Elfenzeit 8: Lyonesse. Uschi Zietsch

Elfenzeit 8: Lyonesse - Uschi Zietsch


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sank er in sich zusammen. Alle Mühe vergebens, er würde das wenige Leben, das ihm geblieben war, verlieren. Was hatte Ayoub gesagt? Das Meer ohne Wasser … die Oasen namens … Kufi? Kari? Kufrah! Und Gewas! Das war es!

      »Libyen«, murmelte er. »Ich bin in Libyen.«

      Kein besserer Ort hätte es sein können. Hier hatte alles begonnen. Von hier aus waren die Ersten aufgebrochen. Ayoub hatte es gewusst und ihm deshalb den Weg nach Norden gezeigt, zum blauen Meer. Dort gab es Rettung für ihn und … und …

       Wem gilt meine Treue?

       Wer muss sterben, wenn ich nicht zurückkehre?

      Er zerbrach sich den Kopf, aber er konnte sich nicht erinnern. Doch es galt, keine Zeit zu verlieren. Eine Menge stand auf dem Spiel. Sprach Ayoub nicht auch darüber? Dass die Grenzen sich verschoben und öffneten, und dass alles sich veränderte?

      Auf allen vieren kroch der Getreue zum Wasser, um noch einmal zu trinken, bevor er aufbrach. Er beugte gerade den Kopf über das sandige Ufer, als er einen dunklen Schatten bemerkte. Und dann geschah es auch schon.

      Etwas schoss aus dem Wasser hervor, riesengroß und graugrün, stank nach Moder und Verwesung, und schnappte mit langem Maul, in dem faulige Zähne steckten, nach dem Getreuen.

      Dass die Bestie schon sehr alt war, war sein Glück. Und dass der Getreue früher eine unglaublich schnelle Reaktionsfähigkeit besessen hatte, ebenfalls. Auch wenn davon nicht mehr viel übrig war – er war immer noch schneller als ein Mensch. Und um ein wenig schneller als die Panzerechse.

      Der Getreue warf sich zur Seite, und das Maul schnappte nur Luft. Klickend, klirrend krachten die schief stehenden Zähne zusammen, und das Tier stieß einen grunzenden Laut aus, als einige zersplitterten und herausfielen. Der Gestank, der daraufhin dem wieder halb geöffneten Rachen entströmte, färbte die Luft grünlich.

      Doch das konnte das Krokodil nicht aufhalten. Es fuhr herum, peitschte das Wasser mit dem wild schlagenden Schwanz auf, während es an Land kam, den Körper mit den seitlich am Leib gelegenen Beinen hochstemmte und den Getreuen erneut angriff. Wieder konnte er sich im letzten Augenblick zur Seite werfen, doch er kam nicht schnell genug hoch und musste halb kriechend, halb robbend ausweichen.

      Schließlich rollte er in einem günstigen Moment unter die Echse, seine Arme schossen nach oben und legten sich um das Maul des Krokodils und hielten es zu.

      Eine über sechs Meter lange Panzerechse hatte keine natürlichen Feinde mehr und war ein tödlicher Gegner. Mit einem Schlag ihres Schwanzes konnte sie die Knochen eines Elefanten zertrümmern. Einmal zugebissen, konnte nichts mehr dem Rachen entkommen, und selbst Schwergewichte wurden mühelos ins Wasser geschleppt. Der Druck beim Zubeißen lag bei über einer Tonne. Aber das Maul zu öffnen, wenn es einmal geschlossen war – dafür besaß ein Krokodil keine Muskelkraft.

      Der Getreue umklammerte die Schnauze, gleichzeitig schlang er die Beine um den Leib der Echse, die sich wütend zur Wehr setzte und sich wild wand. Aber an der verletzlichen Bauchunterseite konnte sie den Gegner nicht erreichen. Der Getreue ließ sich trotz der heftigen Bewegungen nicht abschütteln und umklammerte die Echse so lange, bis sie in ihrer Gegenwehr endlich ermattete und Richtung Wasser strebte, um sich in Sicherheit zu bringen. Als sie dabei eine Sandgrube durchlief und auf der rechten Seite einsank, brachte der Getreue sie aus dem Gleichgewicht und zu Fall.

      Das Krokodil war alt, nicht mehr allzu sicher auf den Beinen, durch den unerwarteten Verlauf des Kampfes verwirrt und nur noch auf die Flucht ins Wasser konzentriert. Sein Gehirn war nicht größer als eine Nuss, es konnte nicht flexibel auf Veränderungen reagieren. Obwohl sein Gegner körperlich weit unterlegen war, war es ihm nicht gewachsen.

