In Fesseln. John Galsworthy

In Fesseln - John Galsworthy


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Mächten des Lebens ausgeliefert, wie viele kleine getrocknete Erbsen, die auf einem Brett umherhopsten, wenn man mit der Faust draufschlug. Ach, ja! Er selbst würde nicht mehr allzu lange hopsen – eine ordentliche Mütze Schlaf würde ihm guttun!

      Wie heiß es hier oben war! Wie laut! Seine Stirn brannte. Sie hatte sie genau dort geküsst, wo sich seine Sorgen immer breitmachten, genau dort – als ob sie von dieser Stelle gewusst hätte und ihm alle Sorgen habe wegküssen wollen. Doch stattdessen hinterließen ihre Lippen einen Fleck des schmerzlichen Unbehagens. Ihre Stimme hatte nie zuvor so geklungen, sie hatte noch nie diese verweilende Geste gemacht oder sich nach ihm umgedreht, wenn sie in der Kutsche davonfuhr.

      Er stand auf und zog die Vorhänge zur Seite, sein Zimmer zeigte auf den Fluss hinaus. Es war kaum Luft zu spüren, doch der Anblick dieses breiten vorbeifließenden Gewässers, ruhig, unvergänglich, beruhigte ihn. ›Das Wichtigste‹, dachte er, ›ist, dass ich niemandem lästig bin. Ich werde einfach an meine liebe Kleine denken und wieder schlafen gehen.‹ Doch es dauerte lange, bis die Hitze und der Lärm der Londoner Nacht abklangen und in den kurzen Morgenschlummer übergingen. Und der alte Jolyon bekam kaum ein Auge zu.

      Als er am nächsten Tag nach Hause kam, ging er hinaus zum Blumenbeet und schnitt mit Hollys Hilfe, die ein zartes Händchen für Blumen hatte, einen großen Strauß Nelken. Sie seien, so sagte er zu ihr, für ›die Dame in Grau‹ ‒ diese Bezeichnung gebrauchten sie immer noch untereinander. Und er stellte sie in eine Vase in sein Arbeitszimmer, wo er Irene unverzüglich wegen June und der zukünftigen Klavierstunden ansprechen wollte, sobald sie da war. Ihr Duft und ihre Farbe würden dabei helfen.

      Nach dem Mittagessen legte er sich hin, denn er war müde, und die Kutsche, mit der sie vom Bahnhof kam, würde nicht vor vier Uhr hier sein. Doch als der Zeitpunkt näher rückte, wurde er unruhig und ging in den Unterrichtsraum, der zur Auffahrt hinausging. Die Jalousien waren unten und Holly war mit Mamsell Beauce im Zimmer, geschützt vor der Hitze eines stickigen Julitages, und kümmerte sich um ihre Seidenraupen. Der alte Jolyon hatte eine natürliche Abneigung gegen diese methodisch vorgehenden Wesen, deren Köpfe und Farbe ihn an Elefanten erinnerten, und die solche Unmengen von Löchern in hübsche grüne Blätter knabberten und, wie er fand, grauenhaft rochen. Er setzte sich auf eine mit Chintz bezogene Fensterbank, von der aus er die Auffahrt im Blick hatte; und er konnte dort so viel wie eben möglich von der wenigen frischen Luft abbekommen.

      Der Hund Balthasar, der Chintz an heißen Tagen schätzte, sprang neben ihn. Über dem Pianino war ein violettes, fast zu Grau verblasstes Tuch ausgebreitet und darauf stand der erste Lavendel des Jahres, dessen Duft sich im Raum ausbreitete.

      Trotz der Kühle hier, vielleicht gerade wegen dieser Kühle, wirkte der Puls des Lebens heftig auf seine ermatteten Sinne. Jeder Sonnenstrahl, der durch die Spalten der Jalousien hereindrang, war unangenehm grell, der Hund roch sehr beißend, der Duft des Lavendels war penetrant, diese Seidenraupen schienen schrecklich lebendig, wie sie ihre graugrünen Körper beim Kriechen in die Höhe schoben, und Hollys dunkler Schopf, der über sie gebeugt war, hatte einen wunderschönen seidigen Glanz. Das Leben war eine erstaunliche, erbarmungslos intensive Sache, wenn man alt und schwach war.

      Es schien sich über einen lustig zu machen mit seiner Vielfalt an Formen und seiner pulsierenden Vitalität. Vor jenen letzten paar Wochen hatte er nie dieses seltsame Gefühl gehabt, dass die eine Hälfte von ihm sich bereitwillig vom Strom des Lebens mitreißen ließ, während die andere Hälfte von ihm am Ufer zurückblieb und diese hilflose Reise beobachtete. Nur in Irenes Gesellschaft war sein Bewusstsein nicht so gespalten.

