Gommer Sommer. Kaspar Wolfensberger

Gommer Sommer - Kaspar Wolfensberger


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Das müsste eigentlich jeder Gommer tun. Und die Auswärtigen erst recht.

      »Dann wohnen Sie im Goms?«

      »Ja, in Münster. Und Sie?«

      »Ich mache in Münster Ferien.«

      »Das freut mich«, sagte die Frau. »Hotel oder Ferienwohnung? Entschuldigen Sie, wenn ich so neugierig frage. Aber mir liegt es am Herzen, dass sich die Leute bei uns wohl fühlen.«

      »Arbeiten Sie für den Verkehrsverein?«

      »Sozusagen«, lachte die Frau.

      »Ich wohne in der Alpenrose. Aber übermorgen kann ich hoffentlich in den Speicher ziehen, den ich gemietet habe.«

      »Ach, Gott«, sagte die Frau. »Etwa in Wendelin Imfangs Speicher?!«

      Kauz brauchte nicht zu antworten, die Frau wusste, dass sie richtig kombiniert hatte. Kleine Welt, dachte Kauz.

      »Sein Tod macht uns alle traurig«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie haben trotzdem schöne Ferien. Ich steige direkt ab, aber wenn ich Ihnen einen anderen Rückweg empfehlen darf: Gehen Sie über Lärch. Dort hinunter, zur Kapelle, dann bei den baufälligen Ställen links abbiegen«, sagte sie und zeigte mit dem Arm die Richtung.

      Kauz bedankte sich und nahm den Weg über Lärch.

      Als er sich den halb verfallenen Ställen und Stadeln näherte, war der Hund plötzlich wieder da. Offenbar hatte er einen weiten Bogen um die Gasthausruine gemacht, vielleicht weil er merkte, dass Kauz dort nicht allein war. Kauz blieb wiederholt stehen und schickte den Hund mit strenger Stimme weg. Doch er ließ sich nicht mehr abschütteln. Zwar machte er jedes Mal zum Schein kehrt, doch kaum ging Kauz weiter, kam er wieder und folgte ihm im Abstand von zehn, zwanzig Metern, bis ins Tal.

      Bei seinem Motorrad angekommen, wurde es Kauz weh ums Herz: Der Hund schnüffelte mit Inbrunst am Motorrad und an den Satteltaschen, setzte sich, als Kauz sich den Helm überstülpte, vor ihm auf den Boden, wedelte mit dem Schwanz und guckte ihn, mit schräggelegtem Kopf, die Ohren gespitzt, erwartungsvoll an. Auf seiner Brust leuchtete ein kleiner weißer Fleck.

      Was soll ich bloß tun?, dachte Kauz.

      Er konnte den Hund unmöglich mitnehmen. Bestimmt gehörte er auf einen Hof im Oberen Goms, oder es gab einen Feriengast, der ihn vermisste und schon längst auf ihn wartete.

      Er tätschelte den Hundekopf und gab ihm einen Klaps auf den Hintern.

      »Geh nach Hause!«, sagte er halbherzig und schickte ihn mit einer Handbewegung weg. Dann kickte er seine alte BMW an, schwang sich in den Sattel und fuhr los. Es brach ihm fast das Herz, als er, über die Schulter zurückblickend, den Hund hinter dem Motorrad herrennen sah. Er rannte sich fast die Seele aus dem Leib. Kauz gab Gas.

      Wieder in der Alpenrose, musste er sich den Rest des Tages ausruhen. Die Wanderung dauerte laut Wegweiser zweieinhalb Stunden. Er hatte gut und gern dreieinhalb gebraucht. Den Gedanken an den Hund versuchte er zu verdrängen. Doch es gelang nicht: Was, wenn er vielleicht doch herrenlos war? Ausgesetzt oder einem Tierquäler entlaufen? Nun hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er das Tier gefüttert und dann seinem Schicksal überlassen hatte.

      Am frühen Abend machte er immerhin noch einen Spaziergang durch das Dorf. Er kehrte im Chäsgadä ein, vor welchem Das ganze Jahr Raclette angepriesen wurde. Raclette im Sommer?, fragte er sich. Wieso auch nicht? Er setzte sich an einen der drei kleinen Tische, holte sich eine Walliser Zeitung und bestellte eine Doppelportion, dazu einen Dreier Johannisberg. Er blätterte die Zeitung durch. In den Lokalnachrichten wurde über den Verkehrsunfall in Münster am Vortag berichtet. Es war von einem achtundvierzigjährigen Unfallopfer die Rede, das in Lebensgefahr schwebte. Die Polizei suchte Zeugen des Unfallhergangs und erhoffte sich Hinweise auf das Unfallfahrzeug. Eine Nachricht über den Tod von Wendelin Imfang stand erwartungsgemäß nicht in der Zeitung.

