Anatomie der Katze. Poul Vad
Rhythmus eines Pferdehufschlags dazu beigetragen, meine Flucht immer wilder, immer verzweifelter werden zu lassen. In einer Beziehung war das natürlich beruhigend: Ich war nicht in Gefahr, umzingelt zu werden, ich steuerte, dessen war ich gewiß, das sagte mir mein Gefühl, nicht geradewegs auf eine ausgeklügelte Falle aus Reitern und Hunden zu, die nur darauf warteten, sich auf mich zu stürzen, wenn ich erschöpft genug und eine leichte Beute für ihre scharfen Zähne und todbringenden Projektile war. Doch das war nur ein armseliger Trost. Irgendein anderer Tod holte auf, von hinten und offenbar besessen von einer wilden Begierde danach, mir den Garaus zu machen, koste es, was es wolle. Aber konnte ich denn nicht kehrtmachen und mich diesem fürchterlichen Verfolger stellen? Wäre es nicht besser und würdiger gewesen, den Kampf aufzunehmen? Das klingt sehr schön, wenn man es so dahersagt, doch warum soll man würdig sterben, wenn man durch die Flucht überleben kann? Wie ich bereits gesagt habe, mir war klar, daß mein einziges Heil in der Flucht lag, so feige und memmenhaft das auch klingen mag. Umdrehen würde ich mich erst in dem Augenblick, in dem ich vor einer Mauer stand und nicht weiterkonnte, mich umdrehen und bereit sein zu sterben. Vorläufig aber bestand keinerlei Aussicht auf eine Mauer, und die Todesangst, die mich erstarrte, verhinderte nicht, daß ich gleichzeitig Kräfte mobilisierte, Ressourcen in meinem Körper ausnutzte, von deren Existenz ich keine Ahnung gehabt hatte.
Langsam, aber sicher holte der Tod auf. Ich war wie verhext bei dem Gedanken daran, in wem sich dieser Tod wohl verkörpert hatte, durch wen er mich mit so unmenschlicher Entschlossenheit verfolgte, und nur mit Mühe und Not widerstand ich der Versuchung, mich umzudrehen, um endlich einen kurzen Blick auf den Verfolger werfen zu können. Die Hufschläge kamen immer näher. Während meiner kopflosen Flucht war ich in Wälder gekommen, in denen ich nie zuvor gewesen war. Hin und wieder sah ich zwischen den Stämmen den blanken Spiegel eines Sees. Der Rhythmus der Hufschläge hielt sich unverändert, vielleicht war er sogar ein klein wenig schneller geworden, wogegen ich merkte, daß ich selbst nicht mehr dasselbe Tempo hielt. Die Todesangst wuchs, doch die Möglichkeiten meines Körpers waren allmählich erschöpft. Geplatzte Adern ließen mich alles durch einen roten Nebel sehen, mein Gehirn raste in einem wilden Aufruhr von Gedanken, Vorstellungen und Bildern, so, als wollten sie sich auch einzeln befreien, in wilder Flucht aus einem geschlossenen Raum und von Vernichtung bedroht.
So war die Lage, als mir klar war, daß der Verfolger nun so dicht heran war, daß es jetzt nur noch eine Frage von Minuten oder Sekunden sein konnte. Auch wenn mich nicht gleich ein tödlicher Schuß treffen würde – das war unwahrscheinlich, weil der Verfolger ja während des Reitens schießen mußte –, so würden in meiner jetzigen Verfassung ein paar ernsthafte Wunden genügen, um die Sache zu entscheiden.
Vor mir tauchte ein weißes Licht auf. Meine blutunterlaufenen und halb erblindeten Augen begriffen nicht sofort, worum es sich handelte, doch im nächsten Augenblick ging mir auf, daß es ein sehr großer See sein mußte. Nach rechts oder links abzubiegen hätte den sicheren Tod bedeutet: Durch meine Richtungsänderung würde ich den Abstand zu meinem Verfolger verkleinern; gleichzeitig würde ich mich in voller Figur darbieten und ein besseres Ziel für seine Kugeln abgeben.
Im Verhältnis zum See befand ich mich hoch oben. Er war spiegelblank, was auch der Grund war, weshalb ich ihn zuerst als weißes Licht gesehen hatte. Erst weiter draußen, wo Wald und Land keinen Schutz mehr gewährten, kräuselte ihn die frische Herbstbrise.
Zeit zum Überlegen hatte ich überhaupt keine. Ich haßte und fürchtete den See, dessen Oberfläche das Licht zurückwarf wie blankgeriebenes Metall oder vielleicht eher wie Spiegelglas, wie hartes Spiegelglas, das gerade von einer Hausfrau geputzt worden ist, die in der ganzen Welt nichts weiter zu tun hat, oder von einem fanatischen Fensterputzer, der nicht den kleinsten Fleck verträgt, wenn man ihn auch mehrere hundert Quadratmeter putzen läßt. So sah der See aus, und ich kam ihm immer näher, denn hinter mir hatte ich das, was noch schlimmer war.
