Anatomie der Katze. Poul Vad
daß sich diese Idee anderen unmöglich so würde erklären lassen, daß sie auch nur den geringsten Anschein von Wahrscheinlichkeit oder Räson erhielt, lachte sie laut auf, was den Bouquinisten zusammenzucken und ihr erschrockene und mißtrauische Blicke zuwerfen ließ. Vielleicht auch war das der Grund, weshalb er sich weigerte, ihr den Kupferstich zu verkaufen, als sie nach dem Preis fragte.
Am nächsten Tag aber saß sie in der »Bibliothèque Nationale«, und als sie nach ausdauernder Suche und nachdem sie mit ihrer lächelnden Beharrlichkeit mehrere Bibliothekare an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte, mit dem begehrten Buch in der Hand dasaß, schüttelte sie den Kopf. Maria Elisabeth, sagte sie zu sich, wenn du sie wirklich alle beisammen hast, wie kannst du dich dann in diesen Wahnsinn stürzen? Sie öffnete das Buch und las auf dem Titelblatt: L’Histoire Véritable et Pitoyable du Chevalier Stéphane de Crâne, Grand Maître des Chiens Parlants. De ses Voyages, de son Art, de ses Amours, et de sa Mort, d’après ses propres Renseignements racontée, distillée et manigancée par Dame Cinique-Blanche de Taisévouze.
Sie schlug das Avant-Propos auf, das das Buch einleitete, und begann zu lesen:
Wenn ich nun in meinem hohen Alter die Feder ergreife, um zurückzuschauen, und insbesondere, um von der obskuren Person zu berichten, deren Lebensweg den meinigen kreuzte und die bestimmt nicht ohne Einfluß auf mich blieb, so will ich doch zunächst meine Gedanken und die Aufmerksamkeit des geneigten Lesers auf meinen Gatten, den Marquis de Valeur, lenken. Dieser treffliche und tätige Mann war ein herzensgutes Gemüt und vorbildlich, wenn es darum ging, seine Geistesgaben bis zum äußersten einzusetzen. Sind sich die Weisen nicht von alters her in einer Sache einig, nämlich, daß die Voraussetzung der Weisheit die Fähigkeit zum Staunen ist? Diese kostbare Fähigkeit besaß er in reichem Maße, und ich glaube, daß mein Lebenswandel zuweilen, ja, vielleicht ziemlich oft, der Anlaß war, der es hervorrief.
Maria Elisabeth übersprang das restliche Vorwort und machte sich an die Lebensschilderung, die den eigentlichen Inhalt des Buches darstellte:
Als Kind hatte sich Stéphane de Crâne durch ein besonderes Verhältnis zu Hunden hervorgetan. Praktisch hatte er mit Hunden sprechen können, bevor er mit Menschen sprechen konnte, und seine erste Erinnerung in dieser Welt war das Bellen eines Hundes. Diese Erinnerung lag zu einem so frühen Zeitpunkt, daß seine Eltern überzeugt waren, es handle sich um pure Einbildung. Stéphane dagegen entsann sich deutlich dieses Bellens, weil es so traurig und ohnmächtig geklungen hatte und doch mit einer so dröhnenden Kraft, als ergreife der Laut mit einem heftigen Selbstbewußtsein, das die Leistungsfähigkeit von Menschenstimmen weit übertraf, Besitz von dem Raum, in dem er sich verbreitete. Das Kleinkind in der Wiege begann zu weinen, die armen Eltern, die die Gründe dieses untröstlichen Weinens nicht kannten, wußten sich keinen Rat. Später erzählte Stéphane, er habe geweint, weil er gespürt habe, daß sein ganzes Leben im Zeichen der Hunde stehen und er deshalb unter den Menschen sehr einsam sein würde.
Das sollte auch zutreffen, gleichzeitig aber war sein Leben abenteuerlich, schreckeinflößend und bedauernswert zugleich. Abgesehen davon, daß er aufgrund seines ständigen Umgangs mit den Hunden, deren Gesellschaft er der der Menschen vorzog, schon frühzeitig ziemlich übel angeschrieben war, verwickelte er sich in verschiedene Affären, die nicht geeignet waren, sein Ansehen zu erhöhen. Sie gipfelten während seiner Jugend in einer Schlägerei mit tödlichem Ausgang. War es Totschlag? Stéphane – er bereitete seiner Familie, die dem Hof nahestand, großen Kummer – wurde unter verschiedenen Vorwänden ins Ausland geschickt. In der Bibliothek eines Klosters in Österreich stieß er auf ein Buch, dessen legendärer Bericht – eine Art hündisches »Tausendundeine Nacht« – sich mit der Travestie einer wissenschaftlichen Abhandlung über irgendwelche sprechenden Afghanen mischte. Das Buch faszinierte ihn so sehr, daß er es zu stehlen versuchte. Der Diebstahlsversuch wurde entdeckt. Die Affäre wurde vertuscht.
Stéphane de Crâne sagte selbst: Bis zu dem Tag, an dem ich dieses Buch las, war ich der einsamste Mensch der Welt. In diesem Buch begegnete ich einem Bruder, der zu mir sprach; die Abstände in Raum und Zeit, die uns trennten, zerschmolzen und wurden bedeutungslos. Deshalb war ich bereit, mich zu erniedrigen und zu einem gemeinen Dieb zu werden, um mir das Buch zu sichern, weshalb ich auch unverletzlich war gegenüber den anklagenden und enttäuschten Blicken, die danach auf mir ruhten.
