In Fesseln. John Galsworthy

In Fesseln - John Galsworthy


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Stadt geblieben, um mit ihr in den Zoo zu gehen, aber zwei Tage hintereinander mit ihm würden sie zu Tode langweilen. Nein, er musste sich bis nächsten Sonntag gedulden, sie hatte versprochen, ihn dann zu besuchen. Sie würden die Unterrichtsstunden für Holly vereinbaren, wenn auch nur für einen Monat. Immerhin etwas. Dieser kleinen Mamsell Beauce würde das nicht gefallen, aber sie würde sich damit abfinden müssen. Und den alten Zylinder an die Brust gedrückt, machte er sich auf den Weg zum Aufzug.

      Am nächsten Morgen fuhr er nach Waterloo und kämpfte dabei gegen den Wunsch an, zu sagen: ›Fahren Sie mich nach Chelsea!‹ Doch sein Sinn für das richtige Maß war zu ausgeprägt. Außerdem war er noch immer schwach auf den Beinen, und er wollte nicht riskieren, dass ihm so etwas wie gestern Abend noch einmal passierte, wenn er nicht zu Hause war. Und Holly wartete ja auch noch auf ihn und auf das, was er für sie mitgebracht hatte. Nicht, dass die Liebe seiner Kleinen in irgendeiner Form berechnend wäre – sie war ein Ausbund an Zuneigung.

      Dann fragte er sich mit dem recht bitteren Zynismus alter Menschen für einen Augenblick, ob Irene sich nicht nur aus berechnender Liebe mit ihm abgab. Nein, auch sie war nicht von der Art. Wenn überhaupt, dann hatte sie eher zu wenig Ahnung davon, wie sie sich einen Vorteil verschaffen konnte, keinen Besitzinstinkt, das arme Ding! Außerdem hatte er keinen Ton verlauten lassen über diesen Testamentsnachtrag, und das würde er auch nicht – es war genug, dass jeder Tag seine eigene Freude hatte.

      In der Viktoria-Kutsche, die am Bahnhof auf ihn wartete, saß ­Holly, die den Hund Balthasar zurückhielt, und die Liebkosungen der beiden versüßten ihm den Heimweg. Den Rest dieses schönen heißen Tages und die meiste Zeit des nächsten Tages war er ruhig und zufrieden, ruhte im Schatten, während der lang anhaltende Sonnenschein die Wiesen und Blumen in Gold tauchte. Doch ab seinem einsamen Abendessen am Donnerstag zählte er die Stunden.

      Noch fünfundsechzig, bis er hinunter zum Wäldchen gehen und sie wiedersehen und mit ihr an seiner Seite durch die Felder nach oben zum Haus zurückkehren würde. Eigentlich hatte er den Arzt wegen seines Ohnmachtsanfalls kommen lassen wollen, aber der Kerl würde ihm sicherlich Ruhe verordnen, Aufregung vermeiden und so, und er würde sich nicht anbinden lassen, wollte nichts hören von einem Gebrechen – wenn er überhaupt eines hatte.

      Er konnte es sich in seinem Alter nicht leisten, so etwas zu hören, jetzt, wo er dieses neue Interesse entdeckt hatte. Und er achtete tunlichst darauf, es in dem Brief an seinen Sohn nicht zu erwähnen. Dann würden sie nur heimgeeilt kommen! Inwieweit er es aus Rücksicht auf ihr Vergnügen verschwieg und inwieweit er dabei auf sein eigenes Vergnügen bedacht war, darüber machte er sich gar nicht erst Gedanken.

      Er hatte an jenem Abend gerade seine Zigarre zu Ende geraucht und war dabei, einzudösen, als er das Rascheln eines Kleides hörte und den Duft von Veilchen wahrnahm. Als er die Augen aufmachte, sah er sie. In einem grauen Kleid stand sie am Kamin und streckte die Arme aus. Das Merkwürdige war, dass sie diese Arme wie um jemandes Hals gelegt hielt, obwohl sie ins Leere griffen, und sie hatte ihren Kopf zurückgebeugt, ihre Lippen geöffnet, die Augen geschlossen.

      Dann war sie wieder verschwunden und da war nur noch der Kaminsims mit den Bronzefiguren. Doch diese Figuren und der Sims waren nicht da gewesen, als sie da war, nur der Kamin und die Wand! Verwirrt und beunruhigt stand er auf. ›Ich brauche eine Medizin‹, dachte er, ›mir muss etwas fehlen.‹ Sein Herz schlug zu schnell, er hatte ein Gefühl der Enge in der Brust. Und er ging zum Fenster und öffnete es, um Luft zu bekommen. In der Ferne bellte ein Hund, hinter dem Wäldchen. Eine schöne stille Nacht, aber finster. ›Ich bin eingenickt‹, dachte er sich, ›das ist es! Und doch könnte ich schwören, meine Augen waren offen!‹ Ein Geräusch wie ein Seufzen schien darauf zu antworten.

