Akazien. Walther von Hollander
sehr, Herr Sanitätsrat.« Rommel, den Hut unentschlossen über dem Scheitel haltend: »Da Sie mich doch aber kennen, meine Gnädigste . . .« Frau von Schellemarr, sich abwendend: »Der Oberkellner Fritz hat mir verraten, wer Sie sind. Eine angenehme Nacht, Herr Sanitätsrat.«
Damit ließ sie ihn stehen. Sie war plötzlich zornig. Es dämmerte ihr – sie hatte es ganz vergessen –, daß sie mit Rommel noch eine Rechnung zu begleichen hatte. Sie ging sehr langsam auf das Hotel zu. Die Kirschen dufteten in den Gärten. Der Flieder blühte. Es war wärmer geworden, und der Regen stand dicht über den Häusern, bereit, aus den warmen Wolken herunterzufallen.
Daß Rommel es wagte, sie anzureden! Sah sie etwa aus, als ob sie Anschluß suchte oder Abenteuer? Sie mußte lachen. Denn in ihrer Empörung erinnerte sie sich, daß es eine Zeit gab, in der sie sich heimlich, im innersten Herzen, danach sehnte, ebenso wie andere Frauen zu leben, von Männern verehrt und verfolgt zu werden. Aber die Männer kümmerten sich nicht allzuviel um sie, bis Friedrich von M. kam. Seitdem hatte sie Erfolg – und wollte ihn nicht mehr. Und seit er tot war – wie viele Bewerber waren gewesen um ihre Schönheit, ihre Klugheit, ihr Geld! Er hatte es ihr prophezeit: »Liebe weckt Liebe. Ein Liebender wird geliebt.« Er hatte recht. Auch in einem anderen für sie sehr schmerzhaften Sinne. Weil er sie geliebt hatte, mußte sie ihn lieben.
Sie sah ihn aus dem Wald kommen, an einem Wintertag. Er war auf einem Stoßschlitten, dem sogenannten Rennwolf. Sie ging auf Skiern in den Wald hinein. Damals waren sie sich erst drei- oder viermal begegnet, und es war immer Zufall gewesen. Aber diesmal zweifelte sie, ob er wirklich zufällig von einem größeren Ausflug kam, wie er behauptete. Warum war er so wenig winterwarm, da er doch Stunden und Stunden gelaufen sein mußte? Sie sagte: »Kommen Sie wirklich von weit her?« Er lachte: »Ja, aus Persien.« Er überreichte ihr eine kleine Ausgabe des »Westöstlichen Diwans«: »Es war hier so sonnig an der Waldecke«, sagte er, »man muß einfach von Rosen träumen.« Marianne lachte: »Schade . . ., ich habe noch einen weiten Weg vor.« Sie erzählte zu ihrer eigenen Verwunderung, wie sehr sie sich jeden Schlaf erkämpfen, erlaufen müßte. Wie sie eigentlich nur dann tief schlafen konnte, wenn ihr das Herz unerträglich schwer, das Leben nicht mehr weiterzuschleppen war.
Indem sie das sagte, ärgerte sie sich schon. Was ging diesen fremden Mann ihr Schlaf an und ihr Herz? Friedrich von M. aber schien ihr Vertrauen selbstverständlich zu finden. Er sagte:
»Sie haben ein kluges Herz. Wenn etwas nicht zu tragen ist, dann müssen wir tief schlafen. Wenn es gar nicht zu tragen ist, müssen wir sogar sterben. Aber solange dieses Leben auszuhalten ist, so lange soll man wach sein, soviel man kann. Seien Sie doch froh.«
Frau von Schellemarr antwortete spöttisch: »Wenn Sie gestatten, bin ich darüber nicht froh.« Friedrich von M. nickte. Dann sagte er in seiner etwas dozierenden Weise: »Wenn Sie tatsächlich zu wenigem Schlaf erschaffen sind und demnach zu vielem Wachen . . ., dann müssen Sie eben sehen, daß Sie recht glücklich werden. Das macht jedes Wachen so leicht. Klar?«
Marianne schüttelte den Kopf. Es sei ihr gar nicht klar; manchmal scheine es ihr, als lebe sie viel zu lange. Sie habe schon ihren Vater und ihre Mutter überlebt. Sie sei also schon recht alt. Denn im Überleben zeige sich doch das eigentliche Alter.
Und mit einemmal war sie es satt, diesem Menschen immer mehr zu sagen, als sie wollte, vertraulicher zu sein, als es ihrer Natur entsprach. Sie wandte sich dem verschneiten Wald zu. Nur ein wenig. Aber Friedrich von M. spürte aus der leisesten Bewegung, was sie bewegte. Er sagte: »Ich muß auch machen, daß ich nach Hause komme. Meine Leute warten.« (Er hatte aber niemanden, der auf ihn wartete.)
Damit gab er seinem Schlitten einen Stoß. Er hatte ihr nicht einmal die Hand gereicht.
