Anatomie der Katze. Poul Vad

Anatomie der Katze - Poul Vad


Скачать книгу
nicht die ganze Wahrheit war, daß die beiden kleinen Körper und Willen gewisse gefährliche Tendenzen bargen und daß es deshalb notwendig war, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.

      Dürfen die beiden kleinen Geschöpfe überhaupt leben, bevor sich das Grab über ihnen schließt? Worauf lassen sie sich ein? So, wie sie da liegen, sprengen sie die Rahmen all dessen, was ich jemals vom Leben gewußt habe. Und sie sind verdammt! Sie sind verdammt! Ich versank in tiefe Melancholie. Ich wurde verschlossen. Ich wurde unaufmerksam, auch den Kindern gegenüber. Wenn das Kindermädchen sie am Abend, bevor sie zu Bett gebracht wurden, zu mir hereintrug, warf ich nur einen zerstreuten Blick auf sie.

      Maria sagte: Du liebst noch nicht einmal deine Kinder!

      Ich aber saß da und dachte daran, daß ich auch einmal so ein Kind gewesen war, so herrlich, so vielversprechend! Und was war ich jetzt? Schloß sich das Grab nicht bereits über mir? In welch entsetzliche Mißgeburt hatten mich meine liebevollen Eltern verwandelt? Gleichzeitig befiel mich eine seltsame Taubheit. Wenn Maria mich ansprach, konnte ich beispielsweise nicht hören, was sie sagte, wohingegen ich mit entsetzlicher Deutlichkeit den Blick ihrer Augen und die Bewegungen ihrer Lippen sah. Gerade weil ich nicht hören konnte, was sie sagte, starrte ich wie hypnotisiert auf ihr Gesicht, wenn es zu mir sprach, und erst wenn sie auf meine Aufforderung hin wiederholte, was sie bereits gesagt hatte, schnappte ich einige der Worte auf. Ganz klar, das ärgerte sie, ich war jedoch außerstande, etwas daran zu ändern, und schließlich schickte sie nach dem Arzt, der meinem Fall jedoch völlig machtlos gegenüberstand.

      So nahmen die Dinge ihren schiefen Lauf, bis ich mich an jenem erwähnten Morgen vor meinem Haus mitten auf der Straße sitzend wiederfand und mit jeder Faser meines Körpers spürte: Das ist nicht mehr dein Haus. Also sammelte ich mich ganz still und ohne mich umzuwenden und zurückzuschauen – das wagte ich nicht, sie stand ja oben am Fenster und sah mir nach, und ich, das Wildschwein, wußte, daß ich schleunigst verschwinden mußte –, schlich in der Dämmerung davon und klopfte bei Sean Kildare Cunningham an, der in Unterhosen herauskam und aufmachte. In der nächsten Nacht kroch ich durch ein Fenster im Erdgeschoß meines eigenen Hauses, drohte dem farbigen Kindermädchen alles mögliche an, wenn sie nicht den Mund hielte, und schlich mich auf Zehenspitzen in das Zimmer, wo meine beiden Jungen schliefen. Ich zündete eine Kerze an und weckte sie. Sie waren zu dem Zeitpunkt zwei Jahre alt und sehr klug. Sie richteten sich in ihren kleinen Betten auf und sahen mich mit ihren großen Augen an, und ich erklärte ihnen, daß ich fortreisen müsse und wie alles zusammenhinge.

      Ich muß sehr weit reisen, sagte ich, und es wird eine schwierige und möglicherweise gefährliche Reise. Sie ist nichts für Kinder, abgesehen davon, weiß ich überhaupt nicht, wohin sie mich führt und ob ich imstande wäre, Essen für euch zu beschaffen. Deshalb muß ich also allein reisen. Außerdem fürchte ich, daß eure Mutter sofort die Verfolgung aufnehmen würde, wenn ich euch mitnähme, und Oma und Opa und alle Onkel und Tanten würden ihr beistehen, und wir hätten überhaupt keine Chance.

      Darin gaben mir die Jungen recht; denn obgleich sie die Ohren etwas hängen ließen, waren sie, wie gesagt, so klug, daß sie das Vernünftige meiner Argumente einsahen. Aber wo willst du hin? fragte Hugo, wenn wir das wissen, könnten wir ja später hinterherkommen.

      Ich erklärte ihnen, daß ich nach Norden führe, nach Chicago, und danach vielleicht nach Osten.

      Gut, meinte Hans, wir erzählen ihnen, daß du zu uns gesagt hast, du würdest nach Mexiko gehen. Dann suchen sie dich in der Richtung, wenn sie dich überhaupt suchen. Auf die Weise kriegst du jedenfalls einen Vorsprung.

