Auf der Suche. Walther von Hollander
dann sieht er ein, daß Stefanie recht gehabt hat, abzuschließen. Man kann die Erörterung ins Endlose dehnen (oh, wie viele Gespräche haben die ersten Ehejahre gebracht!), man kann sich aber auch genügen lassen an dem, was unerwartet hervorbricht, und erst mal abwarten, was davon wahr ist und was wieder vergeht, was Gestalt gewinnt oder Schutt wird.
Er steigt ganz vergnügt in sein Bett und fängt an zu lesen. Er sieht nicht sehr genau hin, was er liest. Es ist ein witziger Artikel über die Wohnungsnot, und da er nie darunter gelitten hat, kann er von Herzen mit dem Autor lachen, der sich für seine Kümmernisse wenigstens ein Zeilenhonorar verdient.
Mit einemmal hört er an Stefanies Zimmertür klinken. Er hält das zuerst für eine Täuschung, und als es ein zweites Mal klinkt, erklärt er jenes Wesen kurzweg für sein Gespenst. Aber da er im Grunde doch ziemliche Angst vor Einbrechern hat, steigt er schnell aus dem Bett, nimmt den Revolver aus der Nachttischschublade, steckt die bewaffnete Hand in die Tasche seines Pyjamas, geht leise auf den Korridor.
Als er um die Ecke biegt, stößt er mit Herbert von Strassow, seinem Stiefsohn, zusammen. Der ist völlig verstört über diese Begegnung und bietet in einem zu großen hellblauen Pyjama mit hochrotem Kopf und abwehrend aufgehobenen Händen ein recht klägliches Bild.
„Aber Lamm,“ lacht Landowski, „was wandelst du hier nacht so gegen Morgen?“
Lemmchen, der im allgemeinen zu seinem Stiefvater wie Mann zu Mann steht — was sich schon dadurch ausdrückt, daß er ihn beim Vornamen nennt —, Lemmchen hat heute einen schlechten Tag. Er steht erst mit hochgezogenen Achseln und sieht in dieser Stellung seiner Mutter lächerlich ähnlich. Dann aber verliert er die Fassung, umhalst Leo und würde am liebsten schluchzen. Aber er nimmt sich zusammen. „Mir ist nicht besonders, Leo,“ sagt er, „ich wollte nur… ich konnte doch nicht…“
„Ja, dann mußt du schon mit mir vorliebnehmen“, sagt Landowski, nimmt ihn beim Kragen und schleift den Widerstrebenden mit. Er bettet ihn auf den Diwan, deckt ihn ordentlich zu, holt eine kleine Lampe, die er als Leselampe auf den Stuhl stellt, gibt ihm ein paar illustrierte Zeitschriften und geht selber wieder ins Bett.
„Wenn du müde wirst, mußt du auslöschen“, sagt er, als er sein Licht ausmacht. Aber Lemmchen ist schon längst eingeschlafen. Leo muß aus dem Bett, um auszulöschen. Er sieht den Jungen eine ganze Weile an. Er liegt auf dem Rücken, die Hände um eine Zeitschrift gekrampft. Der Kopf ist ihm zur Seite gerutscht, die kleine Strassow-Nase steht etwas in die Höhe. Der Stefanie-Mund ist gramvoll zusammengepreßt, und die Augen sind fest zugedrückt, als müsse der Junge etwas Schweres ausschließen. Nur der Wirbel an der Stirn leuchtet golden und friedlich.
Leo löscht aus und tastet sich zu seinem Bett zurück. Daß Kinder Gram haben, ist ihm nicht neu. Aber daß es dieser selbe, halb bewußte und halb unbewußte, dieser ewige, stachelnde Gram um irgendwas Unbekanntes ist — das wußte er noch nicht. Ja — es ist dasselbe, stellt er fest. Nur die Mittel der Bekämpfung sind bei Erwachsenen und Kindern verschieden. „Dazu muß man groß werden“, murmelt er und kann nun endlich einschlafen.
X
Fragen über Fragen
Dr. Karl Breitling steigt die Treppe zu den Raümen von Landowski & Co. hinauf. Er ist sehr sorgfältig, allerdings etwas auffällig angezogen. Er trägt einen hellen Kamelhaarmantel, einen kleinen silbergrauen Velourshut, der vorn und hinten heruntergeklappt ist, Stiefel mit hellem Wildledereinsatz und, wie alle jungen Männer, einen klobigen Bambusstock ohne Verzierung. Der Schnurrbart ist etwas gestutzt und steht nicht mehr über, aber die Koteletten sind geblieben. Unter dem Hut sehen sie wie Schatten oder Schmutzstreifen aus.
Breitling geht gemächlich und zögert auf jedem Treppenabsatz. Wie peinlich, daß dieser Landowski reich ist. Für Breitling, der aus einer armen Familie stammt, ist das eine große Schwierigkeit. Er hat die reichen Leute nicht nötig gehabt. Er hat alle Reisen aus eigener Kraft gemacht. Erst ohne Geld, dann mit etwas Geld, jetzt mit ziemlich viel Geld. Es steht ihm sogar mehr Geld zur Verfügung, als er braucht. Im Grunde aber bewundert er die Reichen immer noch, so sehr er sich mit Gründen und Überlegungen, mit Grobheit und Herausforderung dagegen wehrt (wie er übrigens auch sich selbst bei jedem Hundertmarkschein bewundert, den er ausgibt).
