Akazien. Walther von Hollander

Akazien - Walther von Hollander


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über Sechzig wäre, und die große Frage beschäftigt mich: Wird man so alt, wie man werden kann, das heißt: stirbt man dann, wenn man eine andere Gestalt nicht mehr erlangen kann, oder hätte er doch noch eine andere Gestalt erreicht, wenn er nur weitergelebt hätte?

      Ich weiß, ich drücke mich schlecht aus. Aber Du wirst mich schon verstehen, obwohl Du knapp vierzig bist und ich schon sechsundvierzig und man doch eigentlich weise frühestens mit fünfundvierzig wird.

      Was ich sagen wollte, ist dies: Reinhold mit seiner Schärfe, seiner Schneidigkeit und Zweischneidigkeit konnte seiner Natur nach nicht älter werden als fünfzig oder fünfundfünfzig. Als weiser Greis ist er nicht denkbar, ja nicht einmal als ein Sechziger, bei dem doch auch das Herz zu sprechen anfängt. Aber da sehe ich Dich schon lachen. Du weißt natürlich, worauf ich hinaus will. Ich will mich entschuldigen. Vor mir, vor Dir. Vielleicht sogar vor den Kindern. Aber ich sage doch nichts anderes damit, als was wirklich gewesen ist. Der Mensch stirbt meinem festen Glauben nach an sich selbst und nicht an anderen. Wenigstens ist das meine Hoffnung.«

      Sie saß eine Weile bewegungslos und sah über die Blütenplantage von Kirschbaum und Flieder im Garten. Dann schrieb sie sehr schnell in ihrer winzigen Schrift, die sich fast runenartig ausnahm, den Brief zu Ende:

      »Natürlich . . ., wenn man unsicher ist, drückt man sich möglichst heftig aus. Wenn ich irgendwas ernstlich glaubte, hätte ich nicht herzufahren brauchen. Und jetzt, hier auf dem Balkon des etwas schäbigen und altersschwachen Hotels, das einen verblichenen Glanz von lebensgroßen Fürsten-Fotografien her ausstrahlt (mit eigenhändiger Widmung und dem Zeugnis, daß der alte Fürst genau am 23. 6. 96 im Parkhotel vorzüglich gespeist hat, Mockturtle-Suppe als erstes natürlich) . . ., hier auf diesem Balkon begreife ich nicht mehr, was mich mit solcher Gewalt hergezogen hat.

      Es ist alles hell, nüchtern und von einer, weil es Frühling ist, lieblichen Alltäglichkeit. Wer hier lebt, führt ein Leben ohne Hintergrund und Untergrund vor der grünen Kulisse des Heuberges, des Hirschfelsens oder des Nesselkopfes. Vielleicht, niemand (niemand?) hat mir ja befohlen, herzufahren, fahre ich genauso Hals über Kopf wieder weg, wie ich hergekommen bin. Die Gräber brauchen mich nicht. Für sie sorgt der Gärtner Bräutigam. Natürlich denkst Du wieder, dieser Name ist eine Erfindung oder Übertreibung von mir. Aber die Wirklichkeit ist erfinderischer als ich. Bräutigam ist nicht nur Friedhofsgärtner, sondern auch stellvertretender Totengräber, weil der amtliche krank ist. Und im übrigen gibt’s auch sonst noch allerlei gegenteilige Namen hier, die ich vergessen hatte. Der Konditor heißt Bitterlich. Der Kohlenhändler Kühl und Sohn, als ob so ein Sohn den unpassenden Namen wärmen könnte. Vielleicht also bin ich vor meinem Brief noch da, und Du kannst mich auslachen. Deine Marianne.«

      Sie stand auf. Sie faltete das Blatt zusammen, steckte es in einen Umschlag, wollte ihn schließen, nahm den Brief noch einmal heraus und schrieb ganz schnell hinzu: »Kann aber auch sein, ich muß mich ausheulen.«

      3

      Als sie aus dem Wald herauskam und nun in den schmalen, stadtabgekehrten Friedhofsweg einbog, lag die Sonne scharf blendend auf ihrem Gesicht. Sie nahm die schwarze Brille aus der Handtasche und setzte sie auf. Hinter den Gläsern, die die Welt des Frühlings durch eine sanfte Trauerfarbe dämpften, fühlte sie sich sicherer.

      Sie trug immer noch den leichten, halblangen Pelz, obwohl der Wind nachgelassen hatte und es ziemlich warm war. Hier auf dem schattenlosen Friedhofsweg war es sogar sehr warm. Merkwürdig, man ging doch unter Bäumen. Warum gab es keinen Schatten? Sie blickte auf. Wieder errötete sie, so daß die helle Haut aufflammte und die Sommersprossen der Stirn dunkler wurden. Natürlich: der Weg wurde ja von Akazien begleitet, deren Laub noch nicht herausgekommen war und die dicht vor der Blüte standen. Frau von Schellemarr ging schneller, so, als müßte sie den Akazien noch vor der Blüte entkommen.

      Auf dem Friedhof nahm sie nicht den verschatteten Hauptweg, der hinüberführte zum »frischen« Teil des Friedhofs, sondern bog rechts ab. Gleich darauf stand sie vor dem Erbbegräbnis der Schellemarrs.

