Anatomie der Katze. Poul Vad
deren grausame Charakteristika die metallische Schönheit eines sonderbaren Traums besaßen. Die Vorbeigehenden gingen weiter, anscheinend, ohne davon Notiz zu nehmen, obgleich die bemerkenswerte Einrichtung des Fensters die katastrophalen Wohltaten einer verhängnisvollen Chirurgie vorstellte, deren potentielle Opfer und Kunden sie allesamt waren. Im Gegensatz zum Gemüsehändler auf der einen und dem Schuhmacher auf der anderen Seite, in deren Fenstern sich die Waren kunterbunt und ohne jede Form einer durchdachten Ordnung oder eines Systems häuften, wirkten die einzelnen Gegenstände in diesem speziellen Schaufenster wie aufgespießt und besaßen den gleichen Glanz von Fremdheit wie die tödlichen Präparate eines Laboratoriums oder die ausgewählten Ikonen eines ansonsten kahlen Kirchenraumes. Obgleich ich keine Menschenseele habe hineingehen sehen, muß dieses Geschäft doch irgend jemandem zum Nutzen gereichen, sagte ich zu mir, sonst wäre seine Existenz völlig sinnlos, und Dr. Robert Müller – so hieß der Inhaber, wenn man denn dem Schild über der Tür glauben durfte – wird wohl auch kaum völlig umsonst immer weiter Miete zahlen.
Ja, so naiv war ich damals, ich glaubte, man könne die Dinge und ihre Ursachen und die Beweggründe der Menschen und die Geheimnisse der Wirtschaft und des Geschäftslebens vom gesunden Menschenverstand her beurteilen!
Während ich noch so dastand und grübelte, kam mir plötzlich der einleuchtende Gedanke, daß das Geschäft unter anderem wohl auch mir zum Nutzen gereichen könne. Hier müßte ich die Stützen bekommen können, die ich so dringend benötige, sagte ich mir, und fühlte, wie mir ein Licht aufging. Was soll ich mit Kartoffeln, Blumenkohlköpfen und Petersilie oder mit Pantoffeln, Gummistiefeln und Lackschuhen, um solcher Waren willen bin ich ja nicht nach Hamburg gekommen oder habe mich überhaupt erst auf eine Reise begeben. Dr. Müllers unerwartetes Geschäft aber ist etwas ganz anderes: Dessen Existenz ist die Ergänzung zur Entwicklung dieser Flügel, deren traurig kraftlosem Zustand Dr. Müller vielleicht mit seinen chirurgischen Erfahrungen abhelfen kann.
Das erwies sich jedoch als leichter gesagt denn getan, denn obgleich es mir also einleuchtend erschien, mußte ich mich doch erst überwinden. Was die Leute wohl denken würden? – alle die Leute, die jetzt einfach vorbeihasteten, sich aber wahrscheinlich hinstellen und glotzen würden, wenn ich allein mich von der Menge absondern und das Geschäft betreten würde. Außerdem handelte es sich um etwas so Ungewöhnliches, daß meine Bedenken wohl nicht weiter sonderbar wirken können. Ich überwand sie jedoch, stieg die drei Stufen der Treppe hinauf und öffnete die Tür im selben Moment, als jemand von innen dasselbe versuchte, um herauszutreten. Trotz alledem bin ich also nicht der einzige Kunde, stellte ich erleichtert fest, während ich zur Seite trat. In einem Zustand verlängerter Anästhesie spazierte ein Mann in mittleren Jahren an mir vorbei, augenscheinlich, ohne mich zu sehen, und geradeaus, als beabsichtige er, die Stufen hinabzuschweben, statt zu gehen. Es sah recht bedrohlich aus, doch irgendeine hypnotische Sicherheit hielt, trotz aller Aussicht auf das Gegenteil, das Gleichgewicht seines schwankenden Körpers aufrecht, was dazu führte, daß er im nächsten Augenblick sicher auf dem Bürgersteig stand und sich mit gleichgültigem Gesichtsausdruck umblickte.
Die Tür schloß sich hinter mir. Ich nahm den Hut ab und grüßte, aber das Geschäft war leer.
Das heißt: menschenleer. Denn mich umgab eine reiche Auswahl an Objekten der gleichen oder entsprechenden Art, wie ich sie im Schaufenster studiert hatte und die hier auf dem Fußboden standen, in Regalen, Glasschränken und Schaukästen lagen oder von der Decke herabhingen. Und trotz ihrer sorgfältigen Klassifizierung und Systematisierung und ihrer makellosen Aufstellung wirkten sie in ihrer Leblosigkeit so zahlreich und zudringlich, daß ich nahe daran war, mich ebenso seltsam zu fühlen wie der Rollstuhl mit den sehr großen Rädern und der Fußbremse, der mit seinem Glanz von blankem Leder und schwarzem Lack auf dem gebohnerten Fußboden einen auffälligen Platz einnahm.
Ich fühlte mich beobachtet und drehte mich um. Keine Menschenseele war zu sehen. Ich machte noch eine halbe Wendung und stand mit einemmal einem Mann in mittleren Jahren gegenüber, dessen Erscheinen auf mich völlig unerklärlich wirkte. Hinter ihm lag ein Raum, der, so hätte ich geschworen, einen Augenblick zuvor noch nicht dagewesen war und dessen leerer Kubus und nackte Wände im weißen Schein einer Bogenlampe wie die exakte und leblose Projektion irgendeiner in seinem großen Gehirn gezüchteten abstrakten Idee wirkten.
