Elfenzeit 8: Lyonesse. Uschi Zietsch
konnte er undeutliche Konturen ausmachen.
Das ist so geil, dachte Robert. Ein nie gekanntes Gefühl von Macht durchströmte ihn. Als würde er jetzt erst begreifen, was er seit seiner Wiederauferstehung geleistet hatte. Er hatte sich mit mächtigen Dämonen und Elfen angelegt und sie besiegt – nun ja, bei Catan konnte man sich darum streiten, aber er hatte den Panther zumindest außer Gefecht gesetzt, bevor er abgehauen war –, sein Körper war schnell und stark, und schaurige Geschöpfe der Nacht respektierten ihn allein aus der Tatsache, dass er ein Vampir war, und zwar ein besonderer. Das konnten sie spüren.
Gewiss, er hatte auch getötet. Aber das war im Elfenreich gang und gäbe, die Unsterblichen dachten nicht weiter darüber nach und hatten weitaus weniger Skrupel als normale Menschen. Daran würde er sich wohl oder übel gewöhnen müssen – aber nur, solange es Elfen waren. Mochte das wie eine zweifelhafte Moral klingen, aber Robert wollte keinen Menschen gefährden. Das war einfach eine andere Sache. Eine andere Welt.
Doch jetzt hier zu stehen, von den Kameras nicht erfasst werden zu können und einer Finsternis ihre Geheimnisse zu entreißen – das hatte was. Und war erst der Beginn. Robert kannte bei weitem noch nicht alle seine Fähigkeiten, und er war gespannt darauf, was alles in ihm lauerte, abgesehen von den übermenschlichen Kräften.
Moment … hatte sich da etwas bewegt? Er hatte wieder einmal nicht aufgepasst, war in seinen Gedanken abgeschweift, ganz wie früher. Zu sehr versunken in sich selbst. Als Jäger hatte er noch nicht sonderlich viel Erfahrung und wahrscheinlich auch kein ausgeprägtes Talent.
Robert ging ein Stück näher und konzentrierte sich. Um nicht zu sehr auf sich aufmerksam zu machen, hörte er einfach auf zu atmen. Solange er sich nicht bewegte, war das kein Problem, sein Körper verfiel dann in eine Art Leichenstarre. Auch einer der Tricks, die er durch Zufall herausfand.
Die Geduld machte sich bezahlt. Dort hinten war etwas!
Robert sprang in den Gleisgraben und rannte los. Er brauchte keine Sorge zu haben, keine U-Bahn fuhr derzeit. Anne rief ihm hinterher, doch er achtete nicht auf sie. Er wollte wissen, was sich da bewegt hatte; er war sicher, dass es etwas Nichtmenschliches gewesen war.
Anne stieß einen Fluch aus, dann tauchte Robert in die Dunkelheit ein, und alle Geräusche hinter ihm erstarben. Trittsicher fanden seine Füße den Weg, ohne an die tückischen Stromleitungen zu geraten oder über Unebenheiten zu stolpern. Ihm war so, als würde er genau wie Anne den Boden nicht mehr richtig berühren.
Vor ihm erklang ein erstickter Laut, und dann huschte etwas davon, tiefer in den Schacht hinein. Eine andere Fluchtmöglichkeit gab es nicht, was die Jagd erleichterte.
»Bleib stehen!«, rief Robert. »Lass uns reden!«
Das Wesen dachte nicht daran, und Robert konnte es ihm nicht verübeln. Wenn es bereits wusste, dass ein Vampir hinter ihm her war, konnte es solchen Worten wohl kaum Vertrauen schenken.
Also Gas geben. Mal sehen, wie schnell er hier unten werden konnte. Robert beschleunigte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er spürte, wie seine Fangzähne ausfuhren, und wie etwas anderes, Wildes an die Oberfläche drängte und übernehmen wollte. Robert zwang es zurück, doch es gelang ihm nicht ganz. Der Jagdtrieb trieb ihn nun voran, er brauchte gar nicht mehr viel dazu zu tun.
Die Beute … das Wesen war sehr viel kleiner und dadurch flinker im Hakenschlagen. Robert kam ihm trotzdem näher, doch es wechselte schnell die Seiten, sodass er es nicht packen konnte. Seine hochkonzentrierten Sinne empfingen plötzlich Luftströmungen, was bedeutete, dass es irgendwo dort vorn eine Abzweigung gab. Vermutlich auch Verstecke. Dann hatte er so gut wie keine Chance mehr, die Beute – nein, das Wesen zu erwischen.
