Ein Lord wie kein anderer. Inka Loreen Minden
jetzt ans Aufgeben denken? Nun bist du schon einmal hier – was hast du zu verlieren?
Das stimmte. Außerdem war Emily neugierig, wie Daniel jetzt aussah. Ob er sich stark verändert hatte?
Möglichst unauffällig spähte sie über den Rand ihrer Tasse, um die anderen Frauen zu beobachten und vielleicht etwas über sie zu erfahren. Natürlich konnte sie in keine hineinsehen, und deren Kleidung verriet auch nicht viel über ihre Kompetenzen. Fast alle wirkten so, als wären sie der bevorstehenden Aufgabe gewachsen – bis auf ein Mädchen, das Emily auf keine fünfzehn Jahre schätzte. Nervös knabberte sie an ihren Fingernägeln und zog geräuschvoll ihre triefende Nase hoch, was ihr von den anderen Anwesenden empörte Blicke einbrachte.
Emily wog ihre Optionen ab. Sie besaß Manieren und hatte eine gute Ausbildung genossen – beziehungsweise hatten ihre Eltern, Gott habe sie selig, keine Kosten bei ihren Hauslehrern gescheut. Zudem war sie die Tochter eines Baronets. Zwar ohne Titel – wenn sie ihre kleine Schwindelei durchzog –, aber sie stammte aus gutbürgerlichem Hause. Außerdem hatte sie bisher Claires Kindermädchen bei der Versorgung der Zwillinge unterstützt. Sie konnte Windeln wechseln, wusste, wie man ein Baby oder Kleinkind beruhigte und welche Tees bei Fieber oder Bauchschmerzen halfen. In den letzten drei Jahren hatte sie viel gelernt. Hoffentlich waren das gute Voraussetzungen, die Stelle zu bekommen. Ihre Trauerzeit war auch vorbei, weshalb sie keinen schwarzen Stoff mehr tragen musste und nicht länger aussah wie der Tod. Claire hatte ihr einige ihrer älteren Kleider geschenkt, und Emily hatte sie selbst etwas enger genäht. Ja, sie fand, sie wirkte darin sehr anständig und vertrauenerweckend, aber leider unterschied sie sich auch kaum von den meisten anderen Frauen. Daniel würde sie wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Oder suchte er womöglich gar nicht persönlich das neue Kindermädchen aus? Schließlich war er ein Adliger – ein Peer.
Hätte Emily ein eigenes Kind und wäre reich, würde sie sehr wohl selbst bestimmen wollen, wer ihr Baby von nun an versorgen, in den Armen halten, streicheln würde … Sie schluckte hart bei dem Gedanken, nie ein eigenes Kind bekommen zu können, und versuchte sich lieber eine Strategie zurechtzulegen, um diesen Kampf zu gewinnen. Früher hätte sie auch nicht einfach aufgegeben. Doch als sich die Tür öffnete und der Butler die erste Bewerberin bat, mit ihm zu kommen, konnte sie sich kaum noch konzentrieren. Außerdem schien es Ewigkeiten zu dauern, bis er die nächste aus dem Salon führte, und bei jedem Mal dachte Emily, der Angestellte würde nun den Rest von ihnen nach Hause schicken, weil das perfekte Kindermädchen längst gefunden war. Sie hoffte, dass sich Daniel erst einmal alle der Reihe nach anschaute, bevor er sich entschied.
Die Minuten zogen sich ins Endlose, und auch die Zeiger der alten Standuhr, die in einer Ecke lautstark vor sich hintickte, schienen immer langsamer zu wandern.
Zwei Stunden später, als sie ganz allein auf dem Sofa saß und das Warten kaum noch aushielt, holte der alte Butler auch sie endlich. Sie folgte ihm die marmornen Stufen mit der bronzenen Balustrade nach oben in den ersten Stock. Weiche Teppiche dämpften ihre Schritte, als sie durch einen dunklen Flur schritten, in dem Portraits hingen. Emily erkannte die Gesichter von Daniels Eltern und auch ihn selbst als jungen Mann. Auf dem Bild wirkte er unglaublich ernst und beinahe ein wenig gelangweilt. Sein dunkles Haar war akkurat gekämmt und seine Kleidung saß perfekt.
Sie verkniff sich ein Grinsen, denn ganz bestimmt hatte er sich gelangweilt, als er so viele Stunden lang vor dem Maler stillsitzen musste. Während der Butler an eine Tür klopfte und sie ankündigte, verging ihr das Lächeln jedoch sofort wieder, als ein Mann von innen rief: »Nur herein, Smithers!« Nun wurde es ernst.
Ihre Knie zitterten, während sie eintrat, und sie krallte die Finger in den kleinen Stoffbeutel, in dem sich etwas Geld, das sie sich mit Nähen verdient hatte, die alte Uhr ihres Vaters und ein Taschentuch befanden. Die Sonne schien durch zwei hohe Fenster und Staub glitzerte in dem goldenen Licht. Kurz kniff Emily die Lider zusammen, weil sie ein Lichtstrahl im Gesicht traf, weshalb sie für einen Moment bloß völlige Schwärze wahrnahm. Das Arbeitszimmer war allerdings auch recht düster eingerichtet worden und die mahagonibraunen Möbel stammten gewiss noch von Daniels Vater. Es roch nach Tinte, Papier und Leder; in einem großen Regal an der Wand reihten sich viele dicke Bücher aneinander.
