In Fesseln. John Galsworthy
Empfangs in seinem alten Haus in Stanhope Gate, den er zur Feier der unglückseligen Verlobung seiner Enkeltochter June mit dem jungen Bosinney gegeben hatte, hatte er sie sofort erkannt, denn er hatte sie stets bewundert – ein sehr hübsches Ding.
Nach dem Tod des jungen Bosinney, dessen Geliebte sie so verwerflicherweise geworden war, hatte er gehört, dass sie Soames sofort verlassen hatte. Gott wusste, was sie seitdem gemacht haben mochte. Der Anblick ihres Gesichtes – Seitenanblick – in der ersten Reihe war tatsächlich das einzige Zeichen in diesen drei Jahren gewesen, dass sie noch am Leben war. Niemand sprach je von ihr. Und doch hatte Jo ihm einmal etwas erzählt – etwas, das ihn völlig aus der Fassung gebracht hatte. Der Junge hatte es wohl von George Forsyte gehört, der Bosinney im Nebel gesehen hatte an dem Tag, an dem er überfahren wurde – etwas, das die Verzweiflung des jungen Kerls erklärte, ein Akt von Soames gegenüber seiner Frau, ein schockierender Akt. Jo hatte auch sie an jenem Nachmittag gesehen, nachdem die Nachricht bekannt geworden war, hatte sie für einen Augenblick gesehen, und seine Beschreibung war dem alten Jolyon nie mehr aus dem Kopf gegangen ‒ ›verstört und verloren‹ sei sie gewesen. Und am darauffolgenden Tag war June dort hingegangen – sie hatte ihre Gefühle hinuntergeschluckt und war hingegangen, und das Hausmädchen hatte geweint und ihr erzählt, wie ihre Herrin nachts hinausgeschlichen und verschwunden sei. Eine ganz und gar tragische Geschichte!
Eines war sicher – Soames hatte sich nie wieder an ihr vergreifen können. Und er lebte nun in Brighton, pendelte immer zwischen London und dort – ein gebührendes Schicksal für diesen Besitzstreber! Denn wenn der alte Jolyon einmal eine Abneigung gegen jemanden entwickelt hatte – wie es bei seinem Neffen der Fall war ‒, dann konnte er sie nicht mehr ablegen. Er erinnerte sich noch immer an das Gefühl der Erleichterung, das er empfunden hatte, als er von Irenes Verschwinden erfahren hatte. Die Vorstellung war entsetzlich gewesen, dass sie in jenem Haus gefangen war, zu dem sie zurückgekommen sein musste, als Jo sie gesehen hatte, zurückgekommen für einen Augenblick – wie ein verwundetes Tier in seine Höhle ‒, nachdem sie in der Stadt die Nachricht gesehen hatte: ›Tragischer Tod eines Architekten‹. Ihr Gesicht neulich Nacht hatte einen starken Eindruck hinterlassen – es war schöner, als er es in Erinnerung gehabt hatte, aber wie eine Maske, unter der etwas vor sich ging. Sie war noch immer eine junge Frau – vielleicht achtundzwanzig. Ach ja! Bestimmt hatte sie inzwischen eine neue Liebe gefunden. Doch bei diesem subversiven Gedanken (verheiratete Frauen sollten nie lieben, einmal war schon zu viel gewesen) ging sein Fußrücken nach oben und mit ihm der Kopf des Hundes Balthasar.
Das kluge Tier erhob sich und sah dem alten Jolyon ins Gesicht. ›Gassi?‹, schien es zu sagen. Und der alte Jolyon antwortete: »Na komm, alter Junge!«
Langsam wie immer spazierten sie durch die Butterblumen- und Gänseblümchengrüppchen, hinein in das Farnwäldchen. Dieser Bereich, in dem noch nicht sonderlich viel wuchs, war mit Bedacht tiefer angelegt worden als der Rasen davor, damit er dann wieder auf die Höhe des anderen Rasens ansteigen konnte, sodass der Eindruck von Unregelmäßigkeit entstand, der so wichtig war im Gartenbau. Der Hund Balthasar liebte die Steine und die Erde dort, in der er manchmal einen Maulwurf fand.
Der alte Jolyon machte es sich zum Prinzip, durch dieses Wäldchen zu gehen, denn es war zwar nicht schön, aber es sollte eines Tages schön sein, und so dachte er sich immer: ›Ich muss Varr herkommen lassen, damit er sich das mal anschaut, der ist besser als Beech.‹
Denn wie Häuser und menschliche Leiden erforderten auch Pflanzen die beste fachmännische Pflege. Es gab dort Schnecken, und wenn seine Enkelkinder dabei waren, zeigte er immer auf eine und erzählte ihnen die Geschichte des kleinen Jungen, der sagte: ›Mama, können Zwetschgen krabbeln?‹
›Nein, kleiner Mann.‹
›Mist, dann hab ich, glaub ich, eine Schnecke verschluckt.‹
Und wenn sie dann hochsprangen und seine Hand umklammerten bei der Vorstellung, wie die Schnecke die ›rote Röhre‹ des Jungen hinunterglitt, dann hatte er immer ein Zwinkern in den Augen. Als sie aus dem Farnwäldchen heraustraten, öffnete er die Zauntür, die zum ersten Feld führte, einer großen, parkähnlichen Fläche, von der mit einer Backsteinmauer der Gemüsegarten abgetrennt worden war.
