Ausgewählte Erzählungen - Band 2. Bjørnstjerne Bjørnson

Ausgewählte Erzählungen - Band 2 - Bjørnstjerne Bjørnson


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nicht plötzlich aus Angst, daß er schon dicht hinter ihr sei, losgelassen hätte, statt ruhig weiterzuklettern. Als er sie aber festhielt, fing sie an zu kreischen. Gellend, ohrenbetäubend schrill und markerschütternd. Entsetzt ließ er sie los. Auf ihr Schreckenssignal strömten die Leute vor dem Plankenzaun zusammen. Sie hörte es und bekam sofort wieder Mut.

      „Lassen Sie mich los, oder ich sag das meiner Mutter!“ drohte sie und war ein einziges Feuer und Funkeln.

      Da kam ihm dieses Gesicht plötzlich bekannt vor, und er schrie: „Deine Mutter? Wer ist deine Mutter?“

      „Gunlaug vom Hang, Fisch-Gunlaug!“ erwiderte das Kind triumphierend, denn es sah, daß er Angst bekam. Kurzsichtig, wie er war, hatte er das Mädchen noch nie so genau zu Gesicht bekommen. Er war der einzige in der Stadt, der nicht wußte, wer sie war. Ja, er wußte nicht einmal, daß Gunlaug wieder in der Stadt war.

      Wie besessen schrie er: „Wie heißt du?“

      „Petra!“ schrie sie noch lauter.

      „Petra!“ wimmerte Pedro, drehte sich um und lief auf das Haus zu, als hätte er mit dem Teufel selber gesprochen. Weil sich aber der bleicheste Schrecken und der bleicheste Zorn gleichen, glaubte sie, er stürze hinein, um das Gewehr zu holen. Da packte sie die Angst, sie fühlte schon die Schrotladung in ihrem Hintern, und da in diesem Moment die Pforte von draußen aufgebrochen wurde, fegte sie wie das leibhaftige Entsetzen hinaus. Ihr schwarzes Haar flatterte hinter ihr her, die Augen sprühten Feuer. Der Hund, der ihr entgegenkam, machte kehrt und jagte ihr bellend nach. Und so fiel sie über die Mutter her, die gerade mit einer Schüssel voll Suppe aus der Küche kam. Und das Mädchen rein in die Suppe, und die Suppe auf den Boden und ein „Ach, zum Teufel noch mal!“ beiden hinterher.

      Doch noch in der Suppe liegend, brüllte sie: „Er will mich totschießen, Mutter, er will mich totschießen!“

      „Wer will dich totschießen, du Troll?“

      „Na, Pedro Ohlsen!“

      „Wer?“ schrie die Mutter.

      „Pedro Ohlsen, wir haben seine Äpfel geklaut.“ Sie wagte nie etwas anderes als die Wahrheit zu sagen.

      „Von wem redest du da, Kind?“

      „Von Pedro Ohlsen, er kommt mit einem großen Gewehr hinter mir her, er will mich totschießen!“

      „Pedro Ohlsen!“ stieß die Mutter schnaubend hervor und brach dann in Gelächter aus. Sie schien noch größer geworden zu sein. Petra fing an zu weinen und wollte weglaufen. Doch mit einem Satz war die Mutter über ihr und hielt sie fest. Die weißen Zähne blitzten raubtierartig. Sie packte Petra bei den Schultern und zog sie hoch: „Hast du gesagt, wer du bist?“

      „Ja, ja, ja, ja!“ Das Kind hob flehend die Hände.

      Da richtete sich die Mutter zu ihrer vollen Größe auf. „Also weiß er es nun! Was hat er gesagt?“

      „Er lief rein, um das Gewehr zu holen, er wollte mich totschießen.“

      „Der und dich totschießen!“ Sie lachte in wildem Hohn.

      Von Kopf bis Fuß mit Suppe beschmiert, hatte sich das Kind verschreckt in einen Winkel verkrochen und putzte sich weinend sauber, als die Mutter wieder zurückkam.

      „Wenn du dich je wieder unterstehst, zu ihm zu gehen“, sagte sie, packte Petra und schüttelte sie, „oder mit ihm zu reden oder ihm auch nur zuzuhören, dann gnade euch beiden Gott! Bestell ihm das von mir!“ fügte sie drohend hinzu, als das Kind nicht sofort antwortete.

      „Ja, ja, ja, ja!“

      „Bestell ihm das von mir!“ wiederholte sie, diesmal leise, und dabei nickte sie zu jedem Wort, und dann ging sie.

