Elfenzeit 8: Lyonesse. Uschi Zietsch

Elfenzeit 8: Lyonesse - Uschi Zietsch


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so wie jene, an die der Getreue sich erinnerte, am Ursprung seines Seins. Wie lange war das her …

      Der Getreue lauschte in die Stille hinein. Eine Wohltat, wie die Kälte. Fast, als wäre er wieder dort, wo alles anfing. Manchmal vermisste er den Ursprung. Manchmal wünschte er, er könnte dorthin zurückkehren.

      Und so wird es sein, wenn ich diese Aufgabe beendet habe, dachte er. Ich habe eine lange Pause verdient, wenn alles vorüber ist.

      Kühne Gedanken für jemanden, der sich überhaupt nicht mehr daran erinnerte, was denn seine Aufgabe war. Doch er war zuversichtlich, dass auch dieses Wissen bald zu ihm zurückkehren würde. Bis jetzt verlief alles gut. Wenn nicht bestens …

      Dunkelheit umgab ihn, und er wäre gern noch eine Weile geblieben. Aber es duldete keinen Aufschub mehr. Der Mann ohne Schatten richtete sich langsam auf. Der Sand versuchte, Widerstand zu leisten, rieselte jedoch haltlos an ihm hinab. Sich hindurchzuschlängeln war eine der leichtesten Übungen, und der Getreue beherrschte sie auch in seinem angeschlagenen Zustand. Vielleicht sogar besser noch als im Vollbesitz seiner Kräfte, da er nicht ganz stofflich war.

      Er versuchte nicht, sich nach oben freizugraben, das wäre zum Scheitern verurteilt. Vielmehr wand er sich durch den Sand hindurch wie eine Schlange, bewegte sich vorwärts und wagte erste Schritte. Vorwärts, bis ans Ende des Berges, und dann hindurch.

      Auf seinen Orientierungssinn konnte er sich verlassen. Er fühlte die Kraftlinie unter sich und ihre Stromrichtung. Dort lag Norden, dort endete die Düne. Stetig, immer weiter kämpfte er sich durch den Sandberg aus Windzorn, der sich über ihm aufgetürmt hatte. Doch da wurde es heller, die Schichten dünner, und er konnte den ersten Luftzug spüren. Erleichtert atmete der Getreue ein, und dann brach er durch den Sandwall hindurch und stand im Freien.

      Tiefblauer Himmel wölbte sich über ihm, und weit im Westen hing eine rote, leicht verschleierte Sonne. Das Land ringsum hatte sich völlig verändert und war nicht mehr wiederzuerkennen. Sandberge, wohin er schaute, bis an den Fuß des Gebirges. Hinter ihm türmten sich Dünen auf, die bis zu sechzig Meter hoch sein mochten. Wer auch immer seiner Spur gefolgt war, hatte sie nun verloren. Vielleicht sogar sein Leben.

      Chamsin war fort. Vermutlich hatte er Ghibli befreit und mitgenommen. Die anderen Winde hielten sich nun zurück, sie würden zunächst abwarten, wie sich die Dinge entwickelten.

      Vom Umhang hingen weitere Fetzen herab, die müde mit einer kleinen Brise spielten, Reste von Chamsins verwehtem Zorn. Zweifelsohne bot der Getreue weder einen furchteinflößenden noch vertrauenerweckenden Anblick. Er sah vielmehr aus wie etwas, das gerade dem Grab entstiegen war – und irgendwie war das ja auch so.

      Also vorwärts. Nun musste er sich doch an den mühsamen Weg über das Gebirge machen, wo ihn, so weit entfernt von der Ley-Linie, Hunger und Durst plagen würden, und alle Schwächen, die ein sterbliches Wesen durchmachen konnte.

      Er wandte sich zum Gehen, als er stutzte.

      Der Sand war gewandert, hatte neue Dünen aufgetürmt, aber an anderer Stelle Hügel abgetragen und den Boden entblößt.

      Am Rand der Düne, aus der er gerade gestiegen war, war felsiger Grund freigelegt.

      Mit einem eingemauerten Metallring.

      Dieses Gebiet war schon immer menschenleer gewesen. Wer baute also hier draußen, fern von allem, eine Grube oder einen Schacht, verschloss ihn und hinterließ einen starken Ring als Markierung und Öffner? Sollte das, was sich darunter verbarg, etwa nicht für immer dort bleiben?

      Der Getreue wischte mit den Händen über den Boden, kehrte und blies Sand aus Ritzen und Fugen und legte einen Deckstein frei, umgeben von weiteren quaderförmigen Blöcken, die eindeutig künstlichen Ursprungs waren.

      Er prüfte die Festigkeit des Rings. Alter und Zeit hatten ihm nichts antun können, er saß fest und sicher, das Metall war wie neu. Elfenbronze, ohne jeden Zweifel. Der Verhüllte würde jedoch nicht genug Kraft aufbringen, um den Deckstein auch nur einen Zentimeter anzuheben.

