Malmedy - Das Recht des Siegers. Will Berthold

Malmedy - Das Recht des Siegers - Will Berthold


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denkt Vera, ich muß Werner retten.

      Er ist unschuldig.

      Er darf nicht sterben.

      Ich allein bin sein einziger, winziger, letzter Ausweg.

      Wenn ich es bin …

      In der ersten Minute begreift der schlaksige Leutnant Henry F. Morris gar nichts. Er starrt auf die am Boden herumliegenden Schriftstücke, die aufgebrochenen Schränke, die umgestülpten Schubladen, die herausgerissenen Schreibtischfächer … die wahllos verstreuten Innereien seines Office. Der Assistent des Colonel Evans holt mechanisch eine Zigarette aus seinem Etui, setzt sich und überlegt.

      Gestern abend war er mit Vera verabredet. Aber das blonde, hübsche Mädchen versetzte ihn. Er begriff es widerwillig, ging in seine Stammkneipe und ließ sich mit Whisky vollaufen. Sein Wagen sprang nicht an, und er mußte zu Fuß nach Hause gehen. Er verschlief den Wecker und stand mit zwei Stunden Verspätung auf. Er erhob sich auf Raten, er betrachtete durch das Fenster den verschlafenen Morgen. Der Tag war müde und grau wie das Gesicht einer alternden Frau. Und der schlanke, gutgeratene Leutnant aus Texas hatte Kopfschmerzen.

      Und jetzt, in seinem Büro, erlebt Henry F. Morris erst die schlimmste Überraschung …

      Allmählich begreift er, was vorgefallen ist. Einbrecher! Er bückt sich, sammelt die Schriftstücke, ordnet sie. Er schüttelt seine Benommenheit ab, vergißt die Kopfschmerzen und erfaßt blitzschnell, auf was es die nächtlichen Besucher abgesehen hatten.

      Akten sind verschwunden.

      Genauer gesagt: Dossiers über den Fall Malmedy.

      Ganz genau gesagt: die Unterlagen über den deutschen Gefreiten Werner Eckstadt.

      Vera, denkt der Leutnant. Das steckt also dahinter. Zuerst verabredet sie sich mit ihm, um sicherzugehen, daß er sich nicht im Büro aufhielt. Während er auf sie wartete, drang sie oder gedungene Leute in das Office ein. In ihrer Verzweiflung ist ihr alles zuzutrauen! Und sie hat keine Geduld, obwohl sie weiß, daß sich Colonel Evans des Falles angenommen hat … angenommen hatte wenigstens, denn wenn der Oberst erfährt, was hier vorgefallen ist, wird er keine Lust mehr haben, die Sache weiter zu verfolgen.

      Verdrossen greift der Leutnant zum Hörer.

      „Ich habe ein schlechtes Gewissen“, sagt Vera. „Ich konnte Sie gestern nicht mehr erreichen. Ich hatte eine dringende Verabredung. Bitte, seien Sie nicht böse.“

      „Können Sie gleich hierherkommen?“

      „Gibt es etwas Neues?“

      „Kommen Sie, sobald es geht“, erwidert der Leutnant knapp.

      Vera schafft es in einer Viertelstunde. Der eilige Marsch hat ihr Gesicht gerötet. Sie sieht frisch aus. Ihre Augen sind klar und unbefangen. Sie trägt eine lange Flauschjacke zum dunkelgrauen, hautengen Rock. Sie wirkt natürlich wie immer. Nicht eine Spur verlegen.

      „Was war denn hier los?“ fragt sie verdutzt.

      „Setzen Sie sich“, erwidert der Leutnant. „Passen Sie auf, Vera“, fährt er fort, „ich will nicht lange um die Sache herumreden. Heute nacht ist hier eingebrochen worden. Die Täter haben ausgerechnet die Akten Ihres Bruders mitgenommen.“ Der Leutnant geht mit großen Schritten im Zimmer hin und her, bleibt stehen, betrachtet Vera ausgiebig.

      „Und nun habe ich eine Frage an Sie: Haben Sie … haben Sie mit der Geschichte etwas zu tun?“

      „Nein. Bestimmt nicht“, antwortet Vera fest.

      „Hören Sie zu, Vera. Ich könnte es vielleicht verstehen. Es wäre eine Dummheit gewesen. Aber die Sorge um Ihren Bruder … Ich muß es genau wissen. Verstehen Sie mich?“

      „Ja“, entgegnet das Mädchen, „das verstehe ich. Und ich sage Ihnen ganz genau, ich habe nichts mit dieser Geschichte zu tun.“

      „Wo waren Sie gestern?“

      „In einem Soldatenclub.“

      „Mit wem?“

      Vera zögert.

      „Mit wem waren Sie im Soldatenclub?“ fragt Leutnant Morris noch einmal.

      „Mit einem Amerikaner … Mit Leutnant Tebster von der CIC.“

      „Und deswegen haben Sie mich versetzt?“

      „Ich beginne es zu bereuen“, erwidert Vera. Sie lächelt, verzieht den Mund ein bißchen dabei, als ob sie sich über sich selbst lustig machen wollte.

      „Es hat nicht lang gedauert“, fährt sie fort. „Nun, machen Sie nicht auf böse, Henry. Es ging nur um meinen Bruder.“

      „Es geht immer nur um Ihren Bruder“, erwidert Morris kalt. „Wie heißt Ihr neuer Freund?“

      „Tebster.“

      Der Leutnant nimmt den Hörer, läßt sich mit der CIC verbinden und erreicht beim dritten Versuch den Offizier.

      Tebster verspricht, sofort zu kommen.

      „Werden Sie mich das nächste Mal wieder versetzen?“

      „Nein. Ich will es nicht endgültig mit Ihnen verderben“, entgegnet Vera.

      Sie berichtet, wie sie mitten auf der Straße in einen Wagen „gebeten“ und zur CIC gefahren wurde, daß sie dann im Gebäude des amerikanischen Geheimdienstes Tebster kennenlernte und ihre Chance gleich wahrnahm.

      „Ich habe auch eine Neuigkeit für Sie“, unterbricht sie Morris, „der Colonel ist heute nach Schwäbisch-Hall gefahren. Wenn er zurückkommt, hat er mit Ihrem Bruder bereits gesprochen.“

      In diesem Augenblick reißt Leutnant Tebster ungestüm die Tür auf. Er begrüßt Vera, betrachtet sich die Unordnung, schüttelt den Kopf.

      „Anfänger“, sagt er, „wenn die Burschen wieder aufgeräumt hätten, wären Sie vermutlich nicht gleich daraufgekommen, was fehlt. Stimmt’s?“

      „Natürlich“, erwidert Morris.

      „Haben Sie einen Verdacht?“

      „Den habe ich.“ Er deutet auf Vera. „Hier, unsere nette, junge Freundin.“

      „Nonsens“, entgegnet Tebster. „Oder haben Sie es getan?“ fragt er Vera.

      „Nein.“

      „Oder tun lassen?“

      „Nein.“

      Tebster zündet sich eine Zigarette an, läßt sich auf einen Stuhl fallen, schlägt die Beine übereinander.

      „Vera lügt nicht“, sagt er zu Morris.

      Morris nickt.

      „Na, ist ja alles in bester Ordnung. Ich werde mal bei meiner Dienststelle etwas Wirbel machen. Mal sehen, wer hier Akten klaut.“

      „Wer hat eigentlich Vera bei Ihnen angezeigt?“ fragt Morris.

      Der Leutnant zuckt mit den Schultern.

      „Anonym“, erwidert er dann. Über sein Gesicht streicht der Schatten des Ekels.

      „Anonym auch für Sie?“

      „Mal sehen“, antwortet der Leutnant.

      Die beiden jungen Offiziere haben in diesem Augenblick den gleichen Gedanken: wenn nun Amerikaner hinter der Sache stünden? Wenn eine bestimmte amerikanische Dienststelle Wert darauf legte, ein bestimmtes Schriftstück verschwinden zu lassen … ausgerechnet jetzt, da der Malmedy-Prozeß in wenigen Tagen anlaufen wird?

      „Was war denn eigentlich in den Akten?“ fragt Leutnant Tebster.

      „Geständnisse … das Übliche.“

      „Und sonst nichts?“

      „Doch. Ein Brief des Angeklagten an seine Schwester, der uns eigentlich erst auf die ganze Sache


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