      Das Mädchen wusch sich, zog sich um und setzte sich in seinen Sonntagssachen auf die Treppe vorm Haus. Aber bei der Erinnerung an den ausgestandenen Schrecken mußte sie wieder schluchzen.

      „Weshalb weinst du, Kind?“ fragte da eine Stimme so freundlich, wie Petra noch keine gehört hatte.

      Sie sah auf. Vor ihr stand ein feingliedriger Mann mit Brille und schmalem Gesicht. Sie erhob sich sofort, denn das war Hans Ødegaard, ein junger Mann, vor dem sich alle in der Stadt erhoben.

      „Weshalb weinst du, Kind?“

      Sie blickte ihn an und erzählte, daß sie „mit noch ein paar Jungen“ Äpfel aus Pedro Ohlsens Garten mausen wollte. Aber dann seien Pedro und der Polizist gekommen und dann ... Ihr fiel ein, daß die Mutter das mit dem Totschießen wohl doch nicht so ernst genommen hatte, und deshalb wagte sie nicht, es zu erwähnen. Dafür gab sie jedoch einen langen Seufzer von sich.

      „Ist es möglich“, sagte er, „daß ein Kind in deinem Alter eine so große Sünde begehen kann?“

      Petra sah ihn an. Sie hatte zwar gewußt, daß das eine Sünde war, hatte es aber immer nur auf folgende Weise verkündet bekommen: „Du Satansbraten, du schwarzgelockter Teufel, du!“ Nun schämte sie sich plötzlich.

      „Warum gehst du nicht in die Schule und lernst die Gebote, die Gott uns gegeben hat, damit wir wissen, was gut und böse ist?“

      Sie strich an ihrem Kleid herum und antwortete, ihre Mutter wolle nicht, daß sie in die Schule gehe.

      „Da kannst du vielleicht nicht einmal lesen?“

      Doch, lesen könne sie.

      Er zog ein kleines Buch hervor und reichte es ihr. Sie schaute hinein, drehte es um und besah es sich von außen.

      „Solche feine Schrift kann ich nicht lesen“, sagte sie.

      Aber sie mußte lesen, mochte sie nun wollen oder nicht. Und mit einemmal machte sie einen ausgesprochen dümmlichen Eindruck: Mund und Augen waren wie tot, alle Gliedmaßen erschlafften.

      „G-o-t-t d-e-r H-e-r-r, Gott der Herr s-p-r-a-c-h, Gott der Herr sprach zu M-M ...“

      „Du meine Güte, du kannst ja noch nicht einmal lesen! Und das bei einem Kind von zehn, zwölf Jahren! Möchtest du denn nicht gern lesen lernen?“

      Schleppend brachte Petra schließlich hervor, daß sie es schon gern lernen wolle.

      „Dann komm mit, wir können sofort anfangen!“

      In Petra kam Bewegung, doch nur, um einen Blick ins Haus zu werfen.

      „Ja, sag deiner Mutter nur Bescheid“, meinte er.

      Die Mutter ging gerade vorbei, und als sie das Kind mit einem Fremden reden sah, trat sie auf die Steinstufen hinaus.

      „Er will mir das Lesen beibringen“, erklärte das Kind unschlüssig, die Augen auf die Mutter gerichtet.

      Die antwortete nicht, stemmte beide Arme in die Hüften und musterte Ødegaard.

      „Ihr Kind ist völlig unwissend“, sagte er. „Sie können es vor Gott und den Menschen nicht verantworten, es so heranwachsen zu lassen.“

      „Wer bist du denn“, fragte Gunlaug scharf.

      „Hans Ødegaard, der Sohn des Pfarrers.“

      Ihr Gesicht hellte sich ein wenig auf! Über ihn hatte sie nur Gutes gehört.

      Er fuhr fort: „Wenn ich hin und wieder einmal zu Hause gewesen bin, ist mir dieses Kind stets aufgefallen. Heute bin ich erneut aufmerksam geworden. Es darf sich nicht länger nur in bösen Dingen üben.“

      Der Gesichtsausdruck der Mutter sprach eine deutliche Sprache: „Was geht das dich an?“

      Trotzdem fragte er ruhig: „Sie soll doch etwas lernen?“

      „Nein!“

      Eine leichte Röte flog über sein Gesicht. „Weshalb nicht?“

      „Sind die, die was gelernt haben, vielleicht besser?“ Sie hatte nur eine Erfahrung gemacht, doch an der hielt sie fest.

      „Es


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