Gommer Sommer. Kaspar Wolfensberger

Gommer Sommer - Kaspar Wolfensberger


Скачать книгу
und all das, wissen Sie.«

      »Ich weiß. Hausgemacht, nicht wahr?«

      »Ja. Und eigener Alpkäse. Den hat er extra vom Chämibodä heruntergebracht. Er hat mir am Donnerstag aufgetragen, noch Roggenbrot, Trockenfleisch und Bier für Sie einzukaufen. Das hab ich gemacht und alles für ihn bereitgestellt.«

      Kauz stutzte. Roggenbrot und Trockenfleisch war nicht dabei gewesen.

      »Am Freitag in der Früh, wir waren noch im Bett, hat er die Sachen mitgenommen. Er hat am Vorabend gesagt, er würde vor dem Mähen im Speicher vorbeischauen, alles für Sie herrichten und den Schlüssel parat legen.«

      Wieder trocknete sie sich die Augen.

      »Er wartet auf uns«, sagte sie plötzlich.

      »Wie?«, entfuhr es Kauz.

      »Wendel ist in Brig aufgebahrt. Beim Bestatter. Wir könnten ihn dort sehen. Morgen, haben sie gesagt. Oder auch heute, obschon Sonntag ist, hat man uns gesagt. Aber …«

      Sie hob hilflos die Hände.

      »Ich komme mit, wenn Sie wollen«, sagte Kauz rasch. »Ich möchte ihn auch noch einmal sehen.«

      »Wirklich? Das wäre flott«, sagte Frau Imfang. »Äns flott«, wiederholte sie. »Valentin, der Sohn vom Nachbarhof, wissen Sie, hat angeboten, mit uns hinzufahren. Aber wir haben ihm gesagt, er soll lieber Wendels Wiesen mähen. Muss man doch, bei diesem Wetter. Damit ist uns mehr geholfen. Haben Sie ein Auto?«

      »Nein. Am besten, wir fahren mit der Bahn. Sollen wir morgen fahren? Oder heute noch?«

      »Lieber heute«, sagte Frau Imfang, mit einem Blick auf ihren Mann.

      Der Alte nickte.

      »Der Zug fährt immer zwanzig nach«, sagte sie. »Um zwanzig nach zwei, geht das?«

      Kauz blickte auf seine Uhr. Sie zeigte halb eins. »Gut. Wir treffen uns um Viertel nach zwei am Bahnhof.«

      Er ging ins Dorf zurück, dann in die Lange Gasse hinein. Der Speicher war noch immer mit einem rot-weißen Klebeband abgesperrt: Police stand darauf. Er ging weiter zur Alpenrose, legte sich aufs Bett und dachte nach.

      Um zwei Uhr stand er auf und ging zum Bahnhof.

      Der Zug fuhr pünktlich ein. Die zwei alten Leute sahen im Stehen noch kleiner aus als im Sitzen. Frau Imfang im schwarzen Kleid und Mantel, eine Handtasche am Arm und einen Regenschirm in der Hand, ihr Mann im Sonntagsanzug mit schwarzer Krawatte, einen speckigen, alten schwarzen Hut auf dem Kopf.

      Sie stiegen ein. Im Abteil setzten sie sich Kauz gegenüber. Sie schwiegen lange.

      »Alois«, hob die Frau unvermittelt an, als der Zug nach einem kurzen Halt in Niederwald wieder anfuhr.

      Kauz zuckte zusammen. Er hasste es, bei seinem Vornamen angesprochen zu werden. Er konnte ihn nicht ausstehen und hütete sich, ihn preiszugeben. Er stellte sich immer mit Kauz vor, wenn er nach seinem Vornamen gefragt wurde.

      Die Frau wandte den Kopf. Kauz realisierte, dass sie ihren Mann, nicht ihn, ansprach. »Alois, hast du die Adresse?«

      »Nein, aber ich weiß noch, wo es ist«, erwiderte der Alte. »Vom letzten Mal.«

      Frau Imfang seufzte.

      Vorsichtig erkundigte sich Kauz nach dem letzten Todesfall. Wendels ältere Schwester, die einzige Tochter des Paars, war vor zwölf Jahren ganz plötzlich erkrankt und nach wenigen Tagen im Spital von Brig gestorben.

      »Die Spitalärzte haben sich alle Mühe gegeben, aber sie haben einfach nicht herausfinden können, was sie hatte. Nur, dass es eine schwere Krankheit war. Sie waren drauf und dran, sie nach Bern oder Lausanne zu verlegen. Aber da war es schon zu spät.«

      Sie klang nicht einmal verbittert.

      »Das ist schlimm«, sagte Kauz. »Traurig. Tut mir leid.«

      »Gottes Wille«, sagten die beiden Alten, wie aus einem Mund.

