In Fesseln. John Galsworthy
und der Ferne zu kommen, beinahe wie aus einer anderen Welt oder zumindest von jemandem, der nicht wirklich in dieser lebte. Und er fragte mechanisch: »Wo lebst du jetzt?«
»Ich habe eine Wohnung in Chelsea.«
Er wollte nicht hören, was sie tat, wollte überhaupt nichts hören, doch das eigensinnige Wort entschlüpfte ihm: »Alleine?«
Sie nickte. Es war eine Erleichterung, das zu wissen. Und es kam ihm der Gedanke, dass, hätte das Schicksal nicht eine andere Wendung genommen, dieses Wäldchen heute ihr gehören würde, dann würde sie ihm diese Kuhställe zeigen und er wäre ein Besucher.
»Alles Alderney-Kühe«, murmelte er, »die geben die beste Milch. Diese hier ist eine Hübsche. Na, Myrtle!«
Die hellbraune Kuh mit Augen so sanft und braun wie die von Irene selbst stand ganz still da, sie war erst vor Kurzem gemolken worden. Sie sah aus dem Winkel jener glänzenden, sanften, spöttischen Augen zu ihnen hinüber und von ihren grauen Lippen bahnte sich ein feiner Speichelfaden seinen Weg Richtung Stroh.
Der Duft von Heu und Vanille und Ammoniak stieg im trüben Licht des kühlen Kuhstalls empor und der alte Jolyon sagte: »Komm doch mit nach oben und iss etwas zu Abend mit mir. Ich lasse dich dann mit der Kutsche nach Hause bringen.«
Er bemerkte, dass sie innerlich rang, ohne Zweifel natürlich mit ihren Erinnerungen. Doch er wünschte ihre Gesellschaft, ein hübsches Gesicht, eine bezaubernde Gestalt, Schönheit! Er war den ganzen Nachmittag allein gewesen. Vielleicht blickten seine Augen sehnsuchtsvoll, denn sie antwortete: »Danke, Onkel Jolyon. Gerne.«
Er rieb sich die Hände und sagte: »Hervorragend! Dann lass uns nach oben gehen!« Und angeführt vom Hund Balthasar gingen sie durch das Feld hinauf.
Die Sonne stand nun fast auf der Höhe ihrer Gesichter und er konnte nicht nur jene silbernen Strähnen sehen, sondern auch feine Linien, gerade tief genug, um ihrer Schönheit wie einer Münze einen Feingehaltsstempel zu geben – der besondere Ausdruck eines Lebens, das nicht mit anderen geteilt wird. ›Ich werde mit ihr über die Terrasse hineingehen‹, dachte er. ›Sie soll kein gewöhnlicher Besucher sein.‹
»Was machst du so den ganzen Tag?«, sagte er.
»Ich gebe Musikunterricht. Und dann habe ich auch noch eine andere Beschäftigung.«
»Arbeit!«, sagte der alte Jolyon, während er die Puppe von der Schaukel nahm und ihren schwarzen Petticoat glattstrich. »Darüber geht doch nichts, oder? Ich arbeite nicht mehr, ich werde alt. Welche Beschäftigung denn?«
»Ich versuche, gefallenen Frauen zu helfen.« Der alte Jolyon verstand nicht ganz. »Gefallen?«, wiederholte er. Dann wurde ihm mit Schrecken bewusst, dass sie genau das meinte, was auch er gemeint hätte, wenn er jenen Ausdruck verwendet hätte. Sie unterstützte das Londoner Magdalenenstift! Was für eine befremdliche und entsetzliche Beschäftigung! Und weil die Neugierde über sein natürliches Zurückschrecken siegte, fragte er: »Warum? Was tust du für sie?«
»Nicht viel. Geld habe ich nicht übrig. Ich kann ihnen nur Verständnis und manchmal etwas zu essen geben.«
Instinktiv griff Jolyon nach seinem Geldbeutel. Er sagte hastig: »Wie kommst du mit ihnen in Kontakt?«
»Ich gehe in ein Krankenhaus.«
»Ein Krankenhaus?! Puh!«
»Am meisten schmerzt mich, dass fast alle von ihnen einmal auf irgendeine Weise schön waren.«
Der alte Jolyon richtete die Puppe auf. »Schön!«, rief er aus. »Ach ja! Eine traurige Sache!« Und er ging Richtung Haus. Durch eine Fenstertür, deren Markise noch nicht hochgezogen war, ging er in das Zimmer voraus, in dem er immer seine Times las und ein Landwirtschaftsmagazin mit riesigen Illustrationen von Mangoldwurzeln und solchen Sachen, die Holly als Material für ihre Farbpinsel verwenden konnte.
