In Fesseln. John Galsworthy
Tee wurde kalt, seine Zigarre blieb unangezündet, und er schritt auf und ab, hin- und hergerissen zwischen seiner Würde und der Kontrolle über sein eigenes Leben. Unerträglich, langsam hinausgedrängt zu werden, ohne selbst ein Wort zu sagen zu haben, weiterzuleben, wenn der eigene Wille in den Händen anderer lag, die fest entschlossen waren, einen mit Fürsorge und Liebe niederzudrücken. Unerträglich!
Er wollte herausfinden, was passierte, wenn er ihr die Wahrheit sagte – die Wahrheit, dass er ihren Anblick mehr brauchte als bloßes Dahinvegetieren. Er setzte sich an seinen alten Schreibtisch und nahm einen Stift in die Hand. Doch er konnte nicht schreiben. Es hatte etwas Abstoßendes, so zu betteln, sie so anzuflehen, seine Augen mit ihrer Schönheit zu begeistern. Er konnte es einfach nicht. Und so schrieb er stattdessen:
»Ich hatte gehofft, die Erinnerung an vergangene Verletzungen dürfte dem, was für mich und meine kleine Enkeltochter eine Freude und einen Gewinn darstellt, nicht im Wege stehen. Doch alte Menschen lernen, auf ihre Wünsche zu verzichten, sie müssen es, selbst den Wunsch zu leben muss man früher oder später loslassen, und vielleicht je früher, desto besser.
Liebe Grüße
Jolyon Forsyte«
›Bitter‹, dachte er, ›aber ich kann es nicht ändern. Ich bin müde.‹ Er versiegelte den Brief und warf ihn in den Kasten für die Abendpost. Und als er ihn fallen hörte, dachte er: ›Und dahin geht alles, auf das ich mich gefreut hatte!‹
An jenem Abend ging er nach dem Essen, das er kaum angerührt hatte, und seiner Zigarre, die er nur zur Hälfte geraucht hatte, weil ihm davon schwach wurde, langsam nach oben und schlich sich in das Kinderschlafzimmer. Er setzte sich auf die Fensterbank. Ein Nachtlicht brannte und er konnte nur Hollys Gesicht sehen und ihre Hand, die sie unter der Wange hatte.
Ein früher Maikäfer brummte in dem Japanseidenpapier, mit dem sie den Kamin gefüllt hatten, und eines der Pferde stampfte ruhelos im Stall. So zu schlafen wie dieses Kind! Er schob zwei Sprossen der Jalousie auseinander und sah nach draußen. Der Mond ging auf, blutrot. Er hatte noch nie einen so roten Mond gesehen. Die Wälder und Felder dort draußen versanken im letzten Glühen des Sommerlichts ebenfalls in Schlaf. Und die Schönheit ging um wie ein Geist. ›Ich habe ein langes Leben gehabt‹, dachte er, ›das Beste von fast allem. Ich bin ein undankbarer Kerl. Ich habe zu meinen Zeiten viel Schönheit gesehen. Der arme junge Bosinney sagte, ich hätte einen Sinn für Schönheit. Da ist ein Mann im Mond heute Nacht!‹
Eine Motte flog vorbei, dann noch eine und noch eine. ›Damen in Grau!‹ Er machte die Augen zu. Ihn überkam ein Gefühl, dass er sie nie wieder öffnen würde. Er ließ es zu, ließ sich fallen. Dann öffnete er mit einem Schaudern die Lider.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, ganz sicher, irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Er würde doch den Doktor kommen lassen müssen. Jetzt kam es ja auch schon nicht mehr wirklich darauf an! Das Mondlicht wäre jetzt in das Wäldchen gekrochen, es wären dort Schatten, und diese Schatten wären das Einzige, was noch wach war. Keine Vögel, Tiere, Blumen oder Insekten, nur die Schatten – die umherwanderten. ›Damen in Grau!‹ Sie würden über diesen Baumstamm klettern, würden untereinander flüstern. Sie und Bosinney! Merkwürdiger Gedanke! Und die Frösche und das kleine Getier würden auch flüstern! Wie laut die Uhr hier drinnen tickte!
Alles erschien gespenstisch, dort draußen im Licht dieses roten Mondes und auch hier drinnen mit dem kleinen, gleichmäßig brennenden Nachtlicht und dem Ticken der Uhr und dem Morgenmantel des Kindermädchens, der am Wandschirm hing, groß wie die Gestalt einer Frau. ›Dame in Grau!‹ Und es kam ihm ein sehr seltsamer Gedanke: Existierte sie? War sie überhaupt jemals hier gewesen? Oder war sie nur die Emanation all der Schönheit, die er geliebt hatte und schon bald zurücklassen musste? Der violett-graue Geist mit den dunklen Augen und dem bernsteinfarbenen Haar, der auf dem Rasen und dem Mond und zur blauen Stunde umherspukt?
Was war sie, wer war sie, existierte sie? Er stand auf und hielt sich für einen Moment am Fensterbrett fest, um seinen Wirklichkeitssinn wiederzuerlangen. Dann schlich er auf Zehenspitzen Richtung Tür. Am Fuß des Bettes blieb er stehen, und als ob sie spürte, dass er sie betrachtete, bewegte sich Holly, seufzte und rollte sich wie zum Schutz kleiner zusammen. Er schlich weiter und schlüpfte hinaus in den dunklen Gang.
