Elfenzeit 8: Lyonesse. Uschi Zietsch

Elfenzeit 8: Lyonesse - Uschi Zietsch


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hob leicht die Schultern. »Das ist schwer zu erklären. Es gibt viele Gründe – und keinen. Zumindest keinen rationalen, den man analysieren kann. Mein Herz hat so entschieden, und dann ist es eben so. Nicht zu ändern.«

      »Das ergibt doch keinen Sinn.«

      »Die Liebe ist ihr eigener Sinn, Anne.«

      »Aber was empfinde ich wohl für dich nach dieser langen Zeit?«, sagte sie nachdenklich.

      »Immerhin schon ein Fortschritt, dass du es überhaupt zugibst«, schmunzelte er.

      »Nachdem ich den Schritt getan habe, stand das außer Frage.« Sie blieb ernst. »Und nun bemerke ich weitreichende Veränderungen an mir, die mich beunruhigen. Sie sollten mir missfallen, aber dem ist nicht so. Das verwirrt mich am meisten und das muss ich erst … ergründen.«

      »Und warum kannst du es nicht einfach geschehen lassen?«

      »Einfach so?« Sie klang schockiert.

      Er nickte. »Schau, du lebst schon so lange, Anne. Du hast alles, was möglich ist, mehrmals erlebt – aber das hier noch nicht. Das ist einmalig, so wie es die Liebe eben auch ist. Wie wär’s, wenn du es zulässt und dadurch herausfindest, wohin es führt? Es könnte sogar Spaß machen.«

      Anne hob die Brauen. Dann zuckte ein Lächeln in ihren Mundwinkeln. »Du hast zu viel von mir gelernt. Ich sollte dich verlassen und Toms Muse werden.«

      »Von dem lass die Finger! Außerdem ist er nicht an Frauen interessiert.«

      »Na und? Ich bin eine elfische Dämonin. Denkst du, das wäre mein erstes Mal?«

      Robert nahm ihren Arm, hakte ihn bei sich unter und schlenderte mit Anne weiter. In diesem Moment hörte der Schneefall auf, die Wolkendecke riss auf und schickte einen gleißenden Sonnenstrahl durch die klare, kalte Luft.

      »Wenn das kein Zeichen ist!«, bemerkte er lachend.

      »Unheilbarer Romantiker«, versetzte sie und stieß ihn leicht in die Seite. »Lass uns zum Stachus gehen und die Lage sondieren, bevor wir uns heute Nacht an die Arbeit machen.«

      *

      Die Sonne ging schon früh unter in diesen Tagen. Die Kälte biss zu, sobald es anfing zu dunkeln, und die Leute drängelten sich an den Glühweinständen. Dick eingepackte Straßenmusikanten aus Ecuador spielten Weihnachtslieder mit Quechua-Flöten, und sogar ein Maroniverkäufer hatte sich eingefunden, neben dem Stand mit den gebrannten Mandeln und Magenbrot. Überall brannte festliche Beleuchtung, Weihnachtssterne, Kometen, Engel und mehr, umrankt von grünen Girlanden. Die Jäger der Weihnachtsgeschenke steckten ihre Reviere in den Kaufhäusern ab und feilschten um die besten Schnäppchen.

      Die Polizisten liefen möglichst unauffällig zu zweit Patrouille, sondierten unentwegt die dunklen Stellen oder hielten Ausschau nach verdächtig wirkenden Gestalten.

      Es herrschte friedliche Feierabendstimmung, obwohl es erst Spätnachmittag war und im Sommer um diese Uhrzeit jeder an den Badesee gefahren wäre. Vereinzelt stäubte Schnee vom Himmel und brachte die Luft zum Glitzern.

      Albert hasste und liebte diese Zeit am meisten. Er hasste sie, weil sie ihn zum Weinen brachte, wenn er sich zwangsläufig an die Vergangenheit erinnerte, als er noch einer von denen da gewesen war. Einer der geschäftig dahineilenden Familienväter, die sich beeilten, nach Hause zu kommen, nur vorher rasch eine Kleinigkeit besorgten. Damals hatte er die Penner genauso mitleidvoll angeschaut, wie er heute betrachtet wurde, und hatte gar nicht verstehen können, wie man so tief sinken konnte. Zu seinem Leidwesen musste er feststellen, dass das sogar sehr schnell gehen konnte und man nicht unbedingt Einfluss auf die Entwicklung hatte.

      Wie lange war das her? Nein, nein, nicht zählen. Dann musste er nur noch mehr weinen, und nichts war demütigender, als vor all denen da zu heulen. Sie sprachen einem auch so schon jegliche Würde ab.

      Aber immerhin, und das war der Grund, warum Albert diese Zeit liebte, waren sie zu Weihnachten freigiebiger und nachsichtiger. Die Beruhigung des schlechten Gewissens. Auch die Niedrigsten sollten es mal ein bisschen besser haben, und man hinterfragte nicht, wieso sie auf der Straße saßen und bettelten.

