In Fesseln. John Galsworthy
alte Jolyon folgte dem sehr jungen Hausmädchen – wohl nicht älter als sechzehn – in ein sehr kleines Empfangszimmer, in dem die Jalousien heruntergelassen waren. In dem Raum befand sich ein Pianino, und sonst war da recht wenig, außer einem zarten Duft und Stil. Er stand in der Mitte, den Zylinder in der Hand, und dachte: ›Sie muss wohl sehr knapp bei Kasse sein!‹ Über dem Kamin hing ein Spiegel und er sah sein Abbild. Ein alt aussehender Kerl! Er hörte ein Rascheln und drehte sich um. Sie war so dicht hinter ihm, dass sein Schnurrbart beinahe ihre Stirn streifte, direkt unter ihren Haaren.
»Ich war gerade auf dem Weg in die Stadt«, sagte er. »Dachte, ich schau mal bei dir vorbei und frage, ob du neulich gut heimgekommen bist.«
Und als er sah, dass sie lächelte, fühlte er sich plötzlich sehr erleichtert. Vielleicht freute sie sich wirklich, ihn zu sehen.
»Möchtest du deinen Hut aufsetzen und mit mir in den Park fahren?«
Doch während sie weg war, um ihren Hut zu holen, verfinsterte sich seine Miene. Der Park! James und Emily! Nicholas’ Frau oder irgendjemand anderes seiner lieben Familie würde bestimmt dort sein und umherstolzieren. Und hinterher würden sie sich die Mäuler darüber zerreißen, dass sie ihn mit ihr gesehen hatten. Besser nicht! Er wollte nicht die Echos der Vergangenheit an der Forsyte’schen Börse widerhallen lassen. Er zupfte ein weißes Haar vom Revers seines stramm zugeknöpften Gehrocks und fuhr sich mit der Hand über die Wangen, den Schnurrbart und das kantige Kinn. Da, unter den Wangenknochen, fühlte es sich sehr eingefallen an. Er hatte in letzter Zeit nicht allzu viel gegessen – er sollte sich besser mal ein Mittel verschreiben lassen von diesem Jungspund, der Holly behandelte. Doch sie war wieder zurück, und als sie in der Kutsche saßen, sagte er: »Wollen wir vielleicht lieber zu den Kensington Gardens fahren?« Und mit einem Zwinkern fügte er hinzu: »Da stolziert niemand umher«, als ob sie in das Geheimnis seiner Gedanken eingeweiht wäre.
Sie stiegen aus der Kutsche aus, betraten jenes auserwählte Gebiet und spazierten Richtung Wasser.
»Wie ich sehe, hast du deinen Mädchennamen wieder angenommen«, sagte er. »Das tut mir nicht leid.«
Sie hakte sich bei ihm ein: »Hat June mir verziehen, Onkel
Jolyon?«
Er antwortete freundlich: »Ja, ja, natürlich. Warum sollte sie das nicht haben?«
»Und du?«
»Ich? Ich habe dir sofort verziehen, als ich die Lage durchschaut hatte.« Und vielleicht hatte er das wirklich. Es war immer schon sein Instinkt gewesen, den Schönen zu verzeihen.
Sie atmete tief ein. »Ich habe es nie bereut – ich konnte es nicht. Hast du jemals aus tiefstem Herzen geliebt, Onkel Jolyon?«
Auf diese merkwürdige Frage starrte der alte Jolyon vor sich hin. Hatte er das? Er schien sich nicht erinnern zu können, dass er es hatte. Doch das wollte er der jungen Frau nicht sagen, deren Hand auf seinem Arm lag, die gewissermaßen von der Erinnerung an eine tragische Liebe lebte. Und er dachte sich: ›Hätte ich dich getroffen, als ich jung war, ich hätte mich vielleicht zum Narren gemacht.‹ Und ihn überkam das Verlangen, sich in Allgemeinheiten zu flüchten.
»Die Liebe ist eine seltsame Sache«, sagte er, »oft auch eine verhängnisvolle. Waren es nicht die Griechen, die die Liebe zu einer Göttin gemacht haben? Sie hatten recht, will ich wohl meinen. Aber sie lebten ja auch im Goldenen Zeitalter.«
»Phil hat sie verehrt.«
Phil! Das Wort verletzte ihn, denn mit seiner Fähigkeit, alle Seiten einer Sache zu sehen, wurde ihm plötzlich klar, warum sie sich mit ihm abgab. Sie wollte über ihre Liebe sprechen! Na ja, wenn es ihr Freude machte! Und er sagte: »Ah! In ihm steckte wohl auch ein wenig von einem Bildhauer, oder?«
»Ja. Er liebte Ausgewogenheit und Symmetrie. Er liebte es, wie sich die Griechen mit ganzem Herzen der Kunst hingaben.«
Ausgewogenheit! Der Kerl hatte ja so gar keine Ausgewogenheit an sich gehabt, soweit er sich erinnerte. Was Symmetrie anbetraf – gut gebaut war er schon gewesen, ohne Zweifel, aber diese merkwürdigen Augen und die hohen Wangenknochen … Symmetrie?
