In Fesseln. John Galsworthy

In Fesseln - John Galsworthy


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ein paar Monaten war alles vorbei! Ja, ja! Er warf einen Blick auf seine Uhr, bevor er in das Wäldchen ging – erst viertel nach, noch fünfundzwanzig Minuten zu warten! Und dann, als er um die Kurve des Pfades bog, sah er sie genau da, wo er sie das erste Mal gesehen hatte, auf dem Baumstamm. Sie musste wohl mit dem Zug davor gekommen sein, um hier ein paar Stunden alleine zu sein. Zwei Stunden ihrer Gesellschaft, die ihm entgangen waren! Wegen welcher Erinnerung mochte ihr dieser Baumstamm wohl so viel bedeuten? Man sah ihm an, was er dachte, denn sie sagte gleich: »Verzeih mir, Onkel Jolyon, hier ist es mir das erste Mal bewusst geworden.«

      »Ja, ja, du kannst jederzeit hierherkommen. Man sieht dir London ein wenig an, du gibst zu viele Unterrichtsstunden.«

      Dass sie Unterricht geben musste, bereitete ihm Sorgen. Unterricht für einen Haufen junger Mädchen, die mit ihren dicken Fingern Tonleitern hämmerten.

      »Wo gibst du denn Unterricht?«, fragte er.

      »Meistens in jüdischen Familien, glücklicherweise.«

      Der alte Jolyon sah sie erstaunt an. Juden erschienen allen Forsytes fremdartig und dubios.

      »Sie lieben Musik und sind sehr freundlich.«

      »Na, das will ich ja wohl hoffen!« Er hakte sich bei ihr ein – bergauf spürte er immer etwas diesen Schmerz in der Seite – und sagte: »Hast du je etwas wie diese Butterblumen gesehen? Die sind über Nacht so gewachsen.«

      Ihre Augen schienen tatsächlich über das Feld zu fliegen wie Bienen auf der Suche nach Blumen und Honig. »Ich wollte, dass du sie siehst – hab ihnen gesagt, sie sollen die Kühe noch nicht rauslassen.« Dann fiel ihm ein, dass sie gekommen war, um über Bosinney zu sprechen, und er zeigte auf den Glockenturm über den Ställen: »Ich schätze, den hätte er mich da nicht hinmachen lassen – hatte kein Zeitgefühl, wenn ich mich richtig erinnere.«

      Doch sie drückte seinen Arm an sich und redete stattdessen über Blumen, und er wusste, dass sie das tat, damit er nicht das Gefühl hatte, sie sei wegen ihres toten Geliebten hier.

      »Die schönste Blume, die ich dir zeigen kann«, sagte er, und dabei schwang ein wenig Triumph mit, »ist meine liebe Kleine. Sie wird gleich von der Kirche zurück sein. Sie hat etwas an sich, das mich ein wenig an dich erinnert.« Und es erschien ihm nicht merkwürdig, dass er es so herum formuliert hatte, anstatt zu sagen: »Du hast etwas an dir, das mich ein wenig an sie erinnert.« Ah! Da war sie auch schon!

      Holly kam von der Eiche her auf sie zugerannt, dicht gefolgt von ihrer ältlichen französischen Gouvernante, deren Verdauungssystem vor zweiundzwanzig Jahren während der Belagerung Straßburgs ruiniert worden war. Etwa zehn Meter vor ihnen blieb Holly stehen, um Balthasar zu streicheln und so zu tun, als hätte sie nichts weiter im Sinn. Der alte Jolyon durchschaute sie und sagte: »Nun, mein Schatz, hier ist die Dame in Grau, wie ich es dir versprochen hatte.«

      Holly richtete sich auf und sah nach oben. Er beobachtete die beiden mit einem Zwinkern. Irene lächelte und Holly, die ihr zunächst einen ernsten, prüfenden Blick zuwarf, lächelte schließlich auch, erst schüchtern, dann mit mehr Tiefe. Sie hatte einen Sinn für Schönheit, die Kleine – erkannte, was sie vor sich hatte! Es machte ihm Freude, zu sehen, wie sich die beiden einen Kuss gaben.

      »Mrs Heron, Mamsell Beauce. Und, Mamsell – war die Predigt gut?«

      Denn nun, wo ihm nicht mehr viel Zeit blieb, wurde all sein noch übriges Interesse für die Kirche einzig von jenem Teil des Gottesdienstes beansprucht, der mit dieser Welt zusammenhing. Mamsell Beauce streckte eine spinnenartige Hand in einem schwarzen Ziegenlederhandschuh aus – sie war in den besten Familien gewesen – und die recht traurigen Augen in ihrem hageren gelblichen Gesicht schienen zu fragen: »Sind Sie wohlerzogään?« Wann immer Holly oder Jolly etwas taten, das ihr nicht gefiel – was nicht selten vorkam ‒, sagte sie zu ihnen: »Die Tayleur-Kinder haben das nie gemacht ‒ sie waren ja so wohlerzogenää Kinderchen.« Jolly hasste die Tayleur-Kinder, Holly fragte sich verzweifelt, warum sie nur so gegen sie abfiel. ›Ein dünnes, kauziges Ding‹, dachte der alte Jolyon über sie, Mamsell Beauce.