In seinem Zimmer angekommen, zog er sich gleich aus und stellte sich in seinem Nachthemd vor den Spiegel. Was für eine Vogelscheuche – eingefallene Schläfen und dürre Beine! Seine Augen wehrten sich gegen sein eigenes Abbild und ein Ausdruck von Stolz legte sich auf sein Gesicht. Alles hatte sich zusammengetan, um ihn kleinzukriegen, selbst sein Spiegelbild, aber noch war er nicht am Boden – noch nicht! Er ging ins Bett und lag noch lange wach und versuchte, sich seinem Schicksal zu ergeben, denn er wusste nur zu gut, dass Ärger und Enttäuschung sehr schlecht für ihn waren.
Als er am nächsten Morgen erwachte, war er so müde und kraftlos, dass er nach dem Arzt rufen ließ. Nachdem er ihn abgehört hatte, zog der Kerl ein ellenlanges Gesicht, verordnete ihm Bettruhe und riet ihm, mit dem Rauchen aufzuhören. Das war nicht schlimm, er hatte ohnehin keinen Grund aufzustehen, und wenn er krank war, schmeckte ihm der Tabak nicht mehr. Er verbrachte den Vormittag untätig, die Jalousien unten, und blätterte immer wieder die Times durch, ohne wirklich zu lesen, während der Hund Balthasar neben seinem Bett lag. Zusammen mit seinem Lunch brachten sie ihm ein Telegramm, in dem Folgendes stand:
»Habe deinen Brief erhalten komme heute Nachmittag, bin um halb fünf bei dir. Irene.«
Sie kam! Also doch! Dann existierte sie – und er war nicht verlassen. Sie kam! Wärme durchströmte seine Gliedmaßen, seine Wangen und seine Stirn fühlten sich heiß an. Er trank seine Suppe und schob das Tablett weg. Dann blieb er ganz ruhig liegen, bis sie das Essen weggetragen hatten und er alleine war. Doch hin und wieder leuchteten seine Augen auf. Sie kam! Sein Herz schlug erst schnell, dann schien es völlig das Schlagen aufzuhören. Um drei Uhr stand er auf und zog sich bedächtig und lautlos an.
Holly und Mamsell mussten jetzt im Unterrichtsraum sein und die Angestellten würden nach dem Essen bestimmt schlafen, würde ihn nicht wundern. Er öffnete vorsichtig die Zimmertür und ging nach unten. In der Halle lag einsam der Hund Balthasar, und der alte Jolyon ging von ihm gefolgt in sein Arbeitszimmer und von dort hinaus in die brennende Nachmittagshitze.
Er wollte hinuntergehen und im Wäldchen auf sie warten, doch er merkte schnell, dass er das bei dieser Hitze nicht schaffen würde. Stattdessen setzte er sich unter der Eiche neben die Schaukel und der Hund Balthasar, dem die Hitze ebenfalls zusetzte, legte sich neben ihn. Lächelnd saß er dort. Was für ein Fest der frohen Minuten! Wie die Insekten summten und die Tauben gurrten! Es war der Inbegriff eines Sommertages. Wundervoll! Und er war glücklich – er freute sich wie ein Schneekönig, was auch immer das sein mochte. Sie kam, sie hatte ihn nicht verlassen!
Er hatte alles im Leben, was er wollte – außer ein wenig mehr Luft und etwas weniger Druck, genau an dieser Stelle! Er würde sie sehen, wenn sie aus dem Farnwäldchen heraus und mit leicht wiegendem Schritt auf ihn zukam, eine violett-graue Gestalt, die über die Gänseblümchen und den Löwenzahn und das Franzosenkraut auf der Wiese glitt, das Franzosenkraut mit seinen kleinen Blütenköpfchen.
Er würde sich nicht rühren, doch sie würde zu ihm hochkommen und sagen: ›Mein lieber Onkel Jolyon, es tut mir leid!‹ Und sie würde auf der Schaukel sitzen und er dürfte sie betrachten und ihr sagen, dass es ihm nicht gut gegangen sei, doch nun sei alles wieder in Ordnung. Und der Hund würde ihre Hand ablecken. Der Hund wusste, dass sein Herrchen sie gernhatte, der Hund war ein guter Hund.
Es war ziemlich schattig unter dem Baum. Die Sonne kam nicht an ihn heran, sie konnte nur den Rest der Welt erhellen, sodass er die Tribüne in Epsom dort in der Ferne sehen konnte, weit weg von hier, und die Kühe, die den Klee auf dem Feld abgrasten und die Fliegen mit ihren Schwänzen verscheuchten. Er roch den Duft von Lindenblüten und Lavendel. Ah, deshalb schwirrten so viele Bienen umher! Sie waren aufgeregt – geschäftig, so wie sein Herz aufgeregt und geschäftig war. Schläfrig auch, schläfrig und betäubt von Honig und Glück, und sein Herz war betäubt und schläfrig. Sommer – Sommer, schienen sie zu sagen, die großen Bienen und die kleinen Bienen und auch die Fliegen!
Die