Anatomie der Katze. Poul Vad
blauen Augen.
Sie sah seine Verlegenheit und sagte: Warum schämst du dich?
Er sah direkt an ihr vorbei und antwortete: Weil ich nackt bin und nicht weiter hübsch, ich fühle mich entkleidet und unwohl, weil du mich ansiehst. Ich bin ein äußerlich armes Fleisch, mein Bauch ist unschön und unwürdig, schau, wie dünn meine Schenkel sind, wie Stöcke unter dem Oberkörper – ist es so seltsam, daß ich mich gern verstecken möchte?
Doch die Nymphe sprach: Diese Art Gedanken mußt du dir augenblicklich aus dem Kopf schlagen, oder wo sie sich sonst verstecken. Ich bekomme eine Gänsehaut am ganzen Körper, wenn ich dich so reden höre, und das ist das schlimmste, was einer Nymphe passieren kann. Was du da sagst, ist eine fürchterliche Sünde. Du bist Fleisch und darfst dich nicht schämen. Du mußt auf der Stelle anfangen, dich zu lieben, sonst kannst du nicht leben, und um dich zu lieben, mußt du dich genießen, und um dich zu genießen, mußt du eins sein mit dir, und um eins zu sein mit dir, mußt du dich vergessen, und damit du dich vergißt, will ich dir eine Ohrfeige geben.
Und bevor er sich besann, gab ihm die Waldnymphe eins hinter die Ohren, daß ihm der Schädel brummte. Elias Lönn erschrak fürchterlich, denn ihm war noch nie eine Frau begegnet, die so handfest auftrat; in seinem Nervensystem begaben sich seltsame und unkontrollierbare Dinge, und er begriff nicht, was ihm einfiel, als er in einem Anfall übermütiger Keckheit der Nymphe ins pralle Hinterteil kniff. Sie lachte nur und umarmte ihn, doch als er wiederum in ihre Augen hochsah, lachte sie nicht mehr, und er bekam es mit der Angst.
Vor einem Augenblick fühlte ich mich wie ein Kind und war froh und glücklich, sagte Elias Lönns Fleisch, aber jetzt habe ich Angst. Das ist klar, sagte die Waldnymphe, das hier ist ein ernsthaftes Spiel, das ist nichts für verantwortungslose Rotznasen.
Ich habe geglaubt, fing das Fleisch an, doch die Waldnymphe unterbrach es: Dann hast du alles völlig mißverstanden. Ich will einen Mann, kein verspieltes Kind. Und wo ist dein Geist? Das hier schaffen wir nicht ohne die Hilfe deines Geistes.
Elias Lönns unerprobtes Fleisch begann zu zittern und stieß schließlich hervor: Aber ich habe geglaubt ... Bist du verrückt! rief die Nymphe mit so fürchterlicher Stimme, daß der Geist, der sich sowieso schon ins Unglück gestürzt fühlte, völlig verschreckt wurde. Das Fleisch sprang vom Waldboden empor, wo es noch immer ruhte und auf eine Glückseligkeit wartete, die sich nicht einstellte; es setzte dem Geist hinterher, tiefer ins Dickicht hinein. Es fühlte sich angeführt, und panischer Schrecken überfiel das Fleisch. Es verwirrte sich in einem Labyrinth aus Gebüsch, Gestrüpp und Blättern und traf den Geist an einer Stelle im Schatten wieder, wo sich die Zeremonie einer düsteren Versöhnung und Unterwerfung abspielte. Der Zug setzte sich in Bewegung, und Elias Lönn war glücklich, sich in Gesellschaft seiner Frau und des Scholiers wiederzufinden, die seine Abwesenheit glücklicherweise nicht bemerkt hatten. Ich muß besser aufpassen, sprach er zu sich, selbst eine kleine Reise kann offenbar Überraschungen bieten, die ich mir nicht vorgestellt hatte. Es ist seltsam mit Reisen, sagte er laut, unterwegs passiert immer etwas, was man nicht vorausgesehen hatte; und hinterher meint man, daß das, was geschah und nicht hatte geschehen sollen, das Wichtigste war – man sollte fast meinen, es sei der Grund der Reise gewesen.
Davon kann ich ein Lied singen, bemerkte der Scholier, aber ich muß zugeben, daß ich die meisten Überraschungen, die mir widerfahren sind, gern entbehrt hätte, denn sie haben mir, ehrlich gesagt, das Leben verdorben und die Reise durchs Leben abwechslungsreicher gemacht, als gut ist. Nun hoffe ich, daß das endlich vorbei ist. Elias Lönn erwiderte: Was mich betrifft, so ist das ganz anders gewesen. Ich verdanke es denn auch nur dieser Art unvorhergesehener Ereignisse, daß sich mein Leben unter der Herrschaft der Vernunft so still und friedlich gestaltet hat und daß ich heute hier sitze als der, der ich bin. Wenn ich seinerzeit als junger Optiker auf dem Weg in die Schweiz nicht in Hamburg Aufenthalt gemacht hätte, dann möchte ich nicht wissen, wie es Elias Lönn ergangen wäre.
In Hamburg mußte ich umsteigen und war gezwungen, dort zu übernachten. Seit meiner Abreise aus Silkeborg war ich bereits unzählige Male umgestiegen. Es war damals eine sehr lange und umständliche Reise. Ich logierte mich in der Spiegelstraße im Hotel »Zum guten Bürger« ein, einem Hotel, das sehr zu meiner Zufriedenheit hielt, was sein Name versprach.
In Hamburg entdeckte Elias Lönn, daß die Welt ein Labyrinth ist, eine Wildnis, eine unüberschaubare Weite, wohin auch immer man den Blick wendet, über alle bekannten und unbekannten Horizonte hinaus verlängert und multipliziert und von so unglaublicher Kompliziertheit, daß es keinem Menschen möglich ist, irgendwelche Vorausberechnungen über mögliche Abläufe, Bahnen und Richtungen anzustellen, sobald man sich auch nur über das Allernächstliegende hinausbewegt.
Ich kam geradewegs aus Silkeborg, der größten Stadt, die ich jemals gesehen hatte. Damals konnte man fast von einem Ende zum anderen spucken. Die Zahl der Störche, die jedes Jahr zu denselben Nestern zurückkehrten, war zwei- oder dreimal so hoch wie heute. Die wenigen Straßen bevölkerten nur Menschen, deren Fleiß und Rechtschaffenheit über jeden Zweifel erhaben waren, ob Städter oder Bauern auf Besuch in der Stadt. Und am Ufer des Gudenaa lag ein einziges Schiff vor Anker, der berühmte Raddampfer »Goldregenpfeifer«, der im Linienverkehr zwischen Silkeborg und Himmelberg hin- und herfuhr, doch nur im Sommer, und dessen dreiköpfige Besatzung – Kapitän, Maschinenmeister und dann der, der an den Landungsbrücken vertäute, den Passagieren an Land half und Fahrkarten verkaufte – die einzigen Seeleute waren, die meine Augen je erblickt hatten. Kaum hatte ich mich in die Straßen und Gassen von Hamburg hinausbegeben, da überfiel mich eine Verwirrung, die mir fast den Boden unter den Füßen weggerissen hätte. Die Menge der Menschen in den Straßen war so gewaltig, daß ich mich nicht mehr als hundert Meter vom Hotel entfernt hatte, bevor ich stehenbleiben und Schutz suchen mußte in einem abgelegenen und friedlichen Winkel auf einem großen Platz, an den ich gekommen war, um hier meine Gedanken zu sammeln und einen Überblick über die Lage zu gewinnen. Bereits das Auffinden eines friedlichen Winkels war schwieriger, als ich geglaubt hatte, schließlich aber gelang es mir doch, eine Toreinfahrt zu finden, die anscheinend nur der Zufluchtsort von Hunden, Katzen und Ratten war. Ich fühlte mich überzeugt oder fühlte doch instinktiv, daß die Anwesenheit so vieler Menschen das Ergebnis irgendeines gigantischen Irrtums von seiten des Schöpfers sein müsse. Doch sicherlich gehen sie gerade allesamt fort von hier, und gleich wird alles ruhiger und geklärter sein, und dann sind hier nur noch die, die hergehören, sagte ich zu mir. Aber anstelle der Verschwundenen wimmelten die ganze Zeit über Neue herbei, so daß die Gesamtzahl, soweit ich beurteilen konnte, immer einigermaßen gleich blieb. Ich begriff, daß dieses Menschengewimmel das Ergebnis irgendeines wildgewordenen Mechanismus sein müsse und daß seine Gegenwart Ausdruck der furchteinjagenden Logik einer Unüberschaubarkeit, Verwirrung und vielleicht der hasardierten Berechnung sei. Das Ziel der Menschheit war mir bisher einfach und überschaubar erschienen. Was tut man, wenn einem das Ziel der Menschheit plötzlich weder einfach noch überschaubar erscheint?
Ich fühlte, wie in mir ein neuer Mensch geboren wurde, ein seltsames Geschöpf, plump und gleichzeitig viel zu elegant, mit einer Kontur, die ungefähr der eines Vogels gleichkam, und auch mit Flügeln, die seltsam trübsinnig schlappten. Ich dachte daran, daß ich vielleicht ein Paar Stützen für diese Flügel kaufen sollte und daß man sicher gerade diesen Artikel in einem der unzähligen Geschäfte der großen Stadt Hamburg kaufen könne. Aber ich dachte auch daran, daß es sich bei der ganzen Sache möglicherweise um eine Frage der Brustmuskulatur handle, denn es erforderte zweifellos recht viel Kraft – rein physisch –, wollte man diesen schlaff herunterhängenden Flügeln überhaupt irgendeine Bewegung entlocken. Während all das in mir vorging, betrachtete ich noch immer mit der gleichen Neugierde das wilde Gewühl auf dem Platz dort draußen, ein Gewühl, das keineswegs abnahm, sondern ganz im Gegenteil immer wilder wurde. Ich sagte mir: Ich habe mich auf diesen friedlichen, abgelegenen Fleck gestellt, erstens, um meine Gedanken zu sammeln, und zweitens, um einen Überblick über die Lage zu gewinnen. Keines von beiden ist mir gelungen. Ich habe zwar nachgedacht, aber die ganze Zeit über meinen Gedanken hinterherlaufen müssen, die in ebenso viele Richtungen davonstürzen wie die Hunderte von Spaziergängern und Fahrzeuginsassen, die sich unaufhörlich kreuz und quer über den Platz bewegen. Und was den Überblick über die Lage betrifft, so verhält es sich ja so, daß es sich bei weitem nicht nur um