»In einer halben Stunde gibt es Abendessen. Du willst dir bestimmt die Hände waschen! Ich bringe dich zu Junes Zimmer.«
Er sah, wie sie sich neugierig umschaute. Was hatte sich alles verändert, seit sie zuletzt in diesem Haus gewesen war, mit ihrem Ehemann oder mit ihrem Geliebten oder vielleicht mit beiden ‒ er wusste es nicht, konnte es nicht sagen! Das alles lag im Dunkel, und das sollte auch so bleiben. Aber was hatte sich alles verändert! Und in der Eingangshalle sagte er: »Mein Junge, Jo, ist Maler, weißt du. Er hat wirklich Geschmack. Natürlich ist das nicht mein Geschmack, aber ich habe ihn machen lassen.«
Sie stand ganz still da, ihr Blick wanderte durch die Eingangshalle und das Musikzimmer, wie es jetzt war – alles in einem unter dem großen Glasdach. Sie machte einen merkwürdigen Eindruck auf den alten Jolyon. Versuchte sie gerade jemanden heraufzubeschwören aus den Schatten dieses Raumes, der komplett in Perlgrau und Silber gehalten war? Er selbst hätte Gold gewählt, das war freundlicher und solider. Aber Jo hatte einen französischen Geschmack, also war er so schattenhaft geworden, als ob der Rauch der Zigaretten, die der Kerl immerzu rauchte, über allem liegen würde, hier und da unterbrochen durch das schwache Leuchten blauer oder karmesinroter Farbtupfer. Sein Traum war das nicht! Im Geiste hatte er diese Wände mit jenen goldgerahmten Meisterwerken von Stillleben und stilleren Stillleben behängt, die er zu Zeiten gekauft hatte, als Quantität von Wert gewesen war. Und wo waren sie jetzt? Für einen Spottpreis verkauft! Dieses Etwas, das ihn als einzigen Forsyte mit der Zeit gehen ließ, hatte ihn davor gewarnt, darum zu kämpfen, sie zu behalten. Doch in seinem Arbeitszimmer hatte er noch immer Holländische Fischerboote bei Sonnenuntergang.
Er ging mit ihr die Treppe nach oben, langsam, denn er spürte den Schmerz in seiner Seite.
»Hier sind die Badezimmer und andere Räumlichkeiten«, sagte er. »Ich habe sie fliesen lassen. Die Kinderzimmer sind hier entlang. Und das ist das Zimmer von Jo und seiner Frau. Die Räume sind alle miteinander verbunden. Aber das weißt du ja wahrscheinlich noch.«
Irene nickte. Sie gingen weiter, die Galerie hinauf, und kamen in einen großen Raum mit einem kleinen Bett und mehreren Fenstern.
»Das ist mein Zimmer«, sagte er. Die Wände waren behangen mit Fotos von Kindern und mit Aquarellzeichnungen, und er fügte unsicher hinzu: »Die sind von Jo. Der Ausblick ist erstklassig. Bei klarem Wetter kann man die Tribüne in Epsom sehen.«
Die Sonne war nun hinter dem Haus verschwunden und über die Aussicht hatte sich ein strahlender Schleier gelegt, das Nachleuchten des langen und glücklichen Tages. Es waren wenige Häuser zu sehen, doch die Felder und Bäume glitzerten sanft bis hin zu den Hügeln, die sich in der Ferne abzeichneten.
»Das Land verändert sich«, sagte er unvermittelt, »aber es wird immer noch da sein, wenn wir alle weg sind. Sieh dir diese Drosseln an – die Vögel singen hier so schön am Morgen. Ich bin froh, dass ich London hinter mir gelassen habe.«
Ihr Gesicht war dicht an der Fensterscheibe und er war betroffen, welch kummervoller Ausdruck darauf lag. ›Ich wünschte, ich könnte sie glücklich machen!‹, dachte er. ›Ein hübsches Gesicht, aber traurig!‹ Und dann nahm er seine Kanne mit heißem Wasser und ging hinaus in die Galerie.
»Hier ist Junes Zimmer«, sagte er, als er die nächste Tür öffnete und die Kanne abstellte. »Ich denke, du findest alles.« Dann schloss er hinter ihr die Tür und ging zurück in sein Zimmer. Während er seine Haare mit seiner großen Bürste aus Ebenholz kämmte und seine Stirn mit Eau de Cologne betupfte, dachte er nach. Sie war auf so seltsame Weise hier aufgetaucht – eine Art Geschenk des Himmels, mysteriös, gar romantisch, als sei sein Wunsch nach Gesellschaft, nach Schönheit, erfüllt worden, durch was auch immer es war, das so einen Wunsch erfüllte. Und er straffte seine noch immer aufrechte Gestalt vor dem Spiegel, bürstete über seinen großen weißen Schnurrbart, strich etwas Eau de Cologne über seine Augenbrauen und läutete.
»Ich habe vergessen, Bescheid zu geben, dass heute eine Dame mit mir zu Abend isst. Die Köchin soll etwas mehr machen. Und sagen Sie Beacon, er soll den Landauer und zwei Pferde für halb elf bereit machen, um sie damit später zurück in die Stadt zu bringen. Schläft Holly?«
Das Hausmädchen glaubte, sie schlafe nicht. Und der