Ein Lord wie kein anderer. Inka Loreen Minden
es tat ihr schon genug weh, ihren alten Freund anzulügen. Wobei sie bis jetzt nicht direkt gelogen hatte, bloß ein paar Fakten verschwiegen.
Zum Glück schien er sie nicht zu erkennen. Von ihrer Mutter hatte sie erfahren, was sich in seinem Leben nach dem Auszug aus dem Stadthaus getan hatte: Mit jungen fünfundzwanzig Jahren hatte er die zweite Tochter eines Marquise geheiratet und war mit ihr hierher gezogen, nach Mayfair, dem exklusivsten Londoner Stadtteil. Zuerst in ein eigenes kleines Haus, später, nach dem Tod seiner Eltern, in diese Villa.
Die restlichen Neuigkeiten hatte ihr Claire erzählt, nachdem Emily bei ihr Unterschlupf gefunden hatte: Lange waren Daniel und seine Frau Imogen kinderlos geblieben, und erst letztes Jahr hatte sie ihm eine Tochter geschenkt: Sophia. Doch das Schicksal hatte Imogen Appleton nur wenige Tage nach der Geburt aus dem Leben gerissen. Als Emily die Todesanzeige in der Zeitung gelesen hatte, wäre sie am liebsten sofort zu Daniel geeilt, um ihn zu trösten. Seine Eltern waren tot, genau wie ihre, und er hatte keine Geschwister. Wie allein musste er sich gefühlt haben … Sie hatten einiges gemeinsam.
Er war mit seiner Frau neun Jahre verheiratet gewesen, Emily mit Edward sieben. Sieben unendlich lange Jahre. Sicher war es Lady Hastings nicht so schlimm ergangen wie ihr, oder?
Man konnte leider in niemanden hineinblicken. Weder Emily noch ihre Eltern hatten Edwards wahren Charakter zu sehen bekommen, zumindest nicht, bevor der Mistkerl alles an sich gerissen hatte …
Als Daniel sie stirnrunzelnd musterte, ihren Nachnamen murmelte und plötzlich aufstand, wäre Emily fast aufgesprungen. Er schlenderte auf ein Tischchen zu, das neben dem kalten Kamin stand, und goss sich aus einer Karaffe eine goldbraune Flüssigkeit in ein Glas – vermutlich Brandy.
Emilys Atem stockte, als er mit dem Getränk in der Hand zwischen ihr und seinem Tisch hindurchschritt und zum Fenster ging. Daniel war deutlich größer als damals und besaß vor allem viel mehr Muskeln, dafür fehlte der Bauchansatz, den viele Männer in seinem Alter vor sich hertrugen. Vor allem seine breiten Schultern beeindruckten Emily. Und er roch so gut! Nach Sandelholzseife und seinem eigenen, männlichen Duft.
Ihr Herzschlag flatterte, als er das Glas an seine Lippen setzte und etwas Brandy nippte.
Edward hätte den Drink längst gierig hinuntergestürzt und sich einen weiteren eingeschenkt.
Endlose Sekunden lang richtete Daniel den Blick aus dem Fenster, als würde er nicht nur dem Geschmack des Alkohols auf seiner Zunge nachschmecken, sondern angestrengt über etwas nachdenken.
Als er ihr direkt das Gesicht zuwandte, schien sich sein intensiver Blick wie Nadeln in sie zu bohren.
Emily zuckte leicht zusammen.
Hatte er sie erkannt? Oder sah er ihr an, was sie getan hatte? Überlegte er, solch eine Frau wie sie niemals in die Nähe seiner Tochter zu lassen?
Emily schluckte hart und versuchte, sich möglichst normal zu verhalten. Deshalb schenkte sie Daniel ein zittriges Lächeln, aber viel lieber hätte sie jetzt geweint. Doch sie hatte gelernt, ihre Tränen zu verbergen, genau wie sie ihre düstere Vergangenheit so gut sie konnte vor allen versteckte, damit die Wahrheit niemals ans Licht kam. Nicht einmal ihre Freundin wusste, was ihr alles zugestoßen war und was … für ein Verbrechen sie begangen hatte.
Er kann es unmöglich erahnen, beruhigte sie sich. Selbst dem Arzt, der den Tod ihres Mannes festgestellt hatte, war nichts Verdächtiges aufgefallen.
Daniel schlenderte zurück und blieb genau zwischen ihr und dem Schreibtisch stehen. Er stellte das Brandyglas darauf ab, wandte sich ihr zu und lehnte sich lässig gegen die Platte. Schließlich stützte er die Hände hinter sich ab, sodass sich der Stoff seiner Weste über seinen leicht gewölbten Brustmuskeln spannte.
Himmel, woher hatte er all diese Muskeln?
Emilys Mund wurde ganz trocken, ihr Herzschlag trommelte hart gegen ihre Rippen. Was hatte er nur vor? So verhielt sich kein Adliger!