      Antonia, so hatte Wendels Schwester geheißen, hatte vor ihrem Tod in Naters gelebt. Sie war mit einem Mann aus Brig verheiratet gewesen.

      »Hatte sie Kinder?«

      »Eine Tochter, Vanessa«, antwortete Frau Imfang knapp. »Aber die ist bald nach Antonias Tod ausgewandert. Nach Kanada. Wir haben sie nie mehr gesehen.«

      »Hatte Wendel auch einen Bruder?«

      Nein, weitere Geschwister gebe es nicht, lautete die Antwort. Es gebe noch die Schwägerin, aber die sei ein besonderer Fall. Und Vanessas Vater, ihren Schwiegersohn. Der wohne aber nicht mehr im Wallis. Und er zeige sich nie im Goms.

      »Dann gibt es kaum Angehörige. Eigentlich sind Sie ganz allein, nicht wahr?«, fragte Kauz.

      Beide nickten stumm.

      »Nur wir zwei«, bestätigte der alte Imfang. »Ganz allein sind wir aber nicht. Wir haben unseren Glauben.«

      Inschä Glöübä, das hatte Kauz im Goms schon oft gehört.

      *

      Im Bestattungsinstitut Kenzelmann wurde das Trio mit gedämpfter Höflichkeit empfangen. Die Eheleute bedankten sich bei Herrn Kenzelmann, dass er sich am Sonntag extra für sie Zeit nahm. Das sei doch selbstverständlich, meinte dieser und geleitete die drei in die kleine Aufbahrungshalle. Weiße Kerzen brannten. Wendel lag, in ein weißes Hemd gekleidet, im offenen, mit Damast ausgekleideten Sarg, die Augen scheinbar friedlich geschlossen, die Hände über einem Kruzifix auf der Brust gefaltet. Kauz staunte über die Kunst des Bestatters, das blau aufgedunsene Gesicht des Erhängten so herzurichten, dass er wie ein Schlafender aussah.

      Kenzelmann ließ die drei allein und Kauz zog sich in eine Ecke des Aufbahrungsraums zurück, um den Eltern am Sarg den Vortritt zu lassen. Wie er es erwartet hatte, näherten sie sich dem Leichnam ohne Scheu. Sich bekreuzigend und halblaut betend, stellten sie sich neben den Sarg. Lange standen sie so, dann streichelte die Mutter stumm die Wangen ihres Sohns und küsste ihn auf die Stirn, der Vater legte seine Hände auf die des Toten.

      Im Vorraum wartete Kenzelmann. Auf einem Tischchen lagen, in ein graues Tuch eingeschlagen, das er jetzt auseinanderfaltete, die persönlichen Sachen des Toten: Militärschuhe, Stallhose und -jacke, Mütze. Auf der Hose lagen in einer transparenten Plastiktüte Wendels Armbanduhr, sein Portemonnaie, ein zerknülltes Taschentuch, ein Ledergürtel, ein Schlüsselbund und ein einzelner, größerer Schlüssel.

      »Das ist der Speicherschlüssel«, stellte Frau Imfang fest. »Nehmen Sie den«, sagte sie, griff in die Tüte, nahm den Schlüssel heraus und streckte ihn Kauz hin. »Den zweiten haben wir bei uns zu Hause.«

      Kauz nahm den Schlussel und steckte ihn ein.

      Die Militärschuhe standen auf einem weißen Plastiksack, wie er in Hotels für gebrauchte Wäsche bereitliegt, die man gewaschen haben will.

      »Was ist da drin?«, fragte Frau Imfang und nahm den Plastiksack in die Hand.

      »Das sind nur …«, sagte Kenzelmann und wollte sie diskret davon abbringen, den Inhalt hier und jetzt zu sichten.

      Frau Imfang ließ sich nicht abhalten, sie nahm den Sack und leerte den Inhalt auf die Stalljacke: gebrauchte Unterwäsche, Socken, Hemd. Wendels in ein Plastikbehältnis verpacktes Gebiss. Und, wiederum in einem transparenten, jedoch verschweißten Plastiksack: ein zerschnittener Kälberstrick, das eine wie das andere Ende zu einer Schlaufe verknotet.

      Kauz erschrak.

      Das gibts doch nicht!, dachte er. Den Strick, an dem er gehangen hatte, zu den persönlichen Sachen zu legen! Was haben sich die Leute bloß dabei gedacht?

      »Entschuldigen Sie«, stammelte Kenzelmann und versuchte, den Strick unauffällig beiseitezulegen. »Das hätte nicht passieren dürfen. Das war ein Fehler.«

      Doch der alte Imfang hatte die Plastiktüte schon in der Hand und sah sich den Strick an.

      »Ja«,


Скачать книгу