»Du bist auch aus dem Goldenen Zeitalter, Onkel Jolyon.«
Der alte Jolyon sah zu ihr hinüber. Wollte sie ihn aufziehen? Nein, ihr Blick war weich wie Samt. Wollte sie ihm schmeicheln? Aber wenn ja, warum? Bei so einem alten Kerl wie ihm war doch nichts zu holen.
»Phil fand das. Er hat immer gesagt: ›Aber ich kann ihm nie sagen, dass ich ihn bewundere.‹«
Aha! Schon wieder. Ihr toter Geliebter, ihr Wunsch, über ihn zu sprechen! Und er drückte ihren Arm, halb genervt von diesen Erinnerungen, halb dankbar dafür, als ob er merkte, welche Verbindung sie zwischen ihr und ihm schafften.
»Er war ein sehr talentierter junger Mann«, brummte er. »Es ist heiß. Die Hitze setzt mir neuerdings zu. Komm, setzen wir uns hin.«
Sie nahmen auf zwei Stühlen unter einer Kastanie Platz, deren breite Krone sie vor dem friedlichen Strahlen des Nachmittags schützte.
Es war eine Freude, hier zu sitzen und sie zu betrachten und zu fühlen, dass sie gerne Zeit mit ihm verbrachte. Und der Wunsch, das möglichst noch zu verstärken, ließ ihn fortfahren:
»Ich schätze, er hat sich dir von einer Seite gezeigt, die ich nie zu sehen bekommen habe. Bestimmt zeigte er sich dir von seiner besten Seite. Seine Vorstellungen von Kunst waren ein wenig neu- – für mich.« Er hatte das ›-modisch‹ zurückgehalten.
»Ja, aber er hat immer gesagt, dass du einen wirklichen Sinn für Schönheit hast.« Der alte Jolyon dachte: ›Den Teufel hat er getan!‹ Doch er antwortete mit einem Zwinkern: »Ja, den habe ich wohl, sonst würde ich jetzt nicht hier mit dir sitzen.« Es war faszinierend, wenn sie mit ihren Augen lächelte so wie jetzt!
»Er fand, du hättest eines jener Herzen, die niemals alt werden. Phil hatte eine echt gute Menschenkenntnis.«
Er ließ sich nicht täuschen von dieser Schmeichelei, die der Vergangenheit entstammte, dem Wunsch, über ihren toten Geliebten zu sprechen – kein bisschen. Und doch war es schön zu hören, weil sie seinen Augen und seinem Herzen, das – ganz richtig! – nie alt geworden war, Freude machte. War es nie alt geworden, weil er – anders als sie und ihr toter Geliebter – nie bis zur Verzweiflung geliebt, stets auf Ausgewogenheit geachtet und nie seinen Sinn für Schönheit verloren hatte? Wie auch immer! Es hatte ihm die Fähigkeit erhalten, auch noch mit fünfundachtzig Schönheit zu bewundern. Und er dachte sich: ›Wenn ich ein Maler oder ein Bildhauer wäre! Aber ich bin ein alter Kerl. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen.‹
Ein Pärchen lief mit verschlungenen Armen vor ihnen am Rande des Schattens, den ihr Baum warf, über den Rasen. Das Sonnenlicht fiel gnadenlos auf ihre blassen, verquollenen, ungepflegten jungen Gesichter. »Wir sind schon ein hässlicher Haufen!«, sagte der alte Jolyon unvermittelt. »Ich finde es faszinierend, zu sehen, wie die Liebe darüber triumphiert.«
»Die Liebe triumphiert über alles!«
»So denken die Jungen«, murmelte er.
»Die Liebe kennt kein Alter, keine Grenzen und keinen Tod.«
Mit diesem Strahlen auf ihrem blassen Gesicht, ihrer bebenden Brust und ihren so großen und so dunklen und so sanften Augen sah sie aus wie eine zum Leben erwachte Venus! Doch diese Übertreibung bewirkte eine unmittelbare Reaktion, und mit einem Zwinkern sagte er: »Nun, wenn sie Grenzen kennen würde, dann würden wir nicht geboren. Denn sie muss bei Gott viel hinnehmen!«
Dann nahm er seinen Zylinder ab und wischte mit einer Manschette darüber. Von dem großen unhandlichen Ding wurde seine Stirn heiß. In letzter Zeit stieg ihm häufig das Blut in den Kopf – sein Kreislauf funktionierte nicht mehr so wie früher.
Sie saß noch immer vor sich hinstarrend da, und plötzlich murmelte sie: »Es ist schon seltsam, dass ich noch am Leben bin.«
Er erinnerte sich an Jos Beschreibung: ›verstört und verloren‹.
»Ah!«,