Elfenzeit 8: Lyonesse. Uschi Zietsch

Elfenzeit 8: Lyonesse - Uschi Zietsch


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beauftragt worden waren. Oder wozu. Und dann passierten schreckliche Dinge.«

      Tom machte eine effektvolle Pause, trank in aller Seelenruhe seinen Cappuccino und griff dann nach Roberts unangetastetem Becher. Anne hob die Augenbrauen, aber Robert konnte keinen Zorn bei ihr entdecken. Im Gegenteil – sie war amüsiert. Sie mochte Tom! Er könnte fast eifersüchtig werden.

      »Es kam zu tödlichen Unfällen unter wirklich grässlichen Begleitumständen«, fuhr Tom fort. »Leute wurden zerquetscht, unter abrutschenden Massen begraben, von Baggern überrollt … ihr könnt es euch nicht vorstellen. Ich machte damals ein Praktikum in einer Lokalredaktion und wurde vor Ort geschickt. So lernte ich Nicholas Abe kennen.« Er nahm einen Zug aus der zweiten Tasse. »Der alte Zausel hat nie darüber gesprochen, was damals geschehen ist. Er ging in einen Tunnel, kam nach einer Weile wieder heraus und sagte, er habe einen Handel geschlossen: Das System solle augenblicklich von der Baufirma versiegelt werden, dann gäbe es keine Unfälle und Gefährdungen durch Erdrutsche mehr. Und so kam es. Es hielt bis heute.«

      »Und jetzt suchst du nach Hinweisen in Abes Unterlagen«, vermutete Anne.

      »Ganz recht. Abe war ein Mystiker und tat immer wahnsinnig geheimnisvoll, und er konnte einen auf die Palme bringen mit seinem kryptischen Gefasel … aber letztendlich musste er doch irgendwo sein Wissen anbringen, nicht wahr? Sein Ego war viel zu groß, um das auf ewig für sich behalten zu können. Was hat man davon, der größte Mystiker der Welt zu sein, wenn es keiner weiß?«

      »Ich verstehe genau, was du meinst.«

      »Leider habe ich nichts gefunden.« Tom hob bedauernd die Schultern. »Entweder hat Tanner die Sachen bekommen, oder sie haben tatsächlich nie existiert. Also habe ich mich an die Recherche nach Stadtmythen gemacht. Und da gibt’s nicht viel, und nichts, was auch nur annähernd in Verbindung mit den Tunnelsystemen zu bringen wäre.« Seiner Miene war jedoch zu entnehmen, dass es damit nicht zu Ende war.

      Anne hakte nach: »Es sei denn …?«

      »Es sei denn, man geht davon aus, dass sie zur Zeit des Kampfes um die Unabhängigkeit Bayerns angelegt wurden, um sich vor dem Feind zu verstecken, geheime Waffenlager anzulegen, und so weiter.«

      Robert begriff sofort. »Da gibt’s nur zwei Möglichkeiten – die Eroberung durch die Schweden, oder, was wahrscheinlicher ist, den Spanischen Erbfolgekrieg mit der Sendlinger Mordweihnacht!«, rief er. »Aber die fand doch nicht dort statt …«

      »Vielleicht hatten sie sich darauf vorbereitet, es kam nur nie dazu«, wandte Tom ein.

      »Wovon sprecht ihr?«, wollte Anne wissen.

      »Von einem der blutigsten Kapitel der bayerischen Geschichte«, antwortete Robert anstelle von Tom. »Weihnachten 1705 wurden bayerische Aufständische in Sendling von den kaiserlichen Truppen des Habsburgers Joseph I. bis auf den letzten Mann niedergemacht. Es war ein grausames Schlachtfest, um ein Exempel zu statuieren.«

      Anne sprang auf und wanderte unruhig im Raum umher. »Das«, sagte sie, »gefällt mir ganz und gar nicht.«

      Eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach. Tom stand zwischendurch auf, räumte das Geschirr ab, spülte es, fuhr Nadjas Laptop herunter und packte ihn wieder ein. Dann goss er die Blumen, zupfte hier und richtete da.

      Robert hütete sich, Anne zu stören, wenn sie in Überlegungen versunken war so wie jetzt.

      »Da steckt mehr dahinter«, sagte die Muse schließlich und schien aus weiter Ferne zurückzukehren. »Tom ist schon sehr nahe dran, hier geht es um Blut. Aber die Ursache muss älter als dreihundert Jahre sein. Wir haben es hier nicht nur mit Gespenstern zu tun, und Nicholas Abe hat sich damals sicher mit jemand anderem auseinandergesetzt.«

      Robert fühlte, wie es in seinen Fingerspitzen kribbelte. »Also müssen wir doch dorthin und selbst nachsehen.«

      Anne nickte. »Wir müssen in das versiegelte System.« Sie wandte sich Tom zu. »Vielen Dank …«

      »Stopp!« Er hob die Hände. »Ich weiß genau, was du sagen willst. Aber so läuft das nicht, klar? Ich bleibe nicht ständig auf der Reservebank sitzen, und hier geht es um meine Stadt! Wir gehen da zusammen rein!«

      »Ich kann nicht auf dich aufpassen«, lehnte Anne ab.

