In Fesseln. John Galsworthy

In Fesseln - John Galsworthy


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spürte. Das Ballett reiste übermorgen nach Buenos Aires, und er würde mitkommen. Er hatte noch nicht den vollen Gegenwert für die Perlen erhalten, das war nur die Vorspeise gewesen.

      Er schlich sich die Treppe hoch. Ein Bad zu nehmen oder sich zu rasieren traute er sich nicht (außerdem würde das Wasser kalt sein), und so zog er sich nur um und packte heimlich ein, was er konnte. Es war hart, so viele glänzende Stiefel hier zu lassen, aber man musste eben Opfer bringen. Dann ging er, in jeder Hand eine Reisetasche, hinaus auf den Treppenabsatz. Das Haus war komplett still – jenes Haus, in dem er seine vier Kinder gezeugt hatte. Es war ein merkwürdiger Moment, dort, vor dem Zimmer seiner Frau, die er einst bewundert, wenn nicht sogar geliebt hatte, die ihn ›die Höhe‹ genannt hatte. Er verhärtete sein Herz mit dieser Bezeichnung und schlich weiter. Doch bei der nächsten Tür war es schwieriger, vorbeizugehen. Es war das Zimmer, in dem seine Töchter schliefen.

      Maud war in der Schule, aber Imogen war da. Und Darties unausgeschlafene Augen wurden feucht. Von den vieren war sie ihm am ähnlichsten mit ihren dunklen Haaren und ihren schönen braunen Augen. Sie wurde gerade in die Gesellschaft eingeführt, ein hübsches Ding! Er setzte die beiden Reisetaschen ab. Diese fast schon förmliche Niederlegung seiner Vaterschaft schmerzte ihn. Das Morgenlicht fiel auf ein Gesicht, in dem sich wahre Emotionen abspielten. Was ihn bewegte, war nicht etwas so Falsches wie Reue, sondern aufrichtige Vatergefühle und jene Melancholie des ›Nie-wieders‹. Er leckte sich über die Lippen, und für einen Augenblick lähmte völlige Unentschlossenheit seine Beine in den karierten Hosen.

      Es war hart – hart, so gezwungen zu sein, sein Zuhause zu verlassen! »Verdammt!«, murmelte er. »Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommen würde.« Durch Geräusche von oben wurde er gewarnt, dass die Hausmädchen anfingen, aufzustehen. Und so nahm er die zwei Reisetaschen und schlich nach unten. Seine Wangen waren feucht, und das zu wissen, tröstete ihn, als ob es die Echtheit seines Opfers garantierte. Er hielt sich noch ein wenig in den unteren Räumen auf, um all die Zigarren einzupacken, die er hatte, ein paar Zeitungen, einen Klapphut, eine Zigarettendose aus Silber und ein Handbuch des Pferderennsports. Dann mixte er sich einen starken Whisky Soda, zündete sich eine Zigarette an und blieb zögernd vor einem Foto seiner zwei Mädchen in einem Silberrahmen stehen. Es gehörte Winifred. ›Was soll’s‹, dachte er sich, ›sie kann ein neues machen lassen, ich nicht!‹ Er ließ es in seine Reisetasche gleiten. Dann setzte er seinen Hut auf, zog seinen Mantel über, genehmigte sich noch zwei weitere Drinks, nahm seinen Malakkaspazierstock und einen Regenschirm und öffnete die Haustür. Er ging hinaus und zog sie leise hinter sich zu, schwer beladen wie nie zuvor in seinem Leben, und bog um die Ecke, um dort auf eine frühe Droschke zu warten.

      Und so ging Montague Dartie in seinem fünfundvierzigsten ­Lebensjahr fort von dem Haus, das er sein Eigen genannt hatte.

      Als Winifred nach unten kam und feststellte, dass er nicht im Haus war, fühlte sie zuerst eine dumpfe Wut, dass er so den Vorwürfen entkommen sollte, die sie sich in jenen langen Stunden, die sie wach gelegen hatte, sorgfältig zurechtgelegt hatte. Er war nach Newmarket oder Brighton abgehauen, bestimmt mit dieser Frau. Widerlich! Gegenüber Imogen und den Angestellten durfte sie kein Wort darüber verlieren, und sie wusste, dass die Eröffnung dieser Sache mit Sicherheit zu viel für die Nerven ihres Vaters wäre, doch sie hatte nicht anders gekonnt, als an jenem Nachmittag zu Timothy zu gehen und den Tanten Juley und Hester streng vertraulich die Geschichte mit den Perlen zu erzählen.