Doch die Einsamkeit schlug wieder über ihm zusammen und schloß sich um ihn wie ein Mantel aus Blei. Einige Jahre später trat ein entscheidendes Ereignis in sein Leben. Während eines Aufenthalts in Neapel bekam er zwei Afghanen geschenkt von einer Person, über deren Identität er nie mit sich ins reine gelangte, die jedoch viele Abende damit verbrachte, ihm von ihren Reisen in die abenteuerlichen Länder östlich des Mittelmeers vorzuflunkern. Zu dem Zeitpunkt hatte Stéphanes Familie sich bereits von ihm abgewandt. Begleitet von seinen beiden Hunden, kehrte er mit einer Truppe italienischer Schauspieler nach Frankreich zurück. Er erzählte, er habe die Hunde auf einer Reise in den Osten unter gefahrvollen Umständen erworben, eine Erzählung, die jedesmal, wenn er sie zum besten gab, ein paar zusätzliche Schnörkel erhielt, obwohl er sehr wohl wußte, daß alle die Wahrheit kannten; die Wahrheit war ganz einfach, daß er nie über Neapel hinausgekommen war und daß er seine Zeit dort in Gesellschaft der schlimmsten Trunkenbolde und in den berüchtigsten Hurenhäusern vergeudet hatte.
Daß er in Wirklichkeit jeden Tag sechs bis sieben Stunden in Gesellschaft des Hundezüchters zubrachte, der ihm die Afghanen geschenkt hatte und ihn lehrte, ihre Sprache zu verstehen, das ahnten dagegen nicht so viele. Die Trunkenbolde, die jeden Vormittag ihren Rausch ausschliefen und die Stunden des Nachmittags als eine Vorbereitung auf die Orgien des Abends betrachteten, nahmen ohne weiteres an, daß es sich mit Stéphane ebenso verhielte.
Er selbst war ein Mittdreißiger, als er die sogenannte Madame de Taisévouze kennenlernte, die noch nicht dreißig war.
Innerhalb des Gesellschaftslebens betrachtete man ihn ängstlich und mißtrauisch als einen Clown, der aus irgendeinem ungewissen Grund für gefährlich gehalten wurde, obgleich er – darin waren sich alle einig – völlig harmlos war. Sein Verhältnis zu den Hunden begriff man als unnatürlich, als krankhafte Neigung, der er sein elendes Schicksal verdankte. Madame de Taisévouze sah seine Einsamkeit und wurde von ihm angezogen wie von einem Magneten. Sie war zu klug, um zu glauben, sie könne sie durchdringen. Er lehrte sie, daß diese Einsamkeit keine Grundlage für eine besondere Trauer oder Bitterkeit liefere. Er sagte: Sie ist verwandt mit dem Tod, um den niemand herumkommt.
Als sein Vermögen aufgebraucht war, ließ er sich von ihr aushalten und war dadurch imstande, seinen Umgang mit den Pariser Saufbrüdern und seine Besuche in den Hurenhäusern der Stadt fortzusetzen.
Sie wunderte sich und fragte: Bin ich nicht genug für dich?
Ach, antwortete er, du bist mehr als genug, aber ich hege einen unglückseligen Hang dazu, mich zu verderben und die Welt von der Unterseite der Verderbnis her zu erfahren. Meine Erfahrungen haben mich, ehrlich gesagt, zu den seltsamsten Schlüssen geführt. Denn wenn ich mich in euren Salons bewege, fühle ich mich nun von einer so abgrundtiefen und übelriechenden Verderbnis umgeben, daß ich mich schleunigst durch einen Besuch in den berüchtigtsten Schweineställen dieser Stadt reinigen muß. Nimm es mir nicht übel und verurteile mich vor allem nicht zu sehr: Ich leide an einer Augenkrankheit, und dein liebes Gesicht ist fast das einzige, dessen Anblick ich länger als fünf Minuten ertragen kann. Und was soll ich tun, wenn ich es nicht vor Augen habe? Außerdem habe ich mir verschiedene Gedanken über die Kette, wie ich sie nenne, gemacht: Ihre Glieder bestehen aus Geld, greifen ineinander und lassen sich nie brechen. Die Freiheit, die du in dem Verhältnis zu deinem Mann, dem guten Marquis, genießt, die bezahlst du von Zeit zu Zeit damit, daß du ihn in deinem Schlafzimmer empfängst und ihm deine Beine breitmachst. Die Leistungen, die ich von dir erhalte, bezahle ich wiederum mit Gegenleistungen verschiedener Art. Doch sollte die Kette hier aufhören? Nein, sage ich und gehe zu der kleinen Louise Derval, und zu ihr sage ich akkurat dasselbe wie dein Mann zu dir. Ich will kaufen, hast du etwas zu verkaufen? Und dann kaufe ich zehn Minuten oder eine Stunde oder eine Nacht, je nachdem, wieviel Geld ich habe.
Madame de Taisévouze war blaß geworden.
Sie erwiderte: Die Wahrheit dessen, was du sagst, hat mich getroffen. Aber dann ist es doch