      Sonntag, 2. Juli

      Die alte Frau saß mit verweinten Augen auf der Eckbank hinter dem Esstisch, ein Taschentuch mit umhäkelten Rändern in der Hand. Ihr Mann saß hilflos neben ihr. Die beiden waren bestimmt über achtzig. Kauz war unsicher gewesen, ob er am Sonntag seinen Besuch machen dürfe. Aber Frau Imfang sagte, alle Verwandten und Bekannten seien schon da gewesen. Sie hatte ihn ohne Umstände hereingebeten.

      »Sie sind also der Herr Walpen aus Zürich«, stellte sie fest. »Das ist flott, dass Sie kommen. Äns flott. Wendel hat von Ihnen erzählt, wissen Sie. Er war stolz darauf, dass Sie Jahr für Jahr seinen Speicher mieten. Er hat sich darauf gefreut, dass Sie kommen.«

      »Ich habe mich auch auf ihn gefreut.«

      »Eben. Das wusste er. Und deshalb verstehen wir nicht …«

      Sie schluchzte stumm. Ihr Mann wischte sich mit dem rauen Handballen die Augen.

      »Hat er Sorgen gehabt?«, fragte Kauz.

      »Sicher«, antwortete die Frau. »Wer hat keine? Aber deswegen …« Wieder hielt sie inne.

      »Was für Sorgen?«

      »Geldsorgen, wie die meisten. Aber deswegen …« Sie verstummte und fuhr sich über die Augen.

      »Und sonst?«

      »Der Wolf«, sagte Vater Imfang. »Der machte ihm Sorgen. Es wurden Schafe gerissen, oben auf der Alp.«

      Seine Frau schüttelte unwillig den Kopf.

      Wendel hatte Ziegen, dachte Kauz, keine Schafe. Und die Ziegen würden sich wehren, hat er mir einmal erklärt. Schafe würden vom Wolf gerissen, nicht Ziegen. Doch dies war nicht der Moment, mit den alten Leuten darüber zu debattieren.

      »Wer schaut jetzt nach seinem Vieh?«, fragte Kauz.

      »Ein tüchtige junge Frau. Eine ganz liebe. Anna heißt sie. Aus dem Berneroberland, da hatte Wendel Glück. Die meisten Sennen kommen sonst aus dem Ausland. Sie und ihr Gehilfe machen alles, oben auf der Geissalp, auch den Käse. Nicht nur für Wendel, auch für andere Bauern. Sie hüten dort oben über hundert Ziegen.«

      »Und die Kühe?«

      »Die sind auch auf der Alp.«

      »Mit den Ziegen?«

      »Nein, auf der andern Seite. Auf dem Chämibodä«, sie zeigte auf die Morgenseite des Tals. »Dort arbeiten den Sommer über zwei Sennen. Die meisten Bauern aus unserem Dorf sömmern die Kühe dort oben.«

      »Und sonst?«, fragte Kauz weiter. Er konnte es einfach nicht lassen. Hatte er Feinde?, war er nahe daran zu fragen. Aber diese Polizistenfrage durfte er jetzt nicht stellen. »Gab es Leute, die ihm Schwierigkeiten machten? Oder Angst? Die ihn irgendwie bedrängten? So, dass er sich Sorgen machte?«

      »Und sich deswegen das Leben genommen hat, meinen Sie?«, fragte Wendels Mutter zurück. »Ich weiß, Sie sind Polizist. Hat Wendel gesagt. Deshalb fragen Sie so, nicht wahr?« Aber ohne eine Antwort auf ihre Frage abzuwarten, fuhr sie fort: »Bedrängt vielleicht. Aber Angst? Ich weiß nicht. Geschimpft hat er darüber, das schon.«

      »Worüber?«

      »Dass ihm einer den Speicher abluchsen wollte.«

      Kauz horchte auf.

      »Das war doch nicht böse gemeint«, schaltete sich der alte Imfang ein.

      »Wollte Wendel denn verkaufen?«

      »Eben nicht«, gab Frau Imfang zur Antwort. »Auf keinen Fall. Er hat immer gesagt, er wolle den Speicher behalten. Damit wolle er nichts zu tun haben, hat er gesagt.«

      »Womit?«

      »Mit dieser Überbauung.«

      »Ist ja nur ein Plan. Ein Projekt, sagen sie dazu«, fuhr der Alte dazwischen. »Mehr nicht. Geht uns eigentlich gar nichts an, Hermine.«

      Seine Frau sah ihn stumm an.

      »Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte sie nach einer Weile. »Er war am Donnerstagabend nicht


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