Anatomie der Katze. Poul Vad

Anatomie der Katze - Poul Vad


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ist keine Erklärung. Es reicht doch nicht, wenn man sagt, sie sind dumm, weil sie dumm sind! Aber ich kann dir sagen, ich habe entdeckt, worin ihre Dummheit besteht.

      Na, dann zier dich doch nicht so und erzähl es mir lieber gleich, wenn es wirklich wahr ist und nicht nur Angabe.

      Selbstverständlich ist es keine Angabe, und du, werde bloß nicht frech! Der ganze Fehler liegt darin, daß wir glauben, sie seien uns mehr oder weniger ähnlich, obgleich sich jeder ausrechnen kann, daß das überhaupt nicht stimmen kann. Wenn sie einander aushalten können, obgleich sie einander eigentlich nicht aushalten können dürften, dann ganz einfach, weil sie es nicht wissen! Sie sind so degeneriert – ja, oder auch einfach unentwickelt, das kann ich nicht entscheiden –, daß sie sich voneinander weder angezogen noch abgestoßen fühlen, so einfach ist das. Du brauchst nur auf einen oder zwei Meter Abstand heranzukommen, und schon weißt du den größten Teil dessen, was wissenswert ist. Aber die können einander auch die Schnauze in den Schädel stecken und werden doch nicht schlauer. Deshalb irren sie sich immer übereinander, und das ist ja nicht weiter verwunderlich. Aus dem Grunde bilden sie sich auch ein, daß die Luft uns alle trennt, während wir uns völlig im klaren darüber sind, wie das in Wirklichkeit zusammenhängt, daß nämlich die Luft uns alle verbindet.

      Sieht das wirklich so aus! Dann muß es ihnen ja noch schrecklicher gehen, als ich es mir vorgestellt hatte. Doch das erklärt vieles. Auf diese Weise müssen sie sich ja fürchterlich einsam fühlen?

      Das tun sie auch. Glücklicherweise aber – kann man in gewisser Weise sagen – sind sie sich selbst dessen nicht ganz bewußt. Sie sind so in die Einsamkeit verliebt, daß sie, statt sich daraus herauszuarbeiten, sich immer tiefer darein verbohren. Nein, Gerüche wollen sie sowenig wie möglich, und wenn sie dann die Welt nicht mehr direkt erleben können, dann wollen sie sie sich vorstellen, und das geht natürlich gar nicht.

      Na, aber alles taugt doch wohl zu irgend etwas? Was du da sagst, ist vielleicht auch der Grund, weshalb sie sich entschlossen haben, uns zu dienen und uns Futter und Obdach zu geben? Ich habe mich zwar den größten Teil meines Lebens herumgetrieben, denn diese Art von Dasein ziehe ich nun einmal vor, aber letzten Endes habe ich meine tägliche Mahlzeit immer ohne größere Anstrengungen bekommen können. Und dich bürstet und streichelt und krault man wohl?

      Das liegt, erwiderte der Hund des Bahnhofsvorstehers, alles an ihrem heimlichen Kummer. Sie haben das unklare Gefühl, sich gegen irgend etwas vergangen zu haben, aber was das ist, können sie nicht richtig herauskriegen. Es tröstet sie, uns in ihrer Nähe zu haben. Unsere Lebensweise bestätigt ihren Kummer in einer Weise, die sie selbst nicht richtig verstehen. Achte mal darauf, sie schauen immer zur Seite, wenn wir unsere Exkremente ablegen. Das sehen sie nicht gern! Und wenn sich zwei von uns an einer ihrer Straßenecken paaren, dann amüsieren sie sich, sie lachen, aber dieses Lachen hat etwas Künstliches an sich; irgendwie ist es eine Art Todeslachen, und das kannst du deutlich hören, wenn du genau hinhörst. Auf diese Weise, kann man sagen, treten wir beständig vor ihnen auf. Wir sind das Welttheater der Hunde, das seine Vorstellungen immer zeigt, und niemand hat ein so dankbares Publikum wie wir.

      Während sie sich so unterhielten, war der Zug natürlich schon längst außer Sicht. Herr und Frau Lönn waren in ein Abteil gegangen, wo sie sich in Gesellschaft eines dritten Reisenden befanden, der bereits dort saß, ein Mann in mittleren Jahren mit einem riesigen Koffer, dessen Hotelaufkleber in strahlenden Farben mit den Namen bekannter und unbekannter Städte in fernen Ländern und anderen Erdteilen sie an den fliegenden Koffer des Märchens denken ließen. Er betrachtete das Ehepaar mit einer gefräßigen Neugier, so, als sei an diesen beiden ganz gewöhnlichen, einfachen Menschen irgend etwas Ungewöhnliches, und erzählte unaufgefordert, daß er auf dem Weg in seine Heimatgegend sei, nach vielen, allzu vielen Jahren in der Fremde. Um einen Platz zu finden, sagte er, wo ich endlich zur Ruhe kommen kann. Und wo ich es darf, setzte er hinzu, als sei das etwas Verbotenes; so was wie ein Schrebergarten, nur eine Winzigkeit größer, mit einer weißen Bank, einem Tisch und einer Kaffeekanne: Ist das nicht ein wunderbarer Gedanke?