Emily ließ den Blick schweifen, und ihr stockte der Atem, als sie erkannte, wer hinter dem wuchtigen Schreibtisch saß. Daniel! Beinahe hätte sie seinen Namen ausgesprochen und wäre auf ihn zugelaufen, um ihn zu umarmen. Plötzlich wollte sie ihrem Freund aus Kindertagen erzählen, was sich in den letzten Jahren zugetragen hatte, aber sie besann sich gerade noch rechtzeitig. Bestimmt war er nicht länger der leicht rebellische Junge von damals. Er war jetzt fünfunddreißig Jahre alt – ein ernster und gewissenhafter Earl. Außerdem schien ihr gesamter Körper schlagartig gelähmt zu sein, bis auf ihr Herz, das donnerte wild in ihrer Brust.
Kurz sah er von seinen Papieren auf, in die er stirnrunzelnd vertieft war, und sagte: »Bitte setzen Sie sich, Mrs …« Er blickte erneut auf einen Zettel. »Rowland.«
Im Grunde dürfte sie sich »Viscountess« schimpfen oder »Lady Rowland«. Aber sie wollte weder mit ihrem verstorbenen Gatten noch mit seinem Titel etwas zu tun haben und die Vergangenheit nur noch hinter sich lassen, um ein neues Leben zu beginnen. Da sie bis zum Tod ihres Mannes einige Jahre auf dem Land gelebt hatte, hoffte Emily, dass Daniel der Name »Rowland« nicht geläufig sein würde.
Der Butler brachte sie noch bis zu dem gepolsterten Stuhl, der gut einen Meter vor dem Schreibtisch stand, sodass sie Daniel direkt gegenübersitzen würde.
»Einen schönen guten Tag, Lord Hastings«, murmelte sie, während sie Platz nahm, und konnte den Blick einfach nicht von Daniel nehmen. Immer noch starrte er in seine Papiere und machte sich mit einem modernen Füllfederhalter Notizen, weshalb eine dicke Locke in seine Stirn fiel. Wäre das nicht »ihr« Daniel, würde sie sich jetzt brennend für das außergewöhnliche, edle Schreibgerät interessieren, von dem sie schon viel Gutes gehört hatte. Daniel sah ausgezeichnet aus, besser als damals, nur dass er sie heute viel mehr fesselte als früher. Waren seine Wimpern schon immer so lang und dicht gewesen? Und seine Wangenknochen so hoch? Die Lippen so wundervoll geschwungen?
Da der Butler den Raum längst verlassen hatte, erlaubte sie sich, Daniel weiterhin zu mustern, solange er abgelenkt war. In seinem dunklen Haar zeigten sich erste graue Strähnen und in seinen Augenwinkeln ein paar Fältchen. Das ließ ihn bloß noch männlicher wirken.
Seine Finger waren lang und schlank, die Nägel gepflegt. Wenige Härchen wuchsen auf seinem Handrücken, doch mehr Haut bekam sie leider nicht zu sehen. Wie es sich für einen Mann seines Ranges gehörte, trug er ein Krawattentuch, eine dünne Jacke aus einem feinen, dunkelgrünen Stoff, darunter eine schwarze Weste … alles perfekt auf seine breiten Schultern zugeschnitten.
Daniel legte den Federhalter zur Seite und blickte ihr direkt in die Augen. »Sie sind also wegen der ausgeschriebenen Stelle als Kindermädchen hier, Mrs Rowland?«
Sie setzte sich kerzengerade hin und versuchte, ihn nicht anzustarren, schließlich gehörte sich das nicht. »So ist es, Mylord.« Sie wunderte sich, wie ruhig ihre Stimme klang, denn durch ihren Körper schien ein Wirbelwind zu fegen. Außerdem wurde ihr heiß und kalt. Was, wenn Daniel sie erkannte?
Zum Glück hatte sie sich sehr verändert und sie waren sich, nachdem Daniels Eltern zurück in diese Villa gezogen waren, nie wieder über den Weg gelaufen. Bestimmt hatte er sie längst vergessen. Doch das war gut. Besser, er wusste nicht, wer sie war. Das würde für Emily vieles einfacher machen. Sie wollte ein professionelles Arbeitsverhältnis und vor allem Distanz bewahren.
»Sie sind verheiratet?«, fragte er als Nächstes.
»Seit ein paar Jahren Witwe.«
Sein Blick ruhte etwas länger als gewöhnlich auf ihr. »Mein Beileid.«
»Danke, Mylord.« Hastig senkte sie den Kopf, und Übelkeit explodierte in ihrem Magen. Gerade rechtzeitig bemerkte sie, dass sie die Finger in ihren Stoffbeutel krallte, und entspannte sie schnell wieder.
Was, wenn er sie über ihren Mann ausfragte? Oder Papiere von ihr verlangte?
Sie wollte diese auf keinen Fall vorzeigen und so ihre