      Das Mittagessen war eine gelungene Mahlzeit. Die Pilze, die er selbst im Pilzgewächshaus ausgesucht hatte, die Erdbeeren, die er gepflückt hatte, und eine weitere Flasche des Steinberger Kabinetts erfüllten ihn mit einer gewissen aromatischen Spiritualität und dem Gefühl, dass er morgen ein leichtes Ekzem haben würde.

      Nach dem Mittagessen nahmen sie unter der Eiche Platz, um türkischen Kaffee zu trinken. Er war nicht traurig, als Mamsell Beauce sich zurückzog, um ihren Sonntagsbrief an ihre Schwester zu schreiben, deren zukünftige Existenz in der Vergangenheit durch das Verschlucken einer Nadel in Gefahr gewesen war – eine Geschichte, die den Kindern täglich als warnendes Beispiel vorgehalten wurde, damit sie langsam äßen und das Gegessene verdauten. Am Fuße der Böschung neckten Holly und der Hund Balthasar sich liebevoll auf einer Kutschendecke, und im Schatten rauchte der alte Jolyon genussvoll mit überschlagenen Beinen seine Zigarre und betrachtete Irene, die auf der Schaukel saß. Eine graziöse, sanft hin und her wiegende graue Gestalt, hie und da von Sonnenlicht beschienen, die Lippen leicht geöffnet, die Augen dunkel und sanft unter leicht gesenkten Lidern. Sie sah zufrieden aus. Bestimmt tat es ihr gut, ihn hier zu besuchen! Die Altersselbstsucht hatte ihn noch nicht wirklich gepackt, denn er konnte sich noch immer an der Freude anderer erfreuen, weil ihm bewusst war, dass seine eigenen Wünsche zwar wichtig, aber nicht alles waren.

      »Es ist ruhig hier«, sagte er. »Du musst nicht herkommen, wenn du es langweilig findest. Aber es ist eine Freude, dich zu sehen. Das Gesicht meiner lieben Kleinen ist das einzige, das mir Freude macht, neben deinem.«

      Ihr Lächeln sagte ihm, dass sie sich durchaus noch über Anerkennung freute, und das beruhigte ihn. »Das ist nicht nur leeres Geschwätz«, sagte er. »Ich habe einer Frau nie gesagt, dass ich sie bewundere, wenn es nicht auch so war. Um genau zu sein, weiß ich nicht, wann ich überhaupt einer Frau gesagt habe, dass ich sie bewundere, außer früher meiner Frau. Und Ehefrauen sind seltsam.« Er schwieg, fuhr dann jedoch abrupt wieder fort:

      »Sie hat immer von mir erwartet, dass ich es öfter sagte, als ich es fühlte, das war das Problem.« Ihr Gesicht sah auf rätselhafte Weise sorgenvoll aus, und beunruhigt, dass er etwas Schmerzliches gesagt haben könnte, redete er schnell weiter: »Wenn meine liebe Kleine heiratet, hoffe ich, dass sie jemanden findet, der weiß, was Frauen fühlen. Ich werde nicht mehr hier sein, um es zu sehen, aber die Ehe beinhaltet zu viel Durcheinander. Ich will nicht, dass sie dagegen ankämpfen muss.« Und weil ihm bewusst war, dass er es nur noch schlimmer gemacht hatte, fügte er hinzu: »Der Hund muss sich aber auch die ganze Zeit kratzen.«

      Es folgte Schweigen. Woran dachte sie, dieses schöne Wesen, dessen Leben ruiniert war, das fertig war mit der Liebe, und das doch für die Liebe gemacht war? Eines Tages, wenn er tot war, würde sie vielleicht einen neuen Partner finden – einen, der nicht so ein Chaot war wie dieser junge Kerl, der sich überfahren hatte lassen. Ach, aber was war mit ihrem Ehemann?

      »Macht Soames dir nie Probleme?«, fragte er.

      Sie schüttelte den Kopf. Plötzlich verschloss sich ihr Gesicht. Bei all ihrer Sanftheit hatte sie doch auch etwas Unversöhnliches an sich. Und für einen kurzen Moment wurde einem Gehirn, dessen Denkweise der frühen viktorianischen Zivilisation entstammte ‒ so viel älter als die seines hohen Alters ‒ und folglich noch nie über solch primitive Dinge nachgedacht hatte, Einblick gewährt in die unerbittliche Natur sexueller Antipathie.

      »Das ist beruhigend«, sagte er. »Heute kann man die Tribüne sehen. Wollen wir eine Runde gehen?«

      Er führte sie durch den Blumen- und den Obstgarten, an dessen hohen Außenmauern der Sonne zugewandt Pfirsichbäume und Nektarinen gepflanzt worden waren, durch die Ställe, das Gewächshaus für Weinreben, das Gewächshaus für Pilze, die Spargelbeete, den Rosengarten, das Gartenhaus – sogar zum Gemüsegarten, um die kleinen grünen Erbsen anzusehen, die Holly so gerne mit ihren Fingern aus den Hülsen pulte und aus ihren kleinen braunen Händen aß.

      Er zeigte ihr viele schöne Dinge, während Holly und der Hund Balthasar vorneweg hüpften und nur hin und wieder zu ihnen kamen,


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