Als er schon zwanzig Meter weg war, bemerkte sie, daß sie den »Westöstlichen Diwan« in der Hand hielt. Sie rief: »Hallo! Ihr Buch, Ihr Buch!« Er hielt an. Lachend rief er zurück: »Aber das habe ich Ihnen doch mitgebracht!« Sie rief: »Ich denke, Sie waren zufällig hier?« Er antwortete: »Alles Lüge. Leben Sie wohl.« Damit war er in einer Schneewolke verschwunden. Marianne von Schellemarr schlug das Buch an den beiden Stellen auf, die ein Zeichen trugen. Die erste lautete:
Sie mögen’s ihm freundlich lohnen,
Auf liebliche Weise fügsam,
Sie lassen ihn mit sich wohnen,
Alle Guten sind genügsam.
Du aber bist mir beschieden,
Dich laß ich nicht aus dem ewigen Frieden.
Und die zweite Stelle:
Schärfe deine kräft’gen Blicke,
Hier durchschaue diese Brust,
Sieh der Lebenswunden Tücke,
Sieh der Liebeswunden Lust.
Marianne von Schellemarr schauerte. Die wärmende Kälte des Schneewaldes, der sonnige Hang, die Stille, das leise Knirschen der Skier, der sanfte Druck des Buches, den sie im Gürtel spürte . . ., das alles verließ sie, und statt dessen war hier die warme Mainacht, war hier ein langer Bretterzaun, der einen wilden Garten abschloß. Flieder. Ein kleiner Bach. Ein winziges Mühlrädchen, von Kindern gebaut, klapperte nun auch schon dreißig Jahre unter den Wassern.
Jetzt kam ein kleiner Platz. Ein hoher Herr stand seinem Amte gemäß auf einem Postament, uniformiert wie die meisten hohen Herren, gestützt auf sein Schwert, das er sicher nie gegen einen Feind gezogen hatte. Es war der »alte« Fürst, so genannt im Gegensatz zum jungen, durch den Krieg abgesetzten Fürsten, den sie gut gekannt hatte. Reinhold von Schellemarr war sein Rechtsberater gewesen und sein Jagdgast. Der junge Fürst hatte eine etwas klagende Stimme, eine melancholisch-witzige Art, zu sprechen. Gar nichts Heldisches oder Gegürtetes. Er war einfach ein müder Mann.
Sie kam ins Hotel. Sie sah noch einmal den alten Fürsten, diesmal in Öldruck mit einer breiten Schärpe und einem sachlichen Fürstenlächeln, und daneben hing der junge Fürst, der auch alt aussah.
Marianne ging schnell in ihr Zimmer. Sie stand am Fenster. Es war, als hätte der Regen nur darauf gewartet, daß sie unter Dach kam. Denn jetzt begann es heftig zu rauschen. Die Bäume standen still und geduckt. Der Staub auf dem Fensterbrett sprenkelte sich, wurde weggewischt, weggespült. Jetzt begannen die Traufen zu singen.
Frau von Schellemarr stand lange. Wenn es wirklich wahr war, daß ihr Wachen einen Sinn hatte, daß ihr zarter Schlaf einen Sinn hatte, daß ihr Leiden einen Sinn hatte, dann war es ja gut. Oder –? Friedrich von M. hatte auch einmal gesagt: »Warum suchen Sie überall einen Sinn? Ist es nicht genug, daß Sie leben?« Und nach einer Weile, natürlich beim Weggehen, in seiner verschmitzten Art, die man nie ganz verstehen, auf die man nur schwer etwas erwidern konnte: »Wenigstens für mich ist es genug.«
8
Das Fenster des Hotelzimmers ging auf einen Park, nach dem das Hotel Parkhotel hieß. Die Nacht schien herein, mit den dunklen Ästen einer Linde, und wenn sie sich etwas aus dem Bett bog, konnte Frau von Schellemarr einen Baum erkennen, dessen Äste noch ziemlich kahl waren: eine Eiche oder eine Akazie.
Sie lag nun schon zwei Stunden wach. Der Regen war weniger heftig geworden. Aber immerhin, seine Melodie konnte das Wasser in der Rinne weitersingen. Marianne hatte versucht, einmal »das Ganze« zu überdenken. Jetzt, nicht wahr, nachdem sie dieses und jenes wiedergefunden hatte, nachdem sie sogar festgestellt hatte, daß in ihrem kleinen Koffer oben im Deckel das kleine Exemplar des »Westöstlichen Diwans« sich versteckt hatte, jetzt mußte es doch möglich sein, Stein für Stein zu fügen.
Sie war von Natur ein sehr ordentlicher Mensch. Es war ihr wichtig, daß alles in ihrem Leben begründet war oder doch wenigstens der Reihe nach, gut verständlich, vor sich ging. Warum ließ sich ihr Leben nicht so ordnen? Warum ließ sich nicht begreifen, was sie getan und unterlassen hatte?
Sie hatte in diesen zwei Stunden den Schatten Friedrich von M.s beschworen und wieder beschworen, Gestalt zu werden. Aber wie er im Leben seltsam halsstarrig nach eigenen Gesetzen (nach unerforschlichen hatte sie einmal gesagt) sein Leben führte, so schien er es auch noch als