Akazien. Walther von Hollander
nicht gekommen. Jetzt hatte sie in einem plötzlichen Einfall ein Gespräch mit ihrer Tochter Clara angemeldet. Berlin meldete sich schnell. Rechtsanwalt Wegener, der Schwiegersohn, war am Apparat. Er lachte sein herzliches juristisches Lachen. Eine großartige Idee von der Mama, um ein Uhr nachts anzurufen. Clara war gerade unten, Gäste fortbringen. Gleich würde sie wieder oben sein. Er rief noch etwas Lustiges vom Balkon hinunter. Frau von Schellemarr sah die kleine Wohnung am Breitenbachplatz vor sich, mit dem viereckigen Balkon, der aus dem Dach herausgebaut war, den winkligen Stuben, den allzu geraden Möbeln, mit dem ganz und gar unkantigen, nüchternen, wirklichkeitsverschmolzenen Doktor Wegener und mit Clara, die ihrem Namen alle Ehre machte, sehr klar war, aber auch ein wenig nüchtern, auf Erfolg aus, sparsam, genau, sogar mit dem Herzen. Sie dosierte sicherlich die Gaben ihrer Liebe wie ein Arzt. Und wußte in jedem Augenblick, was sie für die Dinge bekam, die sie gab. Darum würde sie nie viel bekommen.
Jetzt zwitscherte ihre Stimme im Apparat. Frau von Schellemarr wußte nicht den Grund anzugeben, weshalb sie plötzlich und mitten in der Nacht angerufen hatte. Sehnsucht . . ., das war ein Wort, das Clara nur im Kino gelten ließ. Verlassenheit? Das würde sie, Marianne, nie zugeben. Also sagte sie lieber die Wahrheit: sie wollte Claras Stimme hören. Sie wollte sich erinnern, daß sie Kinder hatte, um die, wie Reinhold von Schellemarr gesagt hatte, es sich für jede Frau und Mutter wohl lohnte zu leben.
Das Gespräch, vom Regen begleitet, von Lachen unterbrochen, dauerte nicht lange. Mutter und Tochter sagten einander einiges Liebe und Gute. Die wirklichen Fragen zwischen ihnen blieben unbeantwortet, die leeren Räume unausgefüllt. Trotzdem hatte der Anruf ein Ergebnis: Marianne wußte plötzlich wieder, warum sie nicht von ihren Kindern die Antwort bekommen konnte, die sie suchte.
Natürlich, als sie kaum eingeschlafen war, spazierte Friedrich von M. in ihren Traum hinein. Eigentlich war es gar kein Traum, sondern mehr eine Erinnerung im Schlaf, ein ganz klein wenig von Traum über die Wirklichkeit hinausgehoben.
Sie ging zum Beispiel nicht mit ihm die vielen Stufen zum Steinbruch hinunter, sondern sie schwebte von Stufe zu Stufe, und er schwebte neben ihr.
Jetzt standen sie unten und sahen die steile Wand hinauf, in die die Steinbrucharbeiter sich ein paar Höhlen als Regenschutz geschlagen hatten. Das war der Akaziengrund, ein Talkessel, von den Steinhauern im Laufe von Jahrhunderten gegraben. Sie traten zusammen an den kleinen Teich. Claus und Clemens standen im Wasser, die Hosen hochgekrempelt, und fingen Feuersalamander.
Plötzlich waren sie weggewischt. Aber sie waren nicht etwa untergetaucht oder gar ertrunken, sondern es war eben ein anderer Tag. Nur die gleiche Sonne schien. Die Salamander sonnten sich auf den Steinen. Marianne saß mit Friedrich von M. am Rande des Tümpels. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen. Er sagte: »Sie brauchen davon keine Notiz zu nehmen. Aber es wäre eine verdammte Feigheit, wenn ich’s Ihnen verschwiege.« Marianne fragte, obwohl sie genau wußte, was er meinte: »Was meinen Sie denn?«
Friedrich von M. stand auf, tippte mit einem Finger auf ihren Arm und sagte, als scherze er: »Daß ich Sie liebe, meine Liebe. Daß Sie meine Liebe sind, liebe Marianne. Wahrscheinlich ist es Ihnen nicht lieb. Aber Liebesdinge kann man nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt lenken. Wenn der mal verpaßt ist . . .«
Er sah auf sie hinunter, die den Feuersalamandern zusah. Er sagte: »Antworten Sie doch. Oder haben Sie nichts dazu zu sagen?« Marianne schüttelte den Kopf. Friedrich von M. wiederholte hartnäckig: »Antworten Sie. Sie sollen antworten.« Jetzt sah sie ihn an. Und plötzlich kniete er neben ihr. Er packte sie bei den Schultern. Er flüsterte: »Ich weiß ja auch so, daß Sie mich lieben. Nein . . . Sie sollen es nicht sagen. Sie brauchen es nicht zu sagen. Sie dürfen es ja nicht einmal sagen.«
Marianne antwortete trotzig: »Warum darf ich nicht?« Friedrich von M. erwiderte spöttisch: »Ich bin nicht verheiratet, meine Gnädige. Ich habe auch, soviel ich weiß, keine Kinder. Und wenn ich sie wissentlich hätte, ich könnte und wollte sie nirgends vergessen. Sehen Sie . . ., so ist das. Das nennen die Leute dann ein Problem.«
Marianne erhob sich, ohne etwas zu sagen. Sie lief die steilen Stufen den Steinbruch hinauf. Sie lief und lief. Und das einzige, was diesen Traum von der Wirklichkeit, die geschehen war, unterschied: jetzt in dem Traumlauf blieb der schattenhafte Friedrich von M. neben ihr, und sie kam nicht vorwärts. Damals aber, in dem wirklichen Lauf, war sie ihm entkommen. Denn er war zurückgeblieben, und als sie sich zurückwandte und von oben hinabblickte, sah sie, wie er am Tümpel stand und Steine warf.