Während er sie intensiv musterte und ihr nichts anderes übrig blieb, als seine große Gestalt zu bewundern, die sich viel zu dicht vor ihr befand, hob sich plötzlich einer seiner Mundwinkel. Zusätzlich stahl sich ein Funkeln in seine grauen Augen. Auf einmal sah er nicht mehr wie ein Lord aus, sondern wie ein Pirat!
In ihm steckte wohl immer noch ein Rebell, denn ein Mitglied des Hochadels sollte stets Contenance bewahren!
»Sind wir uns schon einmal begegnet?«, fragte er, wobei seine Stimme schlagartig dunkler klang.
In ihrem Magen prickelte es, als hätte sie Schaumwein getrunken, und sie wollte Daniel nur noch auf diese sinnlichen Lippen küssen, die er fast schon spöttisch verzog.
Er stand kurz davor, sich an sie zu erinnern, falls er das nicht längst hatte. Spielte er nun mit ihr?
Sie sollte ihm auf der Stelle gestehen, wer sie war, doch ihre Zunge schien gelähmt zu sein. Anlügen konnte sie ihn aber auch nicht länger! Nicht ihren Daniel … Deshalb starrte sie ihn einfach nur an und presste die Kiefer aufeinander. Mist, was jetzt? Gehen und Claires Angebot annehmen, in Zukunft die Gouvernante ihrer Zwillinge zu werden?
Anstatt die Flucht ergreifen zu wollen, dachte sie unentwegt daran, wie sich Daniels Lippen auf ihrem Mund anfühlen würden. Das, was sie gerade spürte, dieses Kribbeln in ihrem Magen und das sanfte Pochen zwischen ihren Schenkeln, hatte sie bisher bei keinem anderen Mann wahrgenommen. Ein Funken, der nie erloschen war, fraß sich durch ihren Körper und entzündete in rasanter Geschwindigkeit jede einzelne Zelle, bis ein Großbrand in ihr wütete. Sie hatte geglaubt, über Daniel und alle anderen Männer dieser Welt hinweg zu sein, schließlich war sie damals bloß ein kleines, verträumtes Mädchen gewesen! Aber die alten Gefühle flammten urplötzlich wieder auf und loderten höher denn je, als hätte nie ein halbes Leben zwischen ihnen gestanden.
Lauernd starrte er sie an wie eine Großkatze, die jede Sekunde über ihre Beute herfallen würde oder … wie ein Lüstling! Schlagartig blieb ihr die Luft weg und sie wurde sich bewusst, dass sie sich ganz allein mit einem großen, starken Mann in diesem Raum befand. Sie hätte nicht die geringste Chance gegen ihn! Nun raste ihr Herz aus Furcht so schnell und die warmen Gefühle in ihrem Magen wichen einem eisigen Stechen.
Allein …
Emily war jetzt keine Lady mehr, die eine Anstandsdame brauchte, sondern eine verwitwete, einfache Frau – eine Bedienstete! Es gab Herren, die nutzten ihre Stellung aus, um von ihrem Personal gewisse Gefälligkeiten zu fordern, oder sie würden denjenigen entlassen. Viele gingen auf diesen abartigen Handel ein, weil sie sonst auf der Straße landeten.
War Daniel vielleicht solch ein Mann? Einer, der seine Macht missbrauchte?
In ihrem Kopf drehte sich alles, als sie sich an die langen, einsamen Monate in Edwards Landhaus erinnerte. Ohne ihre Zofe Mary, ohne die Briefe an Claire und die Gartenarbeit wäre sie wohl durchgedreht. Emily war oft allein mit Edward und meist war keiner in der Nähe gewesen, der mitbekam, was er ihr antat … Hastig schüttelte sie die qualvollen Erinnerungen ab. Hier war sie nicht allein, Daniel besaß viele Angestellte.
Als er sich plötzlich straffte und hinter seinen Schreibtisch setzte, atmete sie auf. Nicht jeder Mann musste solch ein Widerling wie Edward sein. Daniel war ein Mann von Ehre!
Langsam kehrte sie zurück ins Hier und Jetzt. Was hatte sie sich zuvor bloß ausgemalt? Daniel würde weder über sie herfallen, noch sie jemals küssen. Außerdem durfte sie sich keine Chancen bei ihm ausrechnen, auch wenn sie beide verwitwet waren. Ihr Leben war nun einmal kein Märchen, sondern bittere Realität. Bestimmt hatte er nach dem Tod seiner Frau viele Verehrerinnen und sich bereits erneut verlobt, schließlich brauchte er einen männlichen Erben.
Er war ein Earl und sie ein Nichts, eine Frau ohne Rang und Namen, die ihm niemals ein Kind schenken konnte.
Emily, woher kommen denn plötzlich diese Gedanken?, schalt sie sich. Sie wollte nie wieder von einem Mann abhängig sein! Leider konnte sie ihre Gefühle für Daniel nicht abstellen.
Himmel, sie sollte gehen. Bräuchte sie das Geld nicht dringend, würde sie sofort umdrehen