Er war fast dran. Für einen kurzen Moment überließ Robert die Kontrolle dem Raubtier in sich und empfand sich plötzlich als Beobachter. In einer rasendschnellen Berechnung erkannte das Tier in ihm, welchen Haken die Beu… das Wesen als nächstes schlagen würde. Im selben Moment stieß Robert sich ab, hechtete quer über das Gleis in einem gewaltigen Satz nach vorn und brach wie ein Sturm über den Verfolgten herein.
Roberts Finger packten raues Fell, während sie beide stürzten, er rollte sich sofort ab und kam wieder auf die Beine. Sein Opfer wand sich heftig, doch er hielt es unerbittlich fest.
»Halt endlich still!«, rief er. »Ich will dir ja nichts tun, nur mit dir reden.«
»Lügner!«, schrillte das Wesen. »Ihr Untoten seid alle gleich!«
»Ich bin kein Untoter, jedenfalls nicht so richtig«, erwiderte Robert.
»Was denn sonst, du Vampir? So rotglühende Augen hat doch kein Mensch, und ein Elf bist du auch nicht! Da bleiben nicht viele Möglichkeiten übrig!«
Rotglühende Augen, dachte Robert. Erneut fuhr er sich mit der Zunge über die spitzen Reißzähne, entblößte sie dabei, und sein Gefangener stieß einen weiteren panischen Schrei aus.
»Ich tu alles, was du willst, nur beiß mich nicht!«, bettelte er.
»Du bist mir viel zu haarig«, erwiderte Robert und setzte den Kleinen ab, hielt ihn nur noch im Genick fest. Das Raubtier in ihm zog sich langsam, enttäuscht zurück. Keine lohnenswerte Beute. Robert war froh darüber. »Was bist du überhaupt für einer?«
»Pickwick Chadwick Sloterbick, oder auch kurz Chad, wenn’s genehm ist«, antwortete der Kleine. Er mochte etwa so groß wie Grog sein und aus einer ähnlichen Sippe stammen, da er ebenfalls eine ziemlich große Nase besaß. Sein Körper war von dichtem braunem Fell bedeckt, das nach Steinpilz roch, und hellgrüne Augen funkelten in der Dunkelheit. Seine haarigen Ohren waren sehr lang. »Ich bin nur auf der Durchreise und hatte nicht vor, lange zu verweilen.«
»Auf der Durchreise von wo?«
»London, Mann. Da ist’s derzeit ziemlich ungemütlich, deshalb suche ich nach einem ruhigeren Plätzchen, hatte aber bisher kein Glück.«
»Also, Chad – ich bin Robert. Bis vor kurzem war ich ein Mensch, jetzt ein Vampir, aber ich bin nicht an deinem Blut interessiert. Kommen wir zur Sache. Was weißt du über die Vorgänge hier, welche die Polizei auf den Plan bringen?«
»Komische Frage! Menschen sterben wie die Fliegen, ein Vampir ist in der Nähe – da kann man doch wohl eins und eins zusammenzählen, oder?«
Robert schüttelte Chad leicht, dessen Fell sich daraufhin sträubte. »Wenn ich dir diese Frage stelle, liegt die Vermutung nahe, dass ich nicht der Mörder bin, meinst du nicht? Andernfalls wärst du gar nicht mehr am Leben.«
»Möglich«, brummelte Chad, er klang nicht vollends überzeugt. »Lass mich endlich los, das ist demütigend!«
Robert kam der Aufforderung nach, die gebückte Haltung war ohnehin mehr als unbequem, und er stellte sich aufrecht hin, die Arme vor der Brust verschränkt. »Also, was geht hier vor sich?«
»Woher soll ich das wissen?« Chad schüttelte sich und strich das Fell glatt. »Ich bin neutral, ich halte mich aus allem raus. Halte mich fern von den Menschen und den meisten Elfen. Ich wäre schon längst fort, wenn das Tor funktionieren würde, aber irgendwas blockiert den Durchgang!«
»Vielleicht hängt das eine mit dem anderen zusammen«, überlegte Robert. »Wieso hast du London verlassen?«
»Sagte ich bereits. Seit die Grenzen fallen und die Zeit überall einbricht, dreht alles durch. In London ist ein Machtkampf ausgebrochen.«
»Zwischen wem?«
»Das willst du nicht wissen. Nicht mal ein Vampir will was mit denen zu tun haben.«
»London gehört doch zum Königreich Crain, nicht wahr?«
»Ja, aber es hat einen eigenen Machtbereich, sehr alt. Fanmór musste Unabhängigkeit zugestehen, er hat nur die oberste Gerichtsbarkeit. Und jetzt ist dort Krieg ausgebrochen zwischen zwei Mächtigen, da bin ich abgehauen. Wie viele andere übrigens.«
Robert rieb sich das vom Dreitagebart bedeckte Kinn. »Ganz schön leichtsinnig, allein zu reisen, wenn man so