      »Was war das?«, fragte er scharf. »Wer ist da?«

      Er legte seine Hand an die Seite, um sein Herz zu beruhigen, und ging hinaus auf die Terrasse. Etwas Weiches huschte in der Dunkelheit vorbei. »Sch!« Es war diese graue Katze. ›Der junge Bosinney war wie eine graue Katze!‹, dachte er. ›Er war es, um den sie da drinnen – um den sie ihre … Sie ist noch immer sein!‹ Er ging an den Rand der Terrasse und sah hinab in die Dunkelheit. Alles, was er sehen konnte, waren die auf dem ungemähten Rasen verstreuten Gänseblümchen. Heute noch hier und morgen schon fort! Und da kam der Mond hervor, der sie alle sah, die Jungen wie die Alten, die Lebenden und die Toten, und sich keinen Deut scherte! Bald war er an der Reihe. Er würde alle Zeit geben, die ihm noch blieb, wenn er dafür noch einmal einen Tag jung sein könnte! Und er wandte sich wieder zum Haus. Er konnte die Fenster des Kinderschlafzimmers dort oben sehen. Seine liebe Kleine schlief wohl gerade. ›Hoffentlich weckt der Hund sie nicht auf!‹, dachte er. ›Was ist es, das uns lieben und sterben lässt? Ich muss ins Bett.‹

      Und über die Steine der Terrasse, die sich im Mondlicht grau färbten, ging er zurück nach drinnen.

      Wie sollte ein alter Mann anders seine Tage verbringen als mit Träumen von seiner wohlverbrachten Vergangenheit? Zumindest beinhaltet dies keine aufregende Wärme, sondern nur blassen Wintersonnenschein. Seine Schale kann dem sanften Pulsieren des Dynamos der Erinnerung standhalten. Der Gegenwart sollte er nicht trauen, der Zukunft ausweichen. Aus dichtem Schatten heraus sollte er beobachten, wie die Sonnenstrahlen zu seinen Zehen kriechen. Sollte die Sommersonne scheinen, so möge er nicht hinausgehen in dem Irrglauben, es handele sich um Nachsommersonnenschein! So würde er vielleicht sanft verfallen, langsam, unmerklich, bis die ungeduldige Natur seine Kehle umklammert und er eines frühen Morgens, noch ehe die Welt zu Leben erwacht, seinen letzten Atemzug tut. Und auf seinem Grabstein würde stehen: ›Nach einem langen, erfüllten Leben!‹ Genau! Wenn er seine Prinzipien in einwandfreiem Zustand wahrt, kann ein Forsyte noch lange nach seinem Tod weiterleben.

      Der alte Jolyon war sich all dessen bewusst, und doch war da etwas in ihm, das über das Forsytetum hinausging. Denn es steht geschrieben, dass ein Forsyte Schönheit nicht mehr lieben sollte als Vernunft und seinen eigenen Willen nicht mehr als seine Gesundheit. Und in jenen Tagen pulsierte etwas in ihm, das mit jedem Pochen an der dünner werdenden Schale fraß.

      Sein Scharfsinn erkannte das, doch er erkannte auch, dass er ­jenes Pulsieren nicht stoppen konnte, und selbst wenn er es könnte, würde er es nicht tun. Und dennoch, hätte ihm jemand gesagt, er lebe von seinem Kapital, er hätte nur einen seiner durchdringenden Blicke kassiert. Nein, nein, ein Mann lebte nicht von seinem Kapital. Das machte man nicht!

      Die Phrasen der Vergangenheit sind stets realer als die Tatsachen der Gegenwart. Und er, der es immer als verwerflich betrachtet hatte, von seinem eigenen Kapital zu leben, hätte nicht ertragen können, dass ein so ungeheuerlicher Ausdruck für seine Situation verwendet würde. Freude ist gesund, Schönheit tut den Augen gut; in der Jugend der Jungen noch einmal aufleben – und was in aller Welt tat er denn anderes?

      Systematisch, wie er sein ganzes Leben gestaltet hatte, teilte er sich nun seine Zeit ein. Dienstags fuhr er mit dem Zug nach London und aß mit Irene zu Abend. Und sie gingen in die Oper. Donnerstags fuhr er mit der Kutsche in die Stadt und traf sich mit ihr in den Kensington Gardens, nachdem er diesen fetten Kerl und seine Pferde untergebracht hatte. Anschließend ging er wieder zurück zur Kutsche und kehrte rechtzeitig zum Abendessen nach Hause zurück.

      Er erwähnte beiläufig, dass er an jenen beiden Tagen geschäftlich in London zu tun hatte. Mittwoch und Samstag kam sie immer nach Robin Hill, um Holly Musikunterricht zu geben. Je mehr er ihre Gesellschaft genoss, desto penibler achtete er auf sein Verhalten, war nur der sachliche, freundliche Onkel. Nicht einmal innerlich fühlte er viel mehr, denn schließlich war er alt. Und dennoch, verspätete sie sich, wurde er schrecklich unruhig. Kam sie nicht, was zweimal passierte, wurden seine Augen so traurig wie die eines alten Hundes und er konnte nicht schlafen.

      Und so verging ein Monat – ein Monat des Sommers in den Feldern und in seinem Herzen, mit der Hitze des Sommers und der dadurch entstehenden Müdigkeit. Wer hätte vor ein paar Wochen gedacht, dass er der Rückkehr seines Sohns und seiner Enkelin mit so etwas wie Schrecken entgegenblicken würde! In diesen Wochen des schönen Wetters und der neuen Gesellschaft einer Frau, die nichts forderte und stets ein wenig unbekannt blieb und so die Faszination des Geheimnisvollen nie verlor, war er so wunderbar


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