      Der Engel, riesenhaft mit breiten, marmornen Flügeln, war gerade gereinigt worden. Kalkweiß leuchtete der Marmor über den alten Gräbern. Die Rechnung über dreiundfünfzig Mark und achtzig Pfennig trug sie in der Handtasche. Sie war der eigentliche Anlaß, wie man so sagt, hierherzufahren.

      Links hinten, unmittelbar unter dem Engel, lagen Louis Freiherr von Schellemarr, Generalleutnant und Kammerherr, und seine Frau Louise, geborene Gräfin Chappron. Davor deren Sohn, Oberstleutnant Louis von Schellemarr, Hofmarschall beim Fürsten, gefallen bei Saint-Privat 1870, davor dessen Sohn, Oberstleutnant und Kammerherr Reinhold von Schellemarr, gefallen 1916 bei Verdun, davor deren beide Frauen, gestorben 1918 und 1922 (eine hatte Mann und Sohn, die andere nur den Mann zu betrauern, bevor sie hier zur Ruhe kam). Und hier vorn, vor ihren Füßen, lag Reinhold von Schellemarr, Rechtsanwalt, Rittmeister der Reserve a. D., Inhaber des Eisernen Kreuzes erster und zweiter Klasse, gestorben 1924, sechs Jahre nachdem er aus dem Krieg gekommen war, der seinen Vater im Alter von neunundsechzig Jahren genommen hatte und ihn verschonte, obwohl die Schellemarrs anstandshalber im Krieg zu bleiben pflegten und nie und nirgends Drückeberger gewesen waren.

      Frau von Schellemarr legte den Kranz zurecht, den der Gärtner Bräutigam in ihrem Auftrage am Tage zuvor hier niedergelegt hatte, einen Kranz von gelben Rosen und weißen Strohblumen. Seit dreißig Jahren waren das die Maikränze, die Herr Bräutigam herstellte. Wer im Mai starb, bekam gelbe Rosen aus dem Treibhaus und weiße Strohblumen aus dem unerschöpflichen Vorrat auf dem Boden, und wer im Mai einen Kranz bestellte, der hatte eben auch gelbe Rosen und weiße Strohblumen zu nehmen.

      Die Gräber waren übrigens tatsächlich, wie Herr Bräutigam versichert hatte, »tadellos gepflegt«. Der Efeu war gestutzt. Die Rosen, die die Steine umwuchsen, waren sauber geschnitten und mit Bast festgebunden. Die goldene Schrift auf den Kreuzen hatte man erneuert. Wie es schien, war der Maler bei seiner Arbeit unterbrochen worden. Denn auf dem Kreuz des Rechtsanwalts leuchtete nur der Vorname Reinhold in neuem Gold, und auch die Orden hatte man frisch bronziert. Familienname aber, Titel und Jahreszahlen lagen noch im Schatten.

      Marianne fand jedenfalls nichts zu tun. Nicht einmal begießen konnte sie. Denn die Kanne war ordnungsgemäß und dem Paragraphen sechs der Friedhofsordnung entsprechend (»Der Bürgermeister, gez. Hollenbeck«) angeschlossen und der Schlüssel beim Friedhofswärter oder in dessen Behinderung bei seinem Stellvertreter gegen Ausweis abzuholen.

      Witwen sind überflüssig, dachte Frau von Schellemarr. Sie sah schon, wie sie wieder eine Zeichnung für Melanie machen würde: eine Dame mit Eulenaugen, sieben Gräber, die Trauerweide, die hier, von drei Generationen gepflegt, zu gewaltigem Trauergehänge ausgewachsen war, die Steinkugeln, die alle vier Ecken der Grabstätte wehrhaft schmückten und durch stachlige Eisenketten miteinander verbunden waren, als sollten die Toten an diese Stätte gefesselt werden. Dazu die kleine Holzbank, weiß, mit grasgrünen Eisenbeinen und den Buchstaben v. S., damit nicht etwa ein anderer auf den Gedanken käme, sie zu Trauerzwecken auf sein eigenes Grab zu verpflanzen.

      Einen Augenblick nahm Marianne Platz, schlug die Beine übereinander und zog den Rock etwas herunter. Gerade kamen ein paar ältere Herren vorbei, die, gebändigte Wehmut im Blick, die Beine der fremden Frau sorgsam prüfend betrachteten.

      Es war alles scheußlich nüchtern und durchsichtig. Sie hatte hier nichts zu tun und kaum etwas zu fühlen. Mit einem Ruck stand sie auf, um endlich das »Eigentliche« zu unternehmen.

      Sie ging schnell den Hauptweg hinunter. Die Trauerbäume streiften sie mit hängenden Ästen. Sie hätte auch mit geschlossenen Augen hingefunden. Vierhundert Schritte – dann mußte man rechts abbiegen. Fünfzig Schritte – dann kam die Mauer, die den Friedhof gegen den Sandsteinbruch abschloß. Richtig – da drüben sah man schon die Rundwipfel der vier hohen Akazien. Im scharfen Sonnenlicht entfalteten sie die schmalen Rispen der Blätter. Die Knospen hingen noch geschlossen wie winzige Trauben. Frau von Schellemarr ging durch ein Gebüsch von Schneeball, der gerade aufgeblüht war und ein wenig von seinem Schnee auf ihrem Haar abstreifte. Dicht neben einem großen Drahtgeflecht, in das man die verwelkten Kränze, die verwitterten Schleifen, die vermoderten Palmwedel, die verrotteten Wachsblumen und Perlkränze hineinwerfen


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