Ein steiler Abhang mußte zum See hinunterführen oder vielleicht geradezu eine senkrechte Klippenwand – ins Wasser hineinzulaufen, damit war es nichts, ein Sprung würde alles entscheiden. Könnte ich dann aber nicht erst recht ein leichtes Opfer für die Kugeln des Verfolgers sein, wenn ich denn überhaupt Kraft genug hätte, mich über Wasser zu halten und nicht wie ein Stein abzusacken? Aber dann tue ich es eben! Dann sacke ich eben ab! Dann ertrinke ich eben! So schrie ich innerlich, während ich die letzten Meter zurücklegte, die mich von dem Todessprung trennten. Nun können Sie sich sicher vorstellen, in welcher Verfassung ich mich befand, denn ich liebe das Leben, und vor gar nicht so schrecklich vielen Minuten war ich ja noch im Wald umhergewandert und hatte es in vollen Zügen genossen. Es erschien mir, als würfe ich mich in die Vernichtung. Wenn mein Körper den glasblanken Spiegel dieser Fläche zersplitterte, war alles vorbei. Solche Gefühle durchfuhren mich in Sekundenbruchteilen, die es dauerte, die letzten Meter von dem Gebüsch, durch das ich geradewegs hindurchbrach, bis zu dem felsigen Steilufer zurückzulegen.
Können Sie sich den Sprung eines solchen Wildschweinkörpers vorstellen? Mir ist, als hätte ich es mit eigenen Augen gesehen, obgleich ich mich in Wirklichkeit in diesem fürchterlichen Körper befand und also mit ihm zusammen schwebte und eins war mit seiner enormen Schwere und der Leichtigkeit und Eleganz, mit der er sich kopfüber über den Steilhang hinaus warf. Im selben Augenblick aber, das heißt im Moment meines Sprunges, geschah jedoch etwas Seltsames mit dem See: Denn plötzlich, ganz ohne Übergang, hatte sich seine blanke Fläche hochkant gestellt.
Ich bekam einen ordentlichen Schrecken. Ja, es ist eigenartig, wieviel man in solchen Augenblicken durchleben kann. Die Zeit muß so kleine Teile enthalten, daß eine ganze Masse in das allerkleinste Endchen Zeit, das man sich vorstellen kann, hineingeht, gleichgültig, wieviel oder, genauer, wie wenig es auch sein mag. Und jedes dieser kleinen Endchen hat Platz für einen ganzen Gedanken oder ein ganzes Gefühl. Zum Beispiel des Schreckens oder des Erstaunens oder was auch immer.
Obgleich es sich also um einen unendlich kurzen Augenblick handelte, gelang es mir dennoch zu schweben, zu erschrecken, mich im Schwebezustand zu befinden – bis zu dem Augenblick, als alles vorbei war, mit einem Krach, einem Geräusch von zersplittertem Glas und einem Riesenschrecken, der schlimmer war als alle die vorhergegangenen, gleichzeitig aber herrlich befreiend.
Ich stieß mich halbtot beim Landen, und wenn mein Wildschweinkörper nicht so entspannt gewesen wäre, hätte ich mir wohl durchaus die meisten seiner Knochen gebrochen. Nun kam ich mit Schnittwunden und Verstauchungen davon. In Anbetracht der Tatsache, daß ich durch die Fensterscheibe unseres Schlafzimmers im ersten Stock gesprungen und mitten auf der Straße gelandet war, muß man wohl sagen, daß ich billig davongekommen war. Die Wunden bluteten zwar ziemlich stark, was aber, wie sich zeigte, bei weitem nicht so gefährlich war, wie es aussah.
Ich war wieder Mensch geworden, wie Sie sicher begreifen, wenn Sie Schlafzimmer und Straße hören. Ja, das war ein höchst sonderbares Erlebnis. Und das Ganze ging weiter, denn einen Augenblick später kehrte die Todesangst zu mir zurück, doch nun konnte sie mir nichts mehr anhaben. Die Sache ist nämlich die, daß ich also im Nachthemd mitten auf der Straße saß, mich umschaute und mich ziemlich benommen fühlte. Es war noch Nacht, das heißt, es war so spät in der Nacht oder so früh am Morgen, daß es hell genug war und ich klar sehen konnte. Ich schaute natürlich zu dem Schlafzimmerfenster hinauf, aus dem ich herausgesprungen war. Tatsächlich, es war zersplittert. Während ich so dasaß, völlig benommen, und zu den spitzen Zacken der Glasscherben und zu dem Dunkel dahinter emporsah, erschien dort oben eine Gestalt, eine weiße, schweigende Gestalt, die einfach irgendwie aus dem dunklen Feld hervorglitt und da war. Es war meine liebe Frau. Ich starrte mit albernem Lächeln zu ihr empor, sie starrte zu mir herunter, ohne zu lächeln, und da hörte ich ganz langsam auf zu lächeln; denn plötzlich ging mir auf, daß sie der Jäger war.
Seit dem Tag ist mir klar, daß es keineswegs gelogen ist, wenn in den Büchern steht: Das Blut in seinen Adern gefror zu Eis. Es ist nämlich die genaueste Beschreibung dessen, was in dem Augenblick mit meinem Blut in meinen Adern geschah. Ich verstand überhaupt nicht, was das bedeutete, denn sie war ja nicht zu Pferd und hatte auch kein Gewehr in der Hand, sie stand nur völlig unbeweglich da und starrte in einer Weise auf mich herunter, die nicht nur Ausdruck des Erschreckens war. Na ja, es mag vielleicht nicht so seltsam sein, daß sie etwas komisch guckte, denn schließlich ist