Der alte Jolyon ging an ihm vorbei, da er nicht seiner Stimmung entsprach, und weiter den Hügel hinunter Richtung Teich. Balthasar, der wusste, dass es dort die eine oder andere Wasserratte gab, tollte auf die Weise vorweg, wie es ein älterer Hund tat, der jeden Tag dieselbe Route lief. Am Teichufer angelangt, blieb der alte Jolyon stehen und bemerkte, dass seit dem Vortag eine weitere Wasserlilie aufgeblüht war. Er wollte sie gleich morgen Holly zeigen, wenn ›seine liebe Kleine‹ sich von der Verstimmung erholt hatte, zu der eine Tomate zum Mittagessen geführt hatte – ihr kleiner Körper war ja so empfindlich. Jetzt, wo Jolly zur Schule ging – sein erstes Jahr ‒, verbrachte Holly fast den ganzen Tag mit ihm, und sie fehlte ihm schrecklich. Außerdem spürte er jenen Schmerz, der ihm in letzter Zeit oft zu schaffen machte, ein leichtes Ziehen auf der linken Seite. Er sah zurück, die Anhöhe hinauf.
Wirklich, der arme junge Bosinney hatte außergewöhnlich gute Arbeit geleistet mit dem Haus. Er hätte es weit gebracht, hätte er noch länger gelebt! Und wo er jetzt wohl war? Vielleicht geisterte er noch immer hier umher, am Ort seines letzten Werkes, seiner tragischen Liebesaffäre. Oder hatte sich Philip Bosinneys Geist überallhin zerstreut? Wer konnte das schon sagen? Der Hund machte sich die Pfoten ganz schmutzig! Und er ging in die Richtung des Wäldchens. Dort waren eine Menge ganz bezaubernder Glockenblumen gewachsen und er wusste, wo noch ein paar davon übrig waren, wie kleine Fleckchen Himmel, die zwischen die Bäume hinabgefallen waren, dorthin, wo kein Sonnenlicht hinkam.
Er ging vorbei an den Kuhställen und den Hühnerställen, die dort errichtet worden waren, und folgte einem Pfad ins Dickicht der Schösslinge, der zu einem der Glockenblumenplätze führte. Balthasar, der mal wieder vorneweg lief, knurrte leise. Der alte Jolyon stupste ihn mit dem Fuß an, doch der Hund blieb regungslos stehen, genau da, wo kein Platz zum Vorbeigehen war, und die Haare in der Mitte seines wuscheligen Rückens stellten sich auf. Ob es nun an dem Knurren lag oder an dem Anblick des gesträubten Haars des Hundes oder an dem Gefühl, das einen im Wald überkommt, jedenfalls spürte auch der alte Jolyon ein Schaudern über seinen Rücken laufen.
Und dann machte der Pfad eine Kurve, und dort lag ein alter, moosiger Baumstamm, und auf diesem Baumstamm saß eine Frau. Ihr Gesicht war abgewandt. Er hatte gerade genug Zeit, zu denken: ›Sie hält sich widerrechtlich auf diesem Grundstück auf – ich muss ein Schild aufstellen lassen!‹, da drehte sie sich zu ihm um. Allmächtiger im Himmel! Das Gesicht, das er in der Oper gesehen hatte – genau die Frau, an die er gerade gedacht hatte! In jenem Moment der Verwirrung nahm er alles verschwommen wahr, als ob ein Geist … Ein seltsamer Effekt – vielleicht das Sonnenlicht, das von der Seite auf ihr violett-graues Kleid fiel! Und dann erhob sie sich und stand lächelnd da, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. Der alte Jolyon dachte: ›Wie hübsch sie ist!‹ Sie sagte nichts, er auch nicht. Und mit einer gewissen Bewunderung wurde ihm klar, warum. Sie war zweifelsohne wegen irgendeiner Erinnerung hier und wollte sich nicht durch irgendeine gewöhnliche Erklärung herausreden.
»Pass auf, dass der Hund nicht an dein Kleid kommt«, sagte er. »Er hat nasse Pfoten. Kommst du her, du!«
Doch der Hund Balthasar lief auf die Besucherin zu, und diese streckte ihre Hand zu ihm hinunter und streichelte seinen Kopf. Der alte Jolyon sagte schnell: »Ich habe dich neulich in der Oper gesehen. Du hast mich nicht bemerkt.«
»Oh doch, das habe ich!«
Er fand, dass darin etwas Schmeichelhaftes lag, als hätte sie hinzugefügt: ›Denkst du etwa, man könnte dich übersehen?‹
»Die anderen sind alle in Spanien«, sagte er unvermittelt. »Ich bin alleine hier. Ich bin für die Oper nach London gefahren. Die Ravogli ist gut. Hast du die Kuhställe gesehen?«
In einer Situation, die so erfüllt war von Geheimnissen und fast so etwas wie Emotionalität, steuerte er instinktiv auf jenen Besitz zu, und sie lief neben ihm. Ihre Gestalt wiegte sanft hin und her wie bei den schönsten Französinnen. Auch die Farbe ihres Kleides war eine Art Französischgrau. Er bemerkte zwei oder drei silberne Strähnchen in ihrem