Leo Landowski ist der erste Reiche, der ihm gefällt. Vielleicht denkt er, sind die jungen Reichen erträglicher. Er gibt sich also einen Ruck, springt den letzten Treppenabsatz leicht und leise hinauf, geht durch den kleinen Schalterraum — Landowski & Co. haben kaum Kundenverkehr — und den langen Korridor, der auf der einen Seite die Türen zu den Zimmern der Angestellten hat und auf der anderen Seite eine Reihe von Fenstern in den Hinterhof.
Es ist ein dunkler Tag, und der graue, enge Hof, der von schlecht gepflegten Hinterhäusern umstellt ist, macht einen beklemmenden Eindruck. Breitling bleibt kopfschüttelnd stehen. Er ist erstaunt, daß ein geschmackvoller Mensch täglich diesen Korridor mehrmals zu durchqueren vermag. Er geht dann langsam weiter, indem er die Schilder liest, bis er auf einen Bürojungen stößt, der auf seinem Stuhl eingeschlafen ist. Komisch, wie lautlos hier Geld verdient wird, denkt er. Aber da hört er gerade aus einem Zimmer eine ziemlich heftige Auseinandersetzung. Er kann zwei Männerstimmen und eine Frauenstimme unterscheiden. Was die Männer sagen, ist nicht zu verstehen. Aber die Frauenstimme ist ohne Schärfe durchdringend.
„Und es ist doch gemeine Eifersucht, wenn ihr Teufelmann nicht aufnehmt…“ Und nach einer Pause, die von Gemurmel erfüllt ist: „Daß die letzte Voraussetzung erfüllt wird, dafür ist gesorgt.“
Breitling will zuerst umkehren. Aber dann sieht er auf seiner Uhr, daß die Zeit der Verabredung schon um zehn Minuten überschritten ist, und er tippt den schlafenden Bürojungen auf die Schulter, so daß der aufwacht, erschreckt in die Höhe springt und zunächst behauptet, nicht geschlafen zu haben.
Breitling will gerade den Jungen mit einer Visitenkarte hineinschicken, als von der anderen Seite her (es gibt zwei Aufgänge) Stefanie Landowski kommt, sehr eiligen Schrittes, den Sehleier nach ihrer Gewohnheit halb hochgeschlagen, das Taschentuch in der einen Hand, den Schirm am Gelenk der anderen Hand, eine große Ledertasche an zwei Fingern schlenkernd.
„Da sind Sie schon“, sagt sie freundlich und sieht ihn prüfend an. Er hat die Haarfarbe, die sie liebt. Kornblond mit Asche vermischt. Schade, daß es lockig ist. Schafslocken eigentlich, wenn man sie wuchern läßt, wie sie wachsen wollen. Jetzt mühsam gebändigt und durch einen kleinen Scheitel in zwei ungleiche Teile geteilt.
Sie hat wohl schon ein bißchen lange geguckt — Stirn, Ohren und Nacken muß man beim Mann zuerst ansehen, obwohl manchen Frauen die Nase bedeutungsvoller zu sein scheint — denn es ist still geworden, und man hört nur wieder die Stimmen aus Leos Büro. Der Junge sieht die Frau vom Chef erwartungsvoll an. Stefanie stellt also die Prüfung mit dem vorläufigen Ergebnis „befriedigend“ ein und geht auf die Tür zu. „Es ist eine Sitzung von Mitgliedern des Fünferklubs“, sagt sie, klopft, klinkt vorsichtig, tritt ein und winkt Breitling, mitzukommen.
Stefanie ist enttäuscht, denn es sind nur Windschütz und Clara Höger, und sie hatte gehofft, daß vielleicht auch Christiane da sei. Aber natürlich ist sie auch kein Mitglied des Fünferklubs. Satzungsgemäß muß Clara das einzige weibliche Mitglied bleiben. Stefanie macht die Herrschaften miteinander bekannt, etwas schüchtern, weil sie auch unter der Frauenkrankheit des Nichtvorstellenkönnens leidet, und man rettet sich in ein neutrales Gespräch. Breitling wird verlegen. Die Höger betrachtet ihn gründlich und genau wie ein Ausstellungsobjekt, und er meint der Prüfung nicht standhalten zu können. Windschütz hat die Hände in die Hosentaschen gesteckt und sieht verdrießlich vor sich hin, während seine Finger in der Tasche Klavier spielen. Obwohl er seit einem Jahre sich von Clara getrennt hat, ist er immer noch von einer närrischen Eifersucht. Dieser Teufelmann, denkt er aufgeregt, ausgerechnet Teufelmann. Aber er würde bei jedem anderen das gleiche denken, gegen jeden anderen ebenso wüten und es kurzum für das beste halten, wenn Clara ihr Leben nunmehr unterm Glassturz in seinem Erinnerungsschrank verbrächte.
Die Höger ist äußerst empört über Windschütz, dem sie nie die Spur einer Treue geschworen hat und der außerdem die Satzungen des Fünferklubs, der auf Eifersucht