      Heute war ein recht guter Tag gewesen, stellte Albert fest. Da würde er sehr spät, wenn kaum mehr jemand da war, in den Frittenburger gehen und sich den Bauch vollschlagen. Kurz vor Betriebsschluss bekam er da oft noch einen Nachlass. In diesen Wochen gegen Jahresende musste Albert zwar oft frieren, aber nicht hungern. Da er nicht trank, was eine rühmliche Ausnahme war, wie er wusste, hatte er meistens etwas zu essen, und ab und zu durfte er in einem Geschäft die Mitarbeiterdusche benutzen und leistete sich den Waschsalon. Eine ordentliche Kleidung war das Wichtigste, das sagte Albert immer zu den anderen. Die meinten dann, dass er sich gefälligst schleichen solle, er, der antialkoholische besserwisserische Buchhalter, der sich für was Vornehmeres hielt und angenehmer riechen wolle, wo es auf der Straße doch immer gleich stank.

      Ab und zu wurde es eng, vor allem im Winter. Nicht nur, dass die guten Verstecke noch begrenzter waren und man auf der Hut sein musste, nicht von den Bullen aufgegriffen zu werden, man lief auch mehr Gefahr, den Jugendbanden in die Arme zu laufen. Wenn man Glück hatte, verlor man nur den Verdienst vom Tage. Viel öfter aber verlor man noch ein paar Zähne. Inzwischen gab es auch welche, die einen gar nicht ausrauben, sondern überhaupt nur zusammenschlagen wollten, dabei mit dem Handy filmten, um die Aufnahmen in den Social Medias zu verbreiten. Happy Slamming nannten sie das. Unter happy verstand Albert aber was anderes. Was das Slamming allerdings betraf, damit kannte er sich inzwischen recht gut aus.

      »Danke, vergelt’s Gott und fröhliche Weihnachten«, murmelte er höflich und kopfnickend, immer bemüht, dem Gebenden nicht in die Augen zu sehen. Der wäre dann peinlich berührt und würde das nie wieder tun. Als Penner hatte man genau zu wissen, wie man sich zu benehmen hatte, und musste sich bewusst sein, wo der eigene Stand war: flach auf dem Boden, unterhalb jeder nützlichen Kreatur.

      »Alles Gute«, sagte der Mann und gab ihm einen Schein, und Albert fielen fast die Augen aus dem Kopf. Sah er richtig, waren das wirklich fünfzig Euro?

      »V-verzeihung, aber Sie haben …«, stammelte er und hätte beinahe zu hoch geschaut. Er bremste gerade rechtzeitig vor der Augenhöhe und erkannte dabei, dass es ein gut gekleidetes Paar war, das Arm in Arm vor ihm stand. Von der Frau ging ein Duft aus, nach Sandelholz und Moschus und Rosen, der Albert fast den Verstand raubte.

      »Das ist in Ordnung«, unterbrach der Mann. Er hatte eine merkwürdige Ausstrahlung, die Albert ein wenig beunruhigte. »Gönnen Sie sich was.« Sie gingen weiter, und Albert wäre am liebsten jubelnd und mit dem Schein wedelnd die Fußgängerzone rauf und runter gerannt.

      Die Polizei kam schon wieder vorbei. »Alles in Ordnung?«, fragte die Gesetzeshüterin.

      Hatte er sich etwa töricht benommen und es nicht gemerkt? Kleiner Blackout? Still, still, er durfte nicht auffallen, sich nicht verraten …

      »Ja, danke«, antwortete Albert im gewohnt devoten, höflichen Tonfall und sah sie nicht an, hob den Blick nur halb. »Ich fühle mich sicher.«

      »Machen Sie bald Schluss«, riet der Kollege. »Wir dürfen Sie hier nicht sitzenlassen, das wissen Sie.«

      »Ich wollte sowieso gerade gehen«, versicherte Albert. »Es reicht heute sogar fürs Asyl.«

      »Schön. Gu… hmm … Abend.«

      Albert wartete, bis sie in der Menge verschwunden waren, dann stand er auf. Seit diese furchtbaren Morde geschehen waren, gab es mehr Kontrollen als früher, aber die Polizei war erstaunlich rücksichtsvoll. Sogar gesiezt hatten sie ihn. Als ob er ein Mensch wäre wie sie, was natürlich ein Trugschluss war. Wahrscheinlich hatten sie Angst, dass die Presse irgendwo lauerte und alles dokumentierte.

      Die meisten Obdachlosen hatten sich zum Hauptbahnhof zurückgezogen, wo heftige Kämpfe wegen des begrenzten Platzes stattfanden, aber dort fühlten sie sich trotzdem sicherer. Albert war geblieben.

      Wenn es denn sein sollte, dass ihm jemand ans Leder wollte, dann war es eben so, er sah das völlig fatalistisch. Er hatte sowieso


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