Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi. Mari Jungstedt
sind den Bach runter gegangen, wie alles andere«, sagte sie, ohne nachzudenken. Keine Hoffnung erwecken, warnte die Vernunft, während ihr Herz sie weitertrieb.
»Was denn, was meinst du?«
Er bemühte sich, neutral zu klingen, aber sie konnte den Hoffnungsschimmer in seiner Stimme wahrnehmen.
»Ach, nichts. Was willst du? Du weißt doch, dass du nicht anrufen darfst«, wiederholte sie.
»Ich konnte es einfach nicht lassen.«
»Aber wenn du mich nicht in Ruhe lässt, hinderst du mich am Denken«, sagte sie sanft.
Er versuchte, sie zu einem Treffen zu überreden, da er am folgenden Tag nach Gotland kommen würde.
Sie lehnte ab, obwohl ihr Körper nach ihm schrie. Es war eine Schlacht zwischen Vernunft und Gefühl.
»Hör doch auf damit. Es ist ohnehin schon anstrengend genug.«
»Aber was empfindest du für mich, Emma? Sei jetzt ehrlich. Ich muss es wissen.«
»Ich denke auch an dich. Die ganze Zeit. Ich bin so verwirrt, ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Schläfst du mit ihm?«
»Lass das«, sagte sie wütend.
Er hörte, wie sie sich eine Zigarette anzündete.
»Ja, aber jetzt sag schon, machst du das? Ich will das wissen.«
Sie seufzte tief.
»Nein, ich tu es nicht. Ich hab nicht die geringste Lust. Bist du jetzt zufrieden?«
»Aber wie lange kannst du so weitermachen? Irgendwann musst du dich entscheiden, Emma. Merkt er denn nichts, ist er denn völlig gefühllos? Will er nicht wissen, warum du dich so verhältst?«
»Natürlich merkt er etwas, aber er hält es für eine Reaktion auf alles, was im Sommer passiert ist.«
»Du hast meine Frage noch immer nicht beantwortet.«
»Welche Frage?«
»Was du für mich empfindest.«
Noch ein tiefer Seufzer.
»Ich liebe dich, Johan«, sagte sie leise. »Das macht doch alles so schwer.«
»Aber verdammt, Emma. Dann. Das kann doch nicht ewig so weitergehen. Du musst endlich reinen Tisch machen und ihm sagen, was Sache ist!«
»Was zum Teufel soll das denn?« Jetzt ging sie hoch. »Du hast doch keine Ahnung, wie das ist!«
»Nein, aber ...«
»Aber was?«
Wut und Tränen lagen in ihrer Stimme.
»Du hast doch keine Scheißahnung, wie das ist, die Verantwortung für zwei Kinder zu tragen! Ich kann mich nicht aufs Sofa setzen und ein ganzes Wochenende lang heulen, weil ich Sehnsucht nach dir habe. Und ich kann auch nicht einfach entscheiden, dass ich jetzt mit dir zusammen sein will, bloß weil ich das möchte. Oder brauche. Oder muss, um überleben zu können. Denn alles in meinem Leben dreht sich um dich, Johan. Du bist mein erster Gedanke, wenn ich aufwache, und das Letzte, was ich vor dem Einschlafen vor mir sehe. Aber ich kann das nicht alles bestimmen lassen. Ich muss funktionieren. Muss Zuhause, Arbeit, Familie im Griff behalten. Ich muss vor allem an meine Kinder denken. Welche Konsequenzen es für sie hätte, wenn ich Olle verließe. Du lebst dein Leben in Stockholm und brauchst dich nur um dich zu kümmern. Hast einen interessanten Job, eine schöne Wohnung mitten in der Stadt, jede Menge zu tun. Wenn die Sehnsucht nach mir zu anstrengend wird, hast du genug, was dich auf andere Gedanken bringt. Du gehst in die Kneipe, triffst Bekannte, sitzt im Kino. Und wenn du traurig sein und um mich weinen willst, dann kannst du auch das. Aber wohin soll ich gehen, verdammt noch mal? Ich muss mich zum Weinen in die Waschküche schleichen. Ich kann nicht einmal in die Stadt gehen, wenn ich traurig bin