      Während die Echse stürzte und der Getreue obenauf kam, achtete er auf die empfindliche Stelle am Hals, wo die Hauptschlagader verlief, knapp unter dem gewaltigen Kieferknochen. Er schlug die gestreckten Finger hinein, woraufhin die Panzerechse augenblicklich bewusstlos zusammensackte, und riss die spröde Haut auf. Seine Zähne vergruben sich im Hals, seine Zunge fing das hervorsprudelnde Blut auf, und er trank gierig.

      Das Krokodil kam nicht mehr zu sich und starb, während es dem Getreuen sein Leben gab. Mit seinem Blut nahm der Verhüllte zugleich seine Geschichte und die seiner Vorfahren in sich auf.

      Das Tier war über hundert Jahre alt, die meiste Zeit seines Lebens hatte es im Schlaf verbracht, um den Hunger und die Dürrezeiten zu überstehen. Es war der letzte Nachkomme einer Gruppe Nilkrokodile, die vor Jahrtausenden durch einen Flusslauf hierher gelangten und an einem See gelebt hatten, bevor das Wasser schwand und das Land zur Wüste wurde. Sie waren immer weniger geworden und in den letzten neun oder mehr Jahrzehnten hatte es nur noch einen Überlebenden gegeben.

      »Du hast dein Leben gehabt«, brummte der Getreue, nachdem er sich gestärkt hatte und spürte, wie das Blut des Krokodils durch seine Adern floss. »Du bist nicht sinnlos gestorben.«

      Er stand auf und streckte sich, fühlte, dass er nun die Kraft hatte zu gehen. Ihm blieb nicht viel Zeit, aber immerhin war er nicht mehr hilflos.

      Ohne das tote Fossil noch eines Blickes zu würdigen, ging er Richtung Norden.

      3.

       Mord am Stachus

      »Normalerweise«, sagte Robert, während er ein Buchregal umsortierte, »enden Romane an der Stelle, wo ich angekommen bin.«

      »Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.« Der Spott in Annes Stimme war angemessen. Sie sprach, ohne aufzusehen, da sie gerade auf allen vieren über das Parkett kroch, unter den Sessel und Regale schaute.

      »Stimmt genau. Aber meine Geschichte geht eben noch weiter … oder fängt neu an.« Robert seufzte. »Das verunsichert mich.«

      »Warum? Als Sterblicher hast du doch stets im Ungewissen gelebt.« Sie wandte sich der anderen Wand zu.

      Robert runzelte die Stirn, räumte eine Reihe wieder aus und sortierte sie neu. »Nicht ganz. Ich kannte ungefähr meine Lebensspanne, wenn nicht Unfälle oder Krankheiten dazwischenkamen. Meine Möglichkeiten waren begrenzt.«

      »Du bist eine Nervensäge«, stellte Anne in scharfem Tonfall fest. »Ständig geht deine Stimmung rauf und runter. Da warst du mir als Alkoholiker noch lieber, andauernd im Selbstmitleid versunken und …«

      Robert hielt inne und sah zu ihr hinunter. »Was machst du da eigentlich?«

      »Moment … ah!« Plötzlich sprang Anne los, wie eine Katze auf die Beute, ihre rechte Hand schoss vor, und Robert hörte ein leises Quieken. Verdutzt sah er Anne zu, als sie sich aufrichtete und eine kleine graue Hausmaus in ihren Krallen präsentierte. »Sie wollte deine Bücher anknabbern!« In ihren Augen lag ein gieriges, wildes Glitzern, das Robert einen eiskalten Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ. Ein Raubtier, das sich genüsslich über die Fangzähne leckte.

      »Tu ihr nichts!«, sagte er schnell.

      Sie zog die Brauen zusammen. »Warum?«

      »Ich dachte, Catan wäre die Katze …«

      »Falsch gedacht.« Sie näherte die Hand ihrem Mund, und die Maus quietschte in Panik auf.

      »Nein!«, rief Robert und hielt ihren Arm fest. »Sie … das ist doch ein ganz harmloses und sehr niedliches Wesen. Lass sie laufen, bitte!«

      Anne war nun deutlich ungehalten. »In unserer Wohnung? Ausgeschlossen. Lasse ich sie im Treppenhaus frei, findet sie wieder ein Schlupfloch zu uns. Lasse ich sie auf der Straße frei, erfriert sie. Dann erklär mir, was mit der Maus geschehen soll, ohne ihr zu schaden!«

      Robert sah ein, dass sie recht hatte. »Tut mir leid, kleine Maus«, murmelte er und wandte sich ab. Kurz darauf hörte er das Klappen der Wohnungstür, Anne und die Maus waren verschwunden. Erleichtert atmete er auf.

      Eine halbe Stunde später war sie zurück. »Ich weiß gar nicht, warum ich das alles mache!«, bemerkte sie. Unsicher sah er sie an, er konnte ihrem Tonfall nicht entnehmen, ob sie wütend war.


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