      Erst am darauffolgenden Morgen bemerkte sie, dass jenes Foto verschwunden war. Was hatte das zu bedeuten? Eine gründliche Untersuchung der zurückgelassenen Sachen ihres Mannes legte den Gedanken nahe, dass er für immer fortgegangen war. Als sich diese Schlussfolgerung verfestigte, stand sie ganz still mitten in seinem Ankleidezimmer, alle Schubladen standen offen, und versuchte, sich ihrer Gefühle klarzuwerden. Das war alles andere als einfach! Auch wenn er ›die Höhe‹ war, er gehörte immer noch ihr, und sie konnte beim besten Willen nicht anders, als sich ärmer zu fühlen. Mit zweiundvierzig Witwe und doch nicht verwitwet zu sein, mit vier Kindern, Aufsehen zu erregen ‒ und Mitleid! Abgehauen in die Arme eines spanischen Flittchens! Erinnerungen, Gefühle, die sie schon lange tot geglaubt hatte, stiegen in ihr auf, schmerzlich, dunkel, hartnäckig. Wie ferngesteuert machte sie eine Schublade nach der anderen zu, ging zu ihrem Bett, legte sich darauf und vergrub ihr Gesicht in den Kissen. Sie weinte nicht. Was würde das schon bringen? Als sie ihr Bett verließ, um zum Mittagessen nach unten zu gehen, spürte sie, dass es nur eine Sache gab, die ihr guttun könnte, nämlich Val hier zu haben. Er – ihr ältester Sohn, der ab nächsten Monat auf James’ Kosten nach Oxford gehen sollte – war in Littlehampton, um mit seinem Trainer den Schlussgalopp für die Aufnahmeprüfung hinzulegen, wie er es gemäß der Ausdrucksweise seines Vaters formuliert hätte. Sie ließ ein Telegramm an ihn schicken.

      »Ich muss mich um seine Kleidung kümmern«, sagte sie zu Imogen. »Ich kann ihn nicht irgendwie nach Oxford schicken, die Jungen dort sind ja so eigen.«

      »Val hat doch haufenweise Sachen«, antwortete Imogen.

      »Ich weiß, aber die müssen hergerichtet werden. Ich hoffe, er kommt.«

      »Er wird kommen wie der Blitz, Mama. Aber seine Prüfung wird er wahrscheinlich in den Sand setzen.«

      »Das kann ich nicht ändern«, erwiderte Winifred. »Ich brauche ihn.«

      Imogen sah ihrer Mutter mit einem unschuldig scharfsinnigen Blick ins Gesicht und schwieg. Es war wegen Vater, klar! Val kam in der Tat ›wie der Blitz‹, um sechs Uhr.

      Stellen Sie sich eine Kreuzung zwischen einem Bengel und einem Forsyte vor, und Sie haben den jungen Publius Valerius Dartie. Ein Junge mit einem solchen Namen konnte kaum anders sein. Als er geboren wurde, hatte Winifred in ihrer Hochstimmung und dem Wunsch nach Besonderheit beschlossen, dass ihre Kinder Namen bekommen sollten, die kein anderer je gehabt hatte (man konnte von Glück sagen – so dachte sie jetzt ‒, dass sie Imogen doch nicht Thisbe genannt hatte). Doch es war George Forsyte, der ewige Witzbold, dem Val seinen Taufnamen zu verdanken hatte. Es ergab sich zufällig, dass Dartie bei einem Essen mit ihm eine Woche nach der Geburt seines Sohnes und Erben diese Ambition von Winifred erwähnte.

      »Nenn ihn Cato«, sagte George, »das wäre doch mal richtig peppig!« Er hatte kurz zuvor einen Zehner mit einem Pferd dieses Namens gewonnen.

      »Cato!«, hatte Dartie entgegnet – die beiden waren ein wenig ›blau‹, wie man damals schon sagte. »Das ist kein christlicher Name.«

      »Hey, Sie da!«, rief George einem Kellner in Kniehosen zu. »Bringen Sie mir die Encyclopaedia Britannica aus der Bibliothek, Buchstabe C!«

      Der Kellner brachte sie.

      »Da hast du’s!«, sagte George und zeigte mit seiner Zigarre darauf: »Cato Publius Valerius von Virgil aus Lydia. Passt doch perfekt. Publius Valerius ist christlich genug.«

      Als Dartie nach Hause gekommen war, hatte er es Winifred erzählt. Sie war entzückt gewesen. Der Name war so ›chic‹. Und Publius Valerius wurde der Name des Babys. Allerdings stellte sich später heraus, dass sie den weniger bedeutenden Cato erwischt hatten. 1890, als der kleine Publius fast zehn war, kam das Wort ›chic‹ jedoch aus der Mode und an seine Stelle trat Nüchternheit. Winifred fing an zu zweifeln.

      Ihre Zweifel wurden von dem kleinen Publius selbst bestätigt, der nach seinem ersten Halbjahr aus dem Internat zurückkam und sich beklagte, dass ihm das Leben eine Last sei – sie nannten ihn Pubby. Winifred – eine wahrhaft entschlossene Frau – ließ ihn sogleich die Schule wechseln und änderte seinen Namen zu Val um, Publius wurde sogar als Initial weggelassen.

      Mit neunzehn war er ein geschmeidiger, sommersprossiger Junge mit einem breiten Mund, hellen Augen, langen dunklen Wimpern, einem recht charmanten Lächeln, einem beträchtlichen Wissen über alles, was er nicht wissen sollte, und keiner Ahnung, was er tun sollte. Wenige Jungen waren einem Schulverweis knapper entkommen – ein liebenswürdiger Bengel.

      Nachdem er seiner Mutter einen Kuss gegeben und Imogen gezwickt hatte, rannte er drei Stufen auf einmal nehmend nach oben, um dann vier Stufen auf einmal nehmend und fürs Abendessen umgezogen wieder nach unten zu kommen. Es tue ihm schrecklich leid, aber sein ›Trainer‹, der auch


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