      Also noch einmal die Ley-Linie in Anspruch nehmen. Es stimmt nicht, was Chamsin sagte, ich missbrauche sie nicht, habe ich nie getan, dachte der Getreue. Ich führe sie zu ihrer Bestimmung.

      Wenn ihn seine Erinnerung nicht trog.

      Er schüttelte die Gedanken ab, das war jetzt nicht von Bedeutung. Allein die Konzentration auf die Selbstfindung zählte, alles andere war zweitrangig. Seine Hand sank nach unten, neben den Deckstein, und er tastete mit seinen magischen Sinnen tief hinab. Bald drang ein rötliches Leuchten von unten herauf, und dann sickerte roter Nebel nach oben, wie von einer unterirdischen heißen Quelle ausgestoßen. Er umspielte die Hand des Getreuen, wanderte hoch zu seiner Schulter, und von da aus den anderen Arm hinunter, dessen Finger sich fest in den Ring verkrallten. Als der Nebel dort angekommen war, spannte der Getreue seine Muskeln an und riss den Deckstein mit einem gewaltigen Ruck aus der Verankerung. Der Schwung warf ihn um, hastig ließ er los, während er den Halt verlor, und der schwere Stein krachte dröhnend auf den Boden. Der Getreue stürzte auf den Rücken und stieß einen keuchenden Laut aus. Seine Gestalt flackerte für einen Moment und wurde diffuser, doch er fing sich schnell wieder, sein eiserner Wille zwang ihn hoch.

      Er drehte sich und kroch auf allen vieren an den Rand des Schachts, der schwarz empor gähnte. Uralte, staubige Luft waberte hervor und sank müde auf den Boden, um zu vergehen.

      Ein leises Scharren zeigte an, dass sich etwas dort unten bewegte. Etwas atmete, zog geräuschvoll die sonnenerhitzte Luft ein, die über der Kälte dort unten strich und kleine Wirbel bildete.

      Ein tierhaftes Wesen. Groß. Krallen kratzten über Gestein. Lungen pumpten Luft. Muskeln spannten sich an zum Sprung.

      Der Getreue wich zurück und zwang sich auf die Beine.

      Und da kam es auch schon heraus.

      Ein rotgoldener Schemen, der mit donnerndem Gebrüll und einem gewaltigen Satz sein Gefängnis verließ und mit der Wucht eines Erdbebens auf dem Boden der Freiheit landete. Die mit herabwallender Mähne bedeckten Schultern annähernd zwei Meter hoch, ein muskulöser Löwenleib mit Skorpionschwanz, und statt eines Löwengesichts das eines menschlichen Mannes, beherrscht von wild glühenden Augen, harten, fast grausamen Gesichtszügen und einem übergroßen, überbreiten Mund mit drei scharfen Zahnreihen.

      Sieh mal einer an, dachte der Getreue überrascht.

      Der Mantikor brüllte ein zweites Mal und schüttelte sich, bevor er sein Augenmerk auf den Getreuen richtete, der ruhig dastand.

      »Bin ich … der Letzte?«, fragte er mit heiserer, ungeübter Stimme.

      »Hier? Soweit ich weiß, ja«, antwortete der Getreue. »Die anderen sind nach Jangala gegangen, doch es gibt nicht mehr viele von ihnen. Die Menschen mögen es im Allgemeinen nicht, bei lebendigem Leibe verspeist zu werden. Da sie zahlreich wie Zecken und unaufhaltsam wie Mücken sind, haben sie deiner Art den Garaus gemacht.«

      »Wieso konnten wir uns nicht zur Wehr setzen?«

      »Die Trennung der Welten kam dazwischen. Wie ist dein Name?«

      »Kurus.«

      »König? Ein großer Name für einen kleinen Mantikor.«

      Der schwarze Umhang flatterte, als Kurus den Getreuen mit aufgerissenem Mund anbrüllte. Sein Atem allerdings war erstaunlich frisch. Anscheinend hatte er noch nie einen Menschen verspeist, oder es war schon sehr lange her.

      »Ich bin ausgewachsen, du schwarz verhüllter Wicht! Wie willst du dich mit mir messen?«

      »Gar nicht«, erwiderte der Getreue gelassen. »Kurus, weshalb wurdest du hier eingesperrt?«

      Der Mantikor schwieg verdutzt. Setzte sich auf die Hinterläufe. »Mein … mein Muttervater tat es«, sagte er dann zögernd.

      Es gab nur männliche Mantikore. Angeblich pflanzten sie sich fort, indem die Mütterväter eine bestimmte Frucht schluckten, die sie in sich gären ließen und nach einer Weile wieder auswürgten und dadurch einen Welpen zur Welt


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