Anatomie der Katze. Poul Vad
Antwort erhielt sie erst viele Jahre später, in einer Seitenstraße des Kopenhagener Arbeiterviertels Nörrebro. Der Lumpensammler im zweiten Stock rechts des Hinterhauses von Nummer 24 lag völlig angezogen auf einem Bett, dessen dreckiges Laken die Farbe von brauner Schuhcreme hatte. Sein Gesicht war von der tauben und gequälten Menschenfeindlichkeit des Strafgefangenen gezeichnet, und nichts an seinem Ausdruck verriet, ob er ihre Anwesenheit billigte oder mißbilligte.
Sie fühlte sich dennoch wohl (sie hatte sich unaufgefordert auf die Kante eines Stuhls gesetzt), als sei sie sicher, daß sie einander verstehen würden. Außerdem war sie auf beklommene Weise glücklich beim Anblick der beiden Afghanen, die in einer Ecke des Zimmers auf einer alten Matratze lagen. Der Lumpensammler, Pinnaghel Jochumsen, beschrieb ihr sein Dasein. Es war voller Wechselfälle, Entbehrungen und Widerwärtigkeiten gewesen. Sein ganzes Leben über war er von Richtern verfolgt worden. Der Richterstand hatte von Anfang an ein Auge auf ihn geworfen. Er war der Sohn eines Richters. Die väterliche Ausübung des Richteramtes war überaus niederträchtig gewesen; er hatte nämlich immer alles in seiner Macht Liegende getan, um die Unschuldigen zu bestrafen und die Banditen laufen zu lassen. Um den Unschuldigen keine Fluchtmöglichkeit zu geben und sich selbst an den Sinn des hohen Amtes, das er innehatte, zu erinnern, hatte er vor den Fenstern seines Amtszimmers Gitter anbringen lassen. Da er aber mit Haut und Haar Richter war, Richter, wenn er arbeitete, Richter, wenn er ausspannte, Richter, wenn er aufwachte und wenn er schlief, hatte er auch die Fenster der hochherrschaftlichen Villa, die er bewohnte, vergittern lassen, und er saß dem Mittagstisch, um den sich die Familie versammelte, nicht vor, ohne Urteile zu fällen: Das Essen, das Wetter oder die russisch-französischen Verhandlungen erhielten ihr Urteil.
Als Dreizehnjähriger empfing Pinnaghel sein erstes Urteil, gefällt wurde es von seinem Vater. Er blieb der Schule so hartnäckig und konsequent fern, daß der Lehrer ihn aufgab. Als sich herausstellte, daß Pinnaghel seine gesamte Zeit in einem Hundezwinger verbrachte, erstattete die Schulbehörde Anzeige gegen ihn, und es half Pinnaghel nichts, daß er erklärte, er gehe in eine Hundeschule. Während der Verhandlung meinte der Staatsanwalt mit großem Nachdruck, Hundeschulen für Menschen seien in der dänischen Gesetzgebung ein unbekannter Begriff, und die wirklichen Motive des Angeklagten, die ihn dazu brächten, sich der Erfüllung der Schulpflicht zu entziehen, seien Faulheit, Widerspenstigkeit und allgemeiner bürgerlicher Ungehorsam. Der Verteidiger redete viel von Pinnaghels schwach entwickeltem Verstand und erklärte, streunende Köter, die nicht die gleiche standesgemäße Erziehung genossen hätten wie die gut getrimmten Hunde der Familie Jochumsen selbst, hätten einen nachteiligen Einfluß auf den leicht zu beeinflussenden Jungen gehabt. Die Verhöre des Richters verrieten Pinnaghel, daß dieser Mensch, den man seinen Vater nannte, nicht allein nichts begriff, sondern geradezu ein feindliches Prinzip verkörperte. Deshalb nahm er das Urteil mit bitterer Befriedigung entgegen. Er wurde zur Unterbringung in einem Internat verurteilt und bemerkte bei seiner Ankunft ohne Erstaunen die dekorativen, schmiedeeisernen Gitter, deren geschwungene und phantasievolle Formen die Fenster des Schlafsaals schmückten. Der Vorsitzende des Internatsvorstands war zufällig ein Richter, und als Pinnaghel zum zweitenmal dabei erwischt worden war, wie er im Schlafsaal vor den Augen aller Kameraden masturbierte, wurde er vor diesen Richter gebracht, in dessen forschendem Blick er die atavistische Angst seines Vaters wiederfand.