9
Der nächste Tag war schon beinah ein Sommertag. Marianne von Schellemarr saß vor dem Parkhotel zwischen immergrünen Efeuwänden. In der benachbarten Efeuloge unterhielten sich zwei Geschäftsreisende laut und ungeschminkt über das, was sie ihre Liebeserlebnisse nannten. »Wer viel reist, kann viel erzählen«, grunzte der eine, als er fortging. Der andere steckte sich eine Zigarre an und sang dazu, mit einem hübschen Tenor übrigens: »Wer hat denn die Liebe erfunden . . ., wer konnte so töricht sein?«
Marianne von Schellemarr steckte sich ihre Zigarette in die lange Meerschaumspitze, die sie in einem Rosenholzetui bei sich trug. Die Spitze war gleichmäßig braunschwarz. Friedrich von M. hatte sie ihr aus Marseille geschickt, damals, als er nach Afrika fuhr, um in dem dunklen Erdteil unterzutauchen.
»Wenn die Spitze schwarz ist wie Negerhaut«, so hatte er geschrieben, »dann mag der Bann gebrochen sein. Dann werde ich wiederkommen.« Er war aber viel früher wiedergekommen. Die Zigarettenspitze war erst hellbraun, und er . . ., was hatte er geschrieben, als er sich einschiffte, um zurückzufahren . . ., er war ungesund braun »oder, besser gesagt, vergilbt wie ein Blatt, das bald vom Baume fallen wird«.
Frau von Schellemarr nahm ihren Schreibblock vor, um ihr Skizzenbuch für Melanie fortzusetzen. Sie zeichnete sich in Bluse und Rock. Sie färbte das leichte kleine Strohkäppchen mit ein paar Buntstiftstrichen rostrot. Die Efeuwand bekam ein schmutziges Schwarzgrün, und nun skizzierte sie andächtig den Kellner Fritz, der auf seinem lahmen Bein stand, die Hand träumerisch in der Gesäßtasche, mit Münzen spielend, den Blick nach innen auf das Problem der schwarzen Nelken gerichtet.
Er hatte gerade beim Frühstück mit Frau von Schellemarr über die richtige Druckerschwärze, Trauerschwärze der Nelken gesprochen, und auf der Zeichnung sproßten nun unter seinen Tritten, sproßten neben seinen Sohlen die schwarzen Nelken. Neben dem Efeu kräuselte der Zigarrendampf der Reisenden und formte sich zierlich zu dem Worte: Allzumännliches.
Sie schrieb:
»Liebste Melanie! Die Brötchen sind von Bitterlich und von vorzüglicher Qualität. Bitterlich selbst, so erzählte mir der Kellner Fritz, ist in die ewigen Mehlgründe abberufen und backt Brezeln für Petrus und in seinen Mußestunden auf Vorrat Pfefferkuchen für den Weihnachtsmann. Vor dem Hotel steht ein Eiswagen und trieft. Es ist in der Sonne sehr heiß, und man kann es ihm nicht verübeln, daß er vor Hitze vergeht. Unter dem Eispferd, das halb erblindet ist, sitzen erwartungsvoll zwölf Sperlinge. Aber das Pferd will nicht, wie die Sperlinge wollen. Man müßte ihm Zucker geben.
So . . ., ich habe ihm die Zuckerstücke einzeln in das weiche, grauhaarige Maul geschoben. Es hob die Nüstern von den Lippen und griente untertänig. (Wer sich dem Altersheim nähert, soll nicht über graue Mäuler spotten.)
Liebste Melanie . . ., so gut ist mir übrigens gar nicht. Ich hatte viel Besuch in dieser Nacht. Wie geht das nur zu, daß die Erinnerungen kommen und gehen, wie sie wollen, und nicht, wie wir es wünschen? Wahrscheinlich ist es nötig. Wenn wir zum Beispiel immer alles gegenwärtig hätten, wir in den neunziger Jahren Geborenen, die wir seit zwanzig und fünfundzwanzig Jahren nicht zur Ruhe gekommen sind . . ., das ginge nicht. Für uns hätte das Vergessen erfunden werden müssen, wenn es nicht schon eine der großartigsten Fähigkeiten des menschlichen Herzens gewesen wäre oder eine der törichtsten.
Ich habe aber doch nicht gedacht, daß es so schwer ist, den Weg zur Wahrheit oder zu einem gerechten Urteil über mich zu finden, und ich bin mir auch nicht klar, ob damit das geringste gewonnen ist. Nur das eine weiß ich jetzt: ich fahre nicht eher, als bis ich Bescheid weiß. Und was will ich wissen? Das eben weiß ich nicht. Das quält mich, peitscht mich, peinigt mich im Untergrunde, und wenn