Sternstunde der Mörder. Pavel Kohout
wittert. Nur um das zertrümmerte Eckhaus auf der Flußseite gegenüber schwärmten Feuerwehrleute und Sanitäter. Verständlicherweise interessierte ihn vor allem das Haus, das er unlängst verlassen hat, wie lange war das wohl her? Er richtete den Blick auf sein linkes Handgelenk, sah deutlich die Zeiger der Armbanduhr, war aber außerstande, sich zu konzentrieren.
Er muß eine gewisse Zeit gelaufen sein. Erst nachdem er wie im Traum an den brennenden Trümmern vorüberkam und über die mit Scherben und Ziegelsplittern besäte Brücke schlenderte, ja viel später noch, als er schon auf der Bank hier ausruhte, ertönte drüben das Feuerwehrsignal, und das erste Spritzenauto erschien. Dafür langten zwei Personenautos viel früher, als er erwartete, bei Seinem Haus an. Dieser Mensch! fiel ihm ein, dieser Schwachkopf, der mich auf der Treppe grüßte. Den hätte ich Auch ...
Nein! Er konnte nicht einfach so einen Unschuldigen umbringen, schon gar nicht einen Mann. Er ist kein Verbrecher, er ist ein Werkzeug. Er ist auserwählt, um zu Läutern. Darum wurde ihm auch die Art und weise vorgeschrieben. Damals in Brünn hat er gepfuscht, ja schmählich versagt. In den Zeitungen hieß es, wer derartiges tun kann, muß Abartig veranlagt sein. Doch er war nur ungeschickt. Und verschuldete damit, daß man die Botschaft nicht erkannte. Sein Glück, daß er wegen seines Versagens nicht selbst bestraft wurde!
Man brauchte mich noch!
Er lachte laut auf vor Freude, daß es heute so perfekt klappte. Was müssen die dort für Augen machen? Was sagen sie dazu? Diesmal werden sie begreifen! Sie werden ganz anders über ihn schreiben! Vielleicht bringen sie auch ihr Foto, bestimmt, so etwas läßt sich doch nicht mit Worten schildern. Ihn erregte der Gedanke, daß sie ihm so von selbst einen Beweis beschaffen: ein unbestreitbar getreues Abbild seines Werkes, so sehr dem Bild ähnlich, das Sie ihm einst als Vorbild zeigte.
Eigentlich kam ihm erst jetzt zum Bewußtsein, was in der Wohnung alles vor sich ging. Wie er sich erinnerte, war er auf seltsame Art abwesend, während er es tat, als lenkte ihn wirklich ein fremder Wille. Was er machte, sah und hörte, erreichte weder sein Bewußtsein noch sein Gefühl. Es wurde aufgezeichnet. Und begann sich erst jetzt, mit Verspätung, wie ein rückwärts laufender Film abzuspulen.
Die Vergangenheit wurde wieder gegenwärtig, mit der Sonne löschte sie auch den Fluß vor ihm aus, tatsächlich erlebte er erst jetzt jeden seiner Handgriffe im Dämmerlicht des Zimmers nach, nahm jede ihrer Reaktionen wahr. Und er staunte über seine Kaltblütigkeit und Geschicklichkeit, mit der er so rasch und exakt diese schrecklich, schrecklich komplizierte Aufgabe erfüllte. Nein, er war nicht mehr der armselige Stümper aus Brünn; ohne es zu bemerken, reifte er in diesen scheinbar fruchtlosen Jahren zu einem Meister heran, vergleichbar mit jenem unbekannten Maler ...
Auch sie hat das merken müssen! Während das Brünner Flittchen noch bettelte und wie von Sinnen kreischte, sich dabei sogar bemachte, pfui! gerade das stieß ihn am meisten ab, erkannte diese hier augenblicklich sein Recht an. Vielleicht hätte sie auch ohne Knebel nicht geschrien, doch das konnte er nun doch nicht riskieren. Sie hörte auf zu leben, ohne daß er es gleich gewahrte, da sie auch nachher noch fast hündisch die Augen auf ihn richtete. Er tat, was noch zu tun war, und als er zurücktrat, sah er, daß Es gut war.
Damit war der Film zu Ende, das Licht ging an, und wieder war der Fluß da. Er bemerkte, daß die Rast ihn noch mehr ermüdete. Mitleidlos gebot er jedoch seinen erschlafften Muskeln, ihn samt seiner Tasche aufzuheben und durch die wenig vertraute Stadt zu bewegen, auf der Suche nach einem Ort, wo er Ihr, die ihm den Befehl erteilt hat, die Ausführung melden wollte. Am besten in einer Kirche doch!
Durch das Fenster, das unter der Druckwelle zerborsten war, zog der frostklare Tag herein. Die scharfe Luft korkte den Magen zu. Kriminaladjunkt Morava mobilisierte dabei seinen ganzen Geist, so wie er es zu Beginn seiner Laufbahn getan hatte, diesmal, um in den Augen der Deutschen nicht als grüner Junge dazustehen. Ihrer waren hier sechs, alle bis auf einen in langen Ledermänteln, welche auch im Protektorat Böhmen und Mähren zur Ziviluniform der Geheimpolizei geworden waren. Ihr Häuptling schien der Riese zu sein, dessen Brustkasten das dicke Leder zu sprengen drohte.
