Malmedy - Das Recht des Siegers. Will Berthold

Malmedy - Das Recht des Siegers - Will Berthold


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die Hand.

      „Sie sind ein schönes Mädchen“, sagt er, „und Ihr Bruder ist ein tapferer Bursche … Ich habe seinen Fall übernommen.“

      Ohne sich um die anderen zu kümmern, steigt der Colonel in seinen Wagen und fährt davon.

      Morris starrt ihm nach, schüttelt den Kopf, boxt Tebster in die Seite.

      „Träume ich?“ fragt er ihn.

      Der Captain des Wachpersonals kommt zurück.

      „Alles O.K.“, sagt er, „Sie können den Gefangenen sprechen.“

      Man führt die vier in einen Vernehmungsraum. Ein Posten bleibt vor der Türe stehen.

      Brigitte starrt auf die Türe. Ihre hellen Augen glänzen. Vera zerknüllt ein Taschentuch zwischen den Fingern. Tebster bearbeitet mit seinen weißen Zähnen einen Kaugummi. Morris läuft wie ein gefangenes Tier hin und her. Keiner spricht. Es ist still. Totenstill. Und es dauert lange. Viel zu lange. Man hört Kommandos auf den Gängen. Man hört den gedämpften Schritt der Gummistiefel. Irgendwo plärrt ein Radio. Der Posten vor der Türe erzählt einem Kameraden das Liebesabenteuer der vergangenen Nacht. Jedes Wort ist zu verstehen.

      Tebster sieht auf die Uhr, spuckt seinen Kaugummi aus, schiebt den nächsten in den Mund.

      Da, endlich geht die Türe auf …

      Werner Eckstadt sah nicht auf, als die rostige Zellentüre in den Angeln knarrte. Er saß auf seiner Pritsche und starrte auf den schmutzigen Fußboden. Er hörte nicht, was die Zelleninsassen sagten. Er sah auch nicht die langbeinigen häßlichen Spinnen, die an der Wand hochkrabbelten. Hinter seinen leeren Augen schaukelten die Gedanken, ungut und unfroh, drehten sich blitzschnell im Kreise und endeten wieder an der gleichen Stelle, die nur 200 Meter vom Gefängnis entfernt war: sie endeten unter dem Galgen, den gerade deutsche Arbeiter aufstellten.

      „Du mitkommen“, sagte der polnische Wachposten und stieß Werner an.

      Mechanisch stand Eckstadt auf und ging mit steifen Beinen neben dem Posten her. Er wußte noch nicht, welche Überraschung ihm bevorstand. Man sagte den Häftlingen nie, ob es zum Galgen ging oder nur in die Sprechzelle … die Gefangenen würden schon rechtzeitig merken, wohin der Weg führte …

      Der Posten verließ mit ihm den Block. Er lief rasch, und Werner blieb einen halben Schritt zurück. Der Pole drehte sich um und schrie:

      „Mach schnell, mach schnell!“

      Vor dem Gebäude übergab er Werner einem amerikanischen Sergeanten, den er noch nie gesehen hatte. Der blasse Gefangene atmete frische Luft, aber er spürte sie nicht. Er hatte den Kopf gesenkt. Die grauen Schlacken, der Bodenbelag von Dachau, knirschten unter den Gummistiefeln des Sergeanten. Sie passierten endlose Fluchten von Steinbaracken, gerieten von einem Sperrkreis in den anderen, und sie alle waren vom Symbol der Zeit umgeben: vom Stacheldraht.

      An den Durchlässen standen verdrossene MP-Posten oder geschäftige Polen in dunklen Uniformen. Je weiter sich Werner vom Mittelpunkt des Lagers entfernte, desto dichter wurde der Betrieb.

      Amerikanische Offiziere und Soldaten hasteten mit Akten unter dem Arm an ihm vorbei. Jeeps schossen auf den Barackenwegen hin und her, und in manchen saßen Frauen, junge und hübsche Frauen, und auch sie trugen Uniformen. Vor ihm knirschten die Bremsen eines Wagens. Ein Captain stieg aus und reichte seiner Begleiterin den Arm. Sie war jung, blond und groß, und an ihren Beinen sah Werner zum ersten Mal hauchdünne Nylons.

      Sie gingen weiter über einen Platz, dessen Seite durch eine verwitterte Bretterwand abgeschlossen war.

      „Arbeit macht frei“, stand in großen, verwaschenen Lettern auf der Wand. Die Amis hatten es gleich stehenlassen. Nur dem Hoheitsadler auf der anderen Seite des Platzes hatten sie den Kopf abgeschlagen und das Hakenkreuz aus den Krallen gerissen.

      Jetzt begegnete Werner zum erstenmal seit Monaten Zivilisten. An ihren armseligen Jöppchen und an ihren mageren Gesichtern erkannte er sie als Landsleute. Sie sahen weg, als er vorübergeführt wurde. Einer spuckte aus.