Ich fragte ihn, was hier denn eigentlich vor sich gehe, und er antwortete bereitwillig, daß die Beherrschung der in den Magnetfeldern schlummernden Kräfte ihn in die Lage versetze, die verblüffendsten Materialisationen und Dematerialisationen vornehmen zu können. Danach sah er mich fragend an.
Ich murmelte, ich sei anläßlich eines kleinen Problems gekommen, ob er mir vielleicht mit einem Paar Stützen behilflich sein könne? Ich fühlte, daß ich rot wurde.
Dr. Müller sah mich an. Er sagte: Das Problem der Stützen ist sehr schwierig. Jeder Organismus hat seine Geheimnisse, die man kennenlernen muß.
Ich stelle meinen Organismus gern für eine Untersuchung zur Verfügung, erwiderte ich, denn die Sache ist mir ziemlich lästig, und ich möchte sie gern in Ordnung bringen lassen.
Ich muß vertrauenerweckend ausgesehen haben, denn er fragte mich, wieviel ich denn anzulegen gedächte. Ich meinte, ungefähr fünfzig Mark. Er schüttelte resigniert den Kopf und erklärte, ich müsse mindestens mit der doppelten Summe rechnen, ich mußte also in aller Eile etwas kopfrechnen. Ich brauchte Geld für Hotel, Essen, Droschke und anderes mehr – ich war nicht imstande, das Doppelte zu opfern. Nachdem wir ein wenig hin und her verhandelt hatten, einigten wir uns auf einen Kompromiß. Er bat mich, mit nacktem Oberkörper bäuchlings auf einer Pritsche Platz zu nehmen. Ich befolgte seine Anweisungen, und bald befühlte er mit seinen kundigen Fingern meine Schulterblätter, meine Rippen und mein Schlüsselbein. Danach hielt er mir einen langen, von gelehrten Erklärungen und Fachausdrücken strotzenden Vortrag, von dem ich kein Sterbenswörtchen verstand, und stellte mich schließlich vor die Wahl. Mit den ganz speziellen und im übrigen höchst interessanten Bedürfnissen meines Organismus könne ich zwischen zwei Möglichkeiten wählen: entweder ein Paar Stützen der Braun und Schröder AG aus Düsseldorf, die völlig zu Recht wegen ihrer technischen Perfektion berühmt sei, oder ein etwas teureres Paar seines eigenen Fabrikats, das sich dadurch auszeichne, daß es an einer bestimmten kritischen Stelle eine feine Platinauflage habe, die die Bewegungen weicher und dadurch natürlicher mache.
Ich war ziemlich müde und entschied mich schleungist für sein Produkt, das er mir voller Begeisterung anmontierte. Von dem Augenblick an und bis zu dem Moment, wo ich mit der Rechnung in der Hand dastand, entsinne ich mich an nichts mehr.
Als ich wieder auf der Straße stand, war ich ganz zufrieden mit mir, und es kam mir vor, als könne ich nun mit weit größerer Zuversicht meiner Lehrzeit in der Fremde entgegensehen. So fühlt man sich nämlich, wenn man seine trübseligen Flügel oder, ich sollte vielleicht eher sagen, Flügelansätze, denn das kommt der Wahrheit wohl näher, sachkundig hat behandeln lassen und sich danach voller Hoffnung in die Welt hinausbegibt. Jetzt kommt es nur darauf an, daß man seine Muskeln trainiert, sagt man sich, wenn man merkt, daß noch nicht alles ganz so ist, wie es sein sollte. Hatte Dr. Müller nicht auch gerade dies besonders betont? Kein Zweifel, in bezug auf Stützen verfahren die Deutschen mit der gleichen Gründlichkeit, die im übrigen alles kennzeichnet, was sie in Angriff nehmen. Hier bleibt wahrlich nichts dem Zufall oder plötzlichen Eingebungen überlassen. Aber nach einiger Zeit mußte ich mir eingestehen, daß mich an den Stützen irgend etwas störte. Vielleicht waren sie zu schwer. Jedenfalls waren die Theorien, die Dr. Müller entwickelt hatte, äußerst sinnreich, um nicht zu sagen verwickelt, und wenn die Stützen diesen Theorien entsprechen sollten, dann war es kein Wunder, daß sie mich bedrückten. Die Briten mit ihrem praktischen Sinn hatten zu jenem Zeitpunkt Stützen hergestellt, die so einfach waren, daß die Leute in den Kolonien sie benutzen konnten: nur mit etwas Bindfaden und mit ein paar Bambusstäben. Und der französische Ingenieur Des Tailler – dessen bizarres Projekt einer von Ballons getragenen schwebenden Stadt auf der Weltausstellung in Paris im Jahre 1900 so viel Lärm verursacht hatte – hatte sich eine elegante, wenn auch zerbrechliche Konstruktion patentieren lassen, die unter den Künstlern, Dichtern und Bohemiens von Montmartre bereits große Verbreitung gefunden hatte.
Doch ich lief da also in Hamburg mit Dr. Müllers eigenhändigem