete.

      Das war eines dieser Dinge, die man durch nichts wieder loswurde. Warum hatte seine Mutter nur seinen Vater geheiratet, wenn er ein ›ordinärer Kerl‹ war? Das war so schrecklich ungerecht – so was von gemein, jemandem einen ›ordinären Kerl‹ zum Vater zu geben. Das Schlimmste daran war, dass ihm jetzt, wo Crum diese Worte ausgesprochen hatte, bewusst wurde, dass er unterbewusst


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