Morava stellte sich lieber allen zugleich vor, und da sie nur abwartend nickten, nahm er das als Aufforderung, mit der gewohnten Amtshandlung zu beginnen. Ohne weitere Worte zog er sein zusammengeknifftes Heft aus der Tasche und trug auf einer leeren Seite seine Bemerkungen für den späteren Bericht ein. Berans Schule: Der Polizeifeldscher, Morava, würde sich schieflachen, doch unsereins verschafft sich auf diese Weise ein menschliches Bild, bevor es vom Fachrotwelsch verwischt wird!
Tatsächlich ließen sie ihn bei seiner Arbeit in Ruhe, unterhielten sich sogar nur halblaut, als wollten sie ihn nicht stören. Der geübte Blick von der Seite erlaubte ihm, auch sie zu beobachten, um zu erraten, was sie wohl von ihm haben wollten. Zumindest mußte er sich nicht mit seinem ganzen Kopf diesem ekelerregenden Bild widmen.
Allein der Zivilist im beigefarbenen Raglanmantel verhielt sich wie ein Kriminalist: Schweigend sah er Morava zu, wie er durch den Schnee aus feinen Scherben rund um den Tisch mit dem Frauentorso watete und die linierten Seiten mit winzigen Schriftzügen füllte. Doch als er fertig war, sprach ihn der Vierschrötige an. Ein hoher SS-Dienstgrad stand ihm auf die Stirn geschrieben, er trat sogar breitbeinig vor ihn hin und stemmte, getreu dem Vorbild seines Führers, die Arme in die Seiten.
«Ihre Meinung?»
In aller Knappheit, so wie man es ihm beigebracht hatte, antwortete er.
«Ein sadistischer Mord.»
Der Deutsche herrschte ihn an.
«Das haben sogar auch wir schon erkannt. Mehr wissen Sie nicht?»
Von jeher hatte Morava sein Problem mit Leuten, die ihre Stimme steigerten. Sein polternder Vater hatte ihn bis zu seinem Tod für einen Angsthasen gehalten, und dieser Ruf hing Morava noch in Prag an. Erst Hauptkommissar Beran erkannte, daß dies ein angeborener Abscheu gegen jede Kraftmeierei war, mit der sich Denkschwäche tarnte, und heilte ihn mit Vertrauen. Morava mußte sich jetzt räuspern, erwiderte dann aber fest.
«Im Augenblick weiß ich nicht mehr, als ich gerade sehe. Ich müßte eine Untersuchung einleiten, in diesem Fall jedoch ...»
Der Mann, den er für einen Kriminalisten hielt, fiel ihm ins Wort.
«Der Herr Standartenführer wollte wissen, ob Sie darin irgend jemandes Handschrift erkennen?»
Morava blickte wieder auf die Leiche. Die Übung hatte gesiegt, er war in der Lage, in ihr das bloße Objekt einer Amtshandlung zu sehen. Die bizarre Art, in der der Mörder mit ihr umgegangen war, erinnerte ihn an nichts, was er in seinen wenigen Lehrjahren gelesen oder erfahren hatte. Er schüttelte den Kopf. Der Mann fragte weiter.
«Hat es hier eine Sekte gegeben, die zu so einer Tat fähig wäre?»
Zu dumm, daß er darauf nicht gekommen war. Ja, dahinter konnte sich ein Ritus verbergen, aber welcher? Aus der nationalen Geschichte war ihm nichts Derartiges bekannt.
«Ist mir nicht bewußt.»
«Wo steckt Ihr Chef überhaupt?» tobte der Vierschrot ungeduldig los.
Früher, als Morava noch unter Brüllen litt, hatte er immer versucht, sich die Schreiaffen ohne Kleider vorzustellen. Das klappte auch jetzt. Vor ihm stand ein gemästetes Schwein, das ihm keine Angst einflößte.
«Mit allen anderen Kollegen auf Besichtigung», erklärte er ihm, «die Stadt ist zum erstenmal bombardiert worden.»
«Ach nein!» der SS-Mann wurde wieder giftig, «das haben wir kaum bemerkt! Wissen Sie, was Bombardieren heißt, Mensch? Schauen Sie sich Dresden an!»
Er wirkte plötzlich fast beleidigt. Morava vergegenwärtigte sich die Waschbecken und Klosettschüsseln, die aus der Wand des Eckhauses ragten und kurz zuvor noch von den Bewohnern benutzt worden waren. Die haben es bestimmt bemerkt! Die wächserne Leiche auf dem Tisch, dieser ganze panoptikumähnliche Altar holte ihn in die Gegenwart zurück.
«Der Herr Polizeipräsident hat Weisung erteilt, nach dem Hauptkommissar suchen zu lassen, er wird bestimmt bald zur Stelle sein.»
Wiederum