      Holly drehte den Kopf um und zeigte mit ihrer kleinen braunen Faust auf das Klavier – denn mit dem Finger zu zeigen war nicht ›wohlerzogään‹ ‒ und sagte listig: »Schau dir nur ›die Dame in Grau‹ an, Opa. Ist sie nicht hübsch heute?«

      Das Herz des alten Jolyon fing an zu flattern und für einen kurzen Augenblick war alles im Zimmer verschwommen. Dann sah er wieder klar, und er sagte mit einem Zwinkern: »Wer hat sie angekleidet?«

      »Mamsell.«

      »Hollee! Sei nicht albern!«

      Diese zimperliche Französin! Sie war immer noch nicht darüber hinweg, dass ihr der Musikunterricht genommen worden war. Das würde nichts bringen. Seine liebe Kleine war die einzige Verbündete, die sie hatten. Es war schließlich ihr Unterricht. Er würde nicht nachgeben, um nichts in der Welt. Er streichelte das warme Fell auf Balthasars Kopf und hörte, wie Holly sagte: »Wenn Mama wieder zu Hause ist, wird sich nichts ändern, oder? Sie mag doch keine Fremden.«

      Die Worte des Kindes schienen die eisige Stimmung der Opposition beim alten Jolyon hervorzurufen und alles offenzulegen, was seine neugewonnene Freiheit gefährdete. Ach! Er würde sich damit abfinden müssen, dass er ein alter Mann war, der auf Fürsorge und Liebe angewiesen war, oder um diese neue und ihm so wichtige Freundschaft kämpfen. Und zu kämpfen machte ihn todmüde. Doch sein hageres, erschöpftes Gesicht wurde hart vor Entschlossenheit, bis es nur noch aus Kiefer zu bestehen schien. Das hier war sein Haus und seine Angelegenheit, er würde nicht nachgeben! Er sah auf seine Uhr, die so alt und dünn war wie er selbst. Er hatte sie seit fünfzig Jahren. Schon nach vier! Er küsste Holly im Vorbeigehen auf den Kopf und ging hinunter in die Eingangshalle. Er wollte sie abfangen, bevor sie zu ihrem Unterricht nach oben ging. Beim ersten Geräusch von Rädern ging er hinaus auf die Terrasse. Und er sah sofort, dass die Viktoria-Kutsche leer war.

      »Der Zug war da, Sir, aber die Lady nicht.«

      Der alte Jolyon sah ihn scharf von unten herauf an. Sein Blick schien die Neugier dieses fetten Kerls wegzuschieben und ihn daran zu hindern, die bittere Enttäuschung zu sehen, die er empfand.

      »Gut«, sagte er und kehrte ins Haus zurück. Er ging in sein ­Arbeitszimmer und setzte sich, zitternd wie Espenlaub. Was hatte das zu bedeuten? Sie könnte den Zug verpasst haben, aber er wusste genau, dass sie das nicht hatte. ›Mach’s gut, lieber Onkel Jolyon.‹ Warum ›Mach’s gut‹ und nicht ›Gute Nacht‹? Und wie ihre Hand in der Luft verweilt hatte. Und ihr Kuss. Was hatte das zu bedeuten? Heftige Unruhe und Verärgerung machten sich in ihm breit. Er stand auf und fing an, auf dem Orientteppich zwischen Fenster und Wand hin und her zu laufen. Sie wollte ihn verlassen! Er war sich ganz sicher – und er war machtlos. Ein alter Mann, der Schönheit betrachten wollte! Es war lächerlich! Das Alter verschloss ihm den Mund, lähmte seine Kampfeskraft. Er hatte kein Recht auf das, was warm und lebendig war, kein Recht auf irgendetwas außer Erinnerungen und Kummer.

      Er konnte sie nicht anflehen, auch ein alter Mann hat seine Würde. Machtlos! Eine Stunde lang schritt er körperlich erschöpft auf und ab, vorbei an der Vase mit den Nelken, die er geschnitten hatte, die ihn mit ihrem Duft verspotteten. Von allen schwer erträglichen Dingen ist die Abnahme der Willenskraft am härtesten für jemanden, der stets bekommen hatte, was er wollte. Die Natur hatte ihn im Netz, und er zappelte und schwamm gegen die Maschen wie ein unglücklicher Fisch, versuchte es hier und dort, fand kein Loch, kein Entkommen. Um fünf Uhr brachte man ihm Tee und einen Brief. Für einen Augenblick stieg Hoffnung in ihm auf. Er öffnete den Umschlag mit dem Buttermesser und las:

      »Liebster Onkel Jolyon,

      ich kann es nicht ertragen, dir etwas zu schreiben, das dich enttäuschen könnte, aber ich war gestern Abend zu feige, es dir zu sagen. Ich denke, ich kann nicht nach Robin Hill kommen und Holly weiterhin Klavierunterricht geben, jetzt, wo June wieder zurückkommt. Manche Dinge gehen zu tief, um vergessen zu werden. Es war eine solche Freude, dich und Holly zu besuchen. Vielleicht können wir uns noch manchmal sehen, wenn du nach London kommst, auch wenn ich mir sicher bin, dass das nicht gut für dich ist. Ich kann sehen, dass du dich überanstrengst. Ich denke, du solltest dir möglichst viel Ruhe gönnen bei diesen heißen Temperaturen, und jetzt, wo dein Sohn und June wiederkommen, wirst du so glücklich sein. Tausend Dank für alles, was du Liebes für mich getan hast.

      In Liebe

      Deine Irene«

      Da hatte er es! Freude und das, was ihm am meisten am Herzen lag, waren also nicht gut für ihn; zu versuchen, das Wissen um das unvermeidliche Ende aller Dinge, das Herannahen des Todes mit seinen verstohlenen, raschelnden Schritten zu verdrängen. Nicht gut


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