Nachdem man ihn in ein Arbeitslager für Gewaltverbrecher und unzurechnungsfähige Personen überführt hatte, war Pinnaghel bald imstande, sich die Strategie seines Lebens zurechtzulegen. Als Fünfzehnjähriger hatte sein Gesicht die charakteristischen Züge eines verstockten Delinquenten. Er mußte seinen Arsch für ein paar ausgewachsene Kerle hergeben, die ihn brüderlich miteinander teilten und eifersüchtig darüber wachten, daß kein anderer ihm nahe kam. Voller Staunen reiste er nach seiner Entlassung nach Deutschland, wo er als Streuner und Obdachloser verhaftet wurde. In seiner Zelle brütete er eine finstere und bittere Hoffnungslosigkeit aus, in der Nacht aber träumte er von singenden Hunden. Als die Gefängniswärter sein Frühstück brachten, waren sie entsetzt, als sie ihn auf allen vieren auf dem Zellenfußboden herumkriechen sahen. Aufgrund seines jugendlichen Alters wurde er nach Dänemark zurückgeschickt, wo ihn sein Vater, der Richter, in Empfang nahm. Als Pinnaghel die herrschaftliche Villa wiedersah, lächelte er: Beim Anblick ihrer vergitterten Fenster begriff er, daß der Richter dazu verurteilt war, sein ganzes Leben hinter Schloß und Riegel zu verbringen. Bis zu diesem Augenblick hatte Pinnaghel mehr oder weniger blind gehandelt, außerstande, es anders zu machen, doch auch ohne seine eigene Natur, ihre dumpfe und hartnäckige Eigensinnigkeit, oder die mystische Metaphysik der Gesellschaft, der Gefängnisse oder des Richterstandes zu begreifen. Nun aber gingen ihm die Zusammenhänge auf; es war, als würde sein fiebriges Gehirn in eiskaltes Wasser gesenkt, und während er zu überschlagen versuchte, wie viele Jahre ihm zur Durchführung seines Vorhabens bleiben würden, teilte er seinem Vater ruhig mit, daß er sich von jetzt an als für die Gesellschaft endgültig verloren betrachte; er habe nämlich beschlossen, sich der aufrührerischen Sprache der sprechenden Hunde zu widmen.
Der Richter, der sich gerade dazu entschlossen hatte, den Sohn in einem letzten verzweifelten Rettungsversuch zum Leben zu verurteilen, weigerte sich, Pinnaghels Erklärung anzuerkennen. Das nahm Pinnaghel leicht. Kein Urteil des Richters konnte ihn mehr erreichen, geschweige denn anfechten; obwohl es ihm gleichgültig geworden war, versuchte er seinem Vater zu erklären, weshalb es sich so verhielt.
Ich habe den Tod selbst in die Hand genommen, erläuterte er, ich habe ihn mir ganz und gar zu eigen gemacht. Diese Tat erkennt keine gesetzgebende Gewalt der Welt an oder, genauer: Keine gesetzgebende Gewalt kennt sie. Sie stellt eine so schwere Verweigerung dar, daß kein Gesetz sie zu erwähnen wagt, aus Furcht, sie könnte dadurch eine weitere Verbreitung finden. Als mir aufging, daß du der Eingesperrte bist und ich der Freie bin, da habe ich gleichzeitig begriffen, daß es sich auch in allen anderen Fragen so umgekehrt verhält.
In derselben Nacht, nachdem er das Haus seines Vaters verlassen hatte, wurde er – auf Befehl von höchster Stelle, hieß es – verhaftet, als er in Begleitung eines entlaufenen und polizeilich gesuchten Hundes die Frederiksbergallee hinunterspazierte, und verbrachte den Rest der Nacht zusammen mit einem vornehm gekleideten, jedoch betrunkenen Mann, der auf den Fußboden der Zelle kotzte. Pinnaghel litt an Angstanfällen, die Erstickungsgefühle verursachten, denn niemandem wird die Auszeichnung dieser Hellsichtigkeit zuteil, ohne daß sie ihm durch Mark und Bein geht. Am nächsten Morgen starrte er sehnsüchtig auf die Beamten, mit dem Ausdruck eines verlorenen Hundes, und folgte mit den Augen der geringsten Bewegung, während sie Kaffee tranken, ihn verhörten und Berichte schrieben. Später am Tag wurde er mit der Begründung des Landes verwiesen, sein Umgang mit den Hunden belästige die Hundebesitzer; kaum aber hatte er die Grenze nach Deutschland überschritten, so wurde er erneut verhaftet und erhielt diesmal eine strengere Strafe, weil er zurückgekehrt war, nachdem man ihn bereits einmal dieses Landes verwiesen hatte. Damit begann sein Dasein in der Verbannung, das ihm gestattete, nicht allein viele Länder, sondern auch viele Gefängnisse dieser vielen Länder zu sehen und viele der zahlreichen Richter dieser vielen Länder, und alle erinnerten sie ihn – in einem oder mehreren Punkten – an seinen Vater.
Während er sich durch die Unterwelten und Armenviertel der Großstädte gekämpft hatte, durch Schmutz, Niedertracht und Hoffnungslosigkeit; durch das Elend der Prostitution, durch Hunderte von unbeseelten Liebesnächten, die in seiner Erinnerung blieben und ihn immer weiter mit magischem Licht bestrahlten; durch die Verwünschungen der Einzelzellen und die fürchterlichen Hierarchien der Gefangenenlager, hatte er entschlossen und geduldig sein Gehör trainiert, hatte sich nicht eine einzige Gelegenheit entgehen lassen, in den verschiedenen Ländern, durch die er hindurchkam, der Sprache der Hunde zu lauschen, und war unweigerlich ziemlich vielen Gleichgesinnten begegnet, mit denen er seine Erfahrungen austauschte.
Pinnaghel Jochumsen berichtete das alles mit einer gewissen mürrischen Arroganz. Nun war seit seiner Heimkehr nach Dänemark schon eine Reihe von Jahren verstrichen. Er beklagte sich nicht. Einzig eine zunehmende Schlaflosigkeit quälte ihn. Die Angstanfälle waren selten geworden, dafür aber schloß er jede Nacht nur für zwei bis drei Stunden die Augen. Möglicherweise sei er damit ja billig davongekommen, erklärte er.
Was er damit meine? wollte Maria Elisabeth wissen.
Damit meine er, daß man, wenn man erst einmal von dem Gedanken