      Prima, sagte ich, aber jetzt muß ich euch etwas erklären, weil ich sonst nie mehr die Gelegenheit habe, es euch zu sagen. Ihr bleibt ja nun allein zurück mit eurer Mutter und Großmutter und allen Onkeln und Tanten, und ihr wißt, wie lieb sie euch alle haben. Etwas aber wißt ihr nicht, nämlich, daß sie sich auch gegen euch verschworen haben und euch eine Menge Dinge weismachen wollen, die alle Lügen sind. Vor allem werden sie sagen – denn das versuchen fast alle Menschen kleinen Kindern weiszumachen –, daß das Leben schön ist und ein Geschenk, für das man dankbar sein muß, und daß man sich auf eine Menge Gutes freuen kann. Das jedenfalls ist eine notorische Lüge. Das meiste ist entweder langweilig oder sinnlos oder geradezu unangenehm; deshalb gilt es vor allem, so viele Freuden und Vergnügen an sich zu reißen, wie man nur kann. So erklärte ich ihnen das Leben, und sie stellten viele verständige Fragen, unter anderem fragte Hugo, ob es denn dann nicht das vernünftigste wäre, man schlüge gleich alle Mitglieder der Verschwörung tot. Das ist das schlimmste, sagte ich, wenn man erst damit anfängt, weiß man nicht, wo man aufhören soll. Ich erklärte ihnen, daß sie gezwungen seien, so zu tun, als glaubten sie, was man ihnen erzählte, denn sonst würden sie es sich viel zu schwer machen, und schwer genug sei es sowieso schon. Ich wüßte schon, daß in diesem Theaterspiel eine tiefe Trauer liege, und das schlimmste sei, daß man Gefahr liefe, allmählich selbst daran zu glauben. Doch ab und zu würden sie vielleicht auf einen Menschen stoßen, der ihnen ein geheimes Zeichen des Erkennens geben würde. Worin das Zeichen bestehe, könne ich ihnen nicht sagen, aber sie würden es schon wissen, wenn sie es sähen. Die Nacht verging, die Kerze im Leuchter brannte herunter. Alles stand in einer seltsamen Klarheit vor uns, als sähen und wüßten wir in dieser Nacht alles, was uns zustoßen sollte: nicht in Einzelheiten, nicht so, als wenn ein Hellseher oder Astrologe seine Vorhersagen macht, sondern auf einer exemplarischen Ebene, nach einleuchtenden Prinzipien, die den meisten anderen unverständlich gewesen wären. Wenngleich es mir schien, als hätten wir tagelang miteinander reden können, so erzählte das erste bleiche Licht, das den Anbruch eines neuen Tages verkündete, daß es nun Zeit zum Abschiednehmen sei. Wir umarmten einander, und ich deckte sie ein letztes Mal zu. Als ich auf der Straße stand, war mir klar, daß ich nun wieder allein war. Was bedeutete nun die Vertrautheit der langen Nacht mit den beiden Jungen? Ich schaute mich grimmig um und nahm den Zug nach Süden, als blinder Passagier, nach Mexiko, denn ich wußte, daß meine beiden kleinen Wildfänge mich verraten würden, in der Hoffnung, mich zurückzubekommen, und darüber war ich froh, gleichzeitig aber sagte ich mir, so ein Elend, so ein Elend, und fühlte mich schrecklich traurig, weil ich nichts weiter war als ein viel zu großes, hungriges und sehr einsames Wildschwein.

      Der Zug fuhr auf dem Bahnsteig von Moselund ein.

      Hier hatten die Signalglocken bereits mehrere Minuten zuvor seine Ankunft angekündigt mit dem regelmäßigen, aber dennoch melodischen Läuten, das in jenen Zeiten selbst die allerkleinste Station zu einer Heimstätte konzentrierter musikalischer Poesie machte. Während die Kirchenglocken mit ihrem edlen Klang aus gegossenem Metall immer von erhabenen Themen wie Gottesdienst, Begräbnis, Hochzeit sprachen, ganz zu schweigen von Dingen wie Bränden, feindlichen Angriffen oder todbringenden Epidemien, so überbrachten die beiden Töne der Signalglocke, deren mechanischer Rhythmus so unvergleichlich war, eine alltäglichere Botschaft, ebenso undramatisch und unveränderlich, wie der Alltag nun einmal ist, aber auch ebenso bezaubernd. So etwas, das schätzten die Leute, was aber zweifellos auch daran liegt, daß die Menschen damals insgeheim kindlicher waren, als dies in späteren, depravierteren Zeiten der Fall gewesen ist.

      Zu jener Zeit wurde der Gasthof von Moselund von einer Frau namens Maria Elisabeth Hvide betrieben. Man nannte sie Madame Blanche; sie trug immer große, phantastische Hüte, die eine kosmopolitische Vergangenheit verrieten, und rauchte fremdartige Zigaretten aus langen, bernsteinfarbenen Zigarettenspitzen, die sie zwischen Fingern balancierte, die groß, knochig und zugleich elegant waren – wie ein Zwischending aus solider Ingenieurkonstruktion und insektenhafter Verfeinerung.

      Sie hatte große Zähne, doch das machte nichts, denn sie saßen in einem entsprechend großen Mund und unter der leichten Krümmung einer beunruhigenden und schmeichelnden Nase. Die Zähne zeigte sie ab und zu vor, nicht notwendigerweise beim Lächeln und Lachen, als einen besonders überraschenden Effekt im Theater des Gesichts. Sie staken in einem sehr ausgeprägten Kiefer.

      Madame Blanche hatte zwei Afghanen und ein Pferd, das sie jeden Tag ritt. Sie pflegte am Pfarrhof vorbeizureiten, und wenn der Pfarrer im Garten arbeitete, hielt sie ihr Pferd an und redete mit ihm. Ihr ständiges Gesprächsthema war Sören Kierkegaard, der seit der Studentenzeit des Pfarrers für diesen eine große Versuchung war: War es denn richtig von ihm, daß er sich um ein Amt bemüht hatte, hätte


Скачать книгу