      Noch nie war der Weg zu einer Vernehmung so lang gewesen, mit jedem Schritt, den Werner ging, steigerte sich die Beklemmung, legte sich bleischwer auf seinen Brustkasten, schnürte ihn zusammen, bis ihm die Übelkeit vom Magen her hochkroch. Seine Augen hatten endlich Gelegenheit, etwas anderes zu sehen als graue Zellenwände, als Kameraden, die vielleicht abgefeimte Mörder waren. Aber der Blick fing sich wieder an den hölzernen Türmen mit den MG-Ständen und Scheinwerfern, die nur am Tage blind waren. Und Werner hörte, wie sich die Posten die Zeit mit Witzen, Flüchen und Weibergeschichten vertrieben.

      Hat sicher mit Colonel Evans zu tun, redete Werner sich ein, daß sie mich hier entlangführen, und einen Moment wich die Beklemmung. Dann war sie wieder da. Werner wußte selbst nicht, warum. Er hatte auf einmal die Empfindung, daß sich in Dachau nichts geändert hatte, daß aus einer riesigen Knochenmühle des Verbrechens eine ebenso große Garküche der Gerechtigkeit geworden war. Und Werner hatte einfach Angst, verkocht zu werden … trotz Colonel Evans, der ein Mann, ein Mensch, ein Gentleman war …

      Zu dem Sergeant stieß jetzt noch ein Leutnant. Werner betrat in ihrer Mitte eine abseits gelegene Baracke. Die Sonne fiel so schräg durch die Fenster, daß er ein paar Sekunden geblendet war, als man die Türe zu einem Zimmer aufgestoßen hatte.

      Dann sieht er vier Silhouetten: zwei Männer, zwei Frauen, hört eine Stimme, die wie in einem leichten Aufschrei ruft:

      „Werner!“

      „Vera“, sagt Werner leise, mechanisch. Er starrt seine Schwester an und begreift nichts. Und seine Gedanken lösen sich vom Verstand, jagen sich schnell, unsinnig und nutzlos. Vera, die Schwester, Vera neben einem Amerikaner, Vera in Nylons, Vera lächelnd, Vera mitleidig, Vera, Vera, Vera …

      Sein Blick tastet sich an ihr entlang. Allmählich bekommt das Bild auf seiner Netzhaut Farbe und Gestalt. Sein Gesicht verzerrt sich zu einem automatischen Lächeln. Er steht da, mittelgroß, schmächtig, hilflos, vom Licht geblendet, und hat Angst vor der Begegnung mit der Schwester, die er liebt.

      Und jetzt erst sieht er Brigitte.

      „Sie haben 15 Minuten Zeit“, sagt der Leutnant zu ihm. Seine Stimme ist kühl, teilnahmslos. Es ist der Tonfall, in dem Urteile verlesen werden.

      15 Minuten Zeit, denkt Werner, sieht Brigitte, sieht sie in weißer Schwesterntracht vor sich, fühlt die Wunde am Arm, merkt, wie seine Beine zittern, starrt und starrt, wischt sich mit der Hand über die Augen, will den kreisenden Nebel wegfegen. Brigitte … Vera … Brigitte … Vera … die Amerikaner. Alles schaukelt vor seinen Augen, verwebt sich, tanzt …

      Jemand schiebt ihm einen Stuhl in die zitternden Kniekehlen, Werner fällt krachend auf den Sitz.

      „Poor guy“, entfährt es dem jungen, schlaksigen Leutnant Tebster … „armer Kerl.“

      Leutnant Henry F. Morris sagt gar nichts. Zum erstenmal sieht er Werner, den Mandanten seines Chefs, den Bruder des Mädchens, in das er sich verliebt hat und deretwegen er sich Sprechkarten erschlich. Und er denkt automatisch: viel Lärm um nichts. So hat er sich den Bruder der strahlenden Vera nicht vorgestellt, überlegt er.

      „O Gott … Werner“, sagt Vera und geht mit ein paar schnellen Schritten auf ihn zu, weil sie fürchtet, daß er vom Stuhl sinkt. Sie will seine Hände nehmen.

      „No“, sagt der Leutnant des Wachkommandos am Fenster. „Das ist verboten!“

      Brigitte will etwas sagen, aber sie kann nicht. Ihre Lippen bewegen sich lautlos, ihre Augen glänzen, ihre Hände flattern.

      Die drei Worte des Leutnants genügen, um Werner zu sich zu bringen, um die Schwäche zerfließen zu lassen. Klare, kalte Bitterkeit setzt sich wieder in den Hirnzellen fest, das Blut pocht in den Schläfen. Er rappelt sich auf, lächelt dümmlich, seine Stimme ist brüchig:

      „Das ist aber eine … Überraschung.“

      Vera schluckt. Sie steht dicht vor ihrem Bruder. Sie möchte ihm um den Hals


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