      Robert sagte hingegen: »Er geht mit.«

      Sie starrte ihn an. »Was?«

      »Du hast mich schon verstanden.«

      »Hast du vergessen, dass er noch lebt? Er ist ein normaler sterblicher Mensch, untrainiert, verletzlich …«

      »He!«, unterbrach Tom empört. »Ich kann dich hören!« Er baute sich vor Anne auf und blickte finster auf sie hinab. »Glaubst du nicht, dass ich es mir verdient habe, aktiv im Team zu sein? Ich habe Nadja in Venedig geholfen, wurde von Tanners Leuten zusammengeschlagen, der Getreue hat mich in die Mangel genommen und aus unerfindlichen Gründen am Leben gelassen, und ich habe mich in Tokio mit Dämonen und Cagliostro auseinandergesetzt! Ich bin kein blutiger Anfänger mehr, und ich kann verdammt noch mal selbst auf mich aufpassen! Ich habe dich nicht um deinen Schutz gebeten, und wenn ich mir vor Angst in die Hosen scheiße und davonrenne, braucht es dich nicht zu kümmern! Ich werde euch schon nicht gefährden, keine Sorge. Aber du stellst meine Stadt nicht ohne mich auf den Kopf – und das ist mein letztes Wort!«

      Danach stolperte er zurück und zog ein erschrockenes Gesicht, als habe ihn sein Ausbruch selbst überrascht. Ausgerechnet Anne gegenüber – das fand Robert ziemlich mutig. Nach allem, was er bisher von Tom erfahren hatte, musste der junge Mann seit der ersten Begegnung mit Nadja in Venedig eine gehörige Veränderung durchgemacht haben.

      Für einen Moment war Anne tatsächlich aus dem Konzept gebracht. Dann sah sie zu Robert. »Genau derselbe Spinner wie du«, knurrte sie. »Menschen!« Kopfschüttelnd ging sie zur Garderobe. »Also gut, meinetwegen – aber du übernimmst die Verantwortung für ihn, Robert, und ich werde keine Rücksicht auf euch beide nehmen, wenn ihr mich behindert, verstanden?«

      »Ja, Chefin«, sagten beide Männer im Chor und grinsten sich jungenhaft an.

      6.

       Die Reise zurück 1

      Kurus lief geschwind, seine mächtigen Pranken schienen den Boden kaum zu berühren. Das Gelände war durchgehend felsig, von wenigen Geröllhalden abgesehen, die der junge Mantikor mit weiten Sätzen durchquerte. Obwohl er Jahrhunderte in dem winzigen Schacht eingesperrt gewesen war, beherrschte er seinen Körper ausgezeichnet, und in seinen Muskeln steckte Kraft.

      Mantikore waren erstaunliche Geschöpfe, in deren Adern nicht nur Blut, sondern auch pure Magie floss, mehr als bei anderen. Und sie gehörten zu den tödlichsten Wesen, die von den Menschen nicht zu Unrecht als grausame Ungeheuer gefürchtet waren.

      Kurus allerdings musste dies erst bewusst werden, bisher war er völlig unschuldig und noch leicht zu führen. Das würde sich vermutlich bald ändern. Bis dahin verkürzte der Getreue seinen Weg durch die Wüste auf angenehme Weise. Als der Mantikor den ersten Gipfel erreichte und sich nun das Ausmaß des Gebirges in seiner ganzen steinernen Einöde zeigte, war der Verhüllte deutlich erleichtert. Ob er diese Strecke in seinem gegenwärtigen Zustand ohne Hilfe bewältigt hätte, war fraglich.

      Er hasste seine Schwäche, doch er konnte es nicht abwenden. Auf andere angewiesen zu sein war eine neue Erfahrung. … oder? Um Kurus bei Laune zu halten, vermittelte er ihm das versprochene Wissen. Der Junge gefiel ihm, er war ein unbeschriebenes Blatt, das er nun ganz nach Belieben mit Worten und Bildern verzieren konnte. Kurus war wissbegierig und saugte wie ein Schwamm alles in sich auf, er begriff schnell, und sein Gedächtnis arbeitete von Stunde zu Stunde besser. Er konnte bereits längere Passagen fehlerfrei rezitieren.

      »Werde ich die Mantikore wieder zur Blüte führen?«, fragte er, während er mit einem weiten Satz eine tiefe Kluft überwand. »Hat mein Muttervater mich dafür ausersehen?«

      »Das musst du ihn fragen«, antwortete der Getreue.

      »Vorausgesetzt,


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