      So lernten sie Vagn Wagner kennen, der sich selbst Scholier nannte und sich nun wieder der Landschaft zuwandte, die seine Augen mit einer Art lebensmüder Aufmerksamkeit verschlangen. Die Zugfahrt von Silkeborg nach Hammerum dauerte damals normalerweise eine Stunde, und bringen wir nun ein für allemal die Landschaft hinter uns. Erst ist da der Wald, dann die Sumpfstrecke und ein vereinzelter, unbedeutender See. Dem Sumpf folgen schwere Hügel, worauf die Eisenbahn endlich in das flache Land hinausführt, das sich von dort aus öde und gleichförmig meilenweit nach Westen erstreckt. Bevor der Zug jedoch so weit kam, mußte er in Funder halten. Der Bahnhof war nicht viel mehr als ein Trittbrett: ein Kiesbahnsteig und ein winziges Bahnhofsgebäude. Die Einwohner von Funder waren mit ihrer Scholle so verwachsen, daß sie sich nie dazu verlocken ließen, den Zug zu besteigen, um andere Gegenden zu besuchen. Deshalb bekamen sie selbst auch nie Besuch, und deshalb war der Aufenthalt des Zuges hier eine reine Formsache. Die Landschaft war mit anderen Worten völlig ereignislos für alle anderen als Elias Lönn, der nicht ahnte, welche Gefahren und Versuchungen in dänischen Buchenhainen und Wäldchen lauern. Er saß da und starrte gedankenverloren zu einem fernen Waldrand hinüber, dessen frisch ausgeschlagenes Laub in der Sonne leuchtete, als ein unerklärliches, lockendes Winken zwischen den Bäumen sein vernachlässigtes Fleisch sich beschämt wie einen ungezogenen Schuljungen davonstehlen ließ, erpicht darauf, sich in unschuldige, doch verbotene Abenteuer zu stürzen. Der Geist entdeckte jedoch bald, was hier gespielt wurde, und nahm die Verfolgung auf, denn er fürchtete, das Fleisch würde ihn ins Unglück stürzen oder doch jedenfalls einen Zustand der Verwirrung und Unruhe herbeiführen, der nicht gut war. Es gelang ihm auch, das Fleisch einzuholen, und er brachte sich rittlings auf ihm an, um es im Zaum zu halten und auf den rechten Weg zu lenken. Das Fleisch aber, das bereits die Süße der Freiheit gekostet hatte und auf den Geschmack gekommen war, setzte mit seinem unglücklichen Reiter zum Sprung an und stürzte auf das nächste Dickicht zu, ein kleiner Hain mit hohen Bäumen, deren Laub die stechenden Sonnenstrahlen filterte, mit ein wenig Gras, Mäuschen, die sich paarten, und einem säuerlichen Geruch von den Blumen des Waldbodens. Ist es hier nicht herrlich? sagte das Fleisch, und der Geist mußte es zugeben, doch, herrlich ist es hier schon, denn dies ist die Natur, wie der gute Gott sie geschaffen hat, aber ... Und fühl nur, fuhr das Fleisch fort, wie mild die Luft ist, wie reiner Balsam, weicher als die weichste Hautcreme. Das Fleisch betrachtete seine eigene weiße Haut und brachte vorsichtig zwei bebende weiße runde weiche Backen in pieksigem Gras an und starrte verlegen auf das Bäuchlein, das sich offenbart hatte. Im Paradies, sagte der Geist, waren die Menschen nackt, aber ... – Ist das nicht komisch, unterbrach ihn das Fleisch, ich fühle mich wie ein Kind: Ich bin ein Kind, Körper eines Kindes, Haut und Haar eines Kindes, Augen eines Kindes und inmitten all dieser Herrlichkeit angebracht. Während das Fleisch noch sprach, kam eine Nymphe, die ihre Wohnung in dem kleinen Hain hatte, zwischen den grauen Buchenstämmen herbeigegangen. Ihr Anblick erschreckte den Geist so sehr, daß er ins Unterholz flüchtete, von wo aus er atemlos und in großer Pein dem Geschehen folgte. Die Nymphe war natürlich überrascht, als sie den splitternackten Körper des Optikers Elias Lönn – den sie am wenigsten hier zu finden erwartet hatte – dort liegen sah, in Moos und Gras ausgestreckt; sie blieb stehen und betrachtete ihn schweigend. Der Anblick seines Spitzbäuchleins und der dünnen, blaugeäderten Beine machte sie lächeln, und als ihr Blick auf die Füße und Zehen fiel, die geradewegs in die Luft ragten, schüttelte sie den Kopf und sagte zu sich, arme Füße und arme Zehen, die sind so miserabel, daß sie nach Mitleid verlangen. Weshalb steht Elias Lönns Schicksal dort geschrieben, in der Form der Knochen, der toten, hornigen Haut und der eingewachsenen Nägel? Ist das in Wirklichkeit nicht eine Tragödie? Denn diese Füße sollen ihn ja bis ans Ende seiner Tage tragen, und das gerne einigermaßen anständig unter anderen Menschen. Sie sollten in diesem Dasein sein wahres und elastisches Fundament sein, und nach ihrem Aussehen zu urteilen steht es nicht gut um ihn. Es ist schade um die Menschen, daß sie mit solchen Füßen leben müssen. Oder ist es nicht eher schade um die Füße, daß sie mit solchen Menschen leben müssen? Doch nun will ich zu ihm hingehen und mich auf ein Gespräch mit ihm einlassen und herauskriegen, was er in sich hat, und vielleicht sogar ein wenig im Gras mit ihm tändeln.

      Und so geschah es, daß der Optiker in mittleren Jahren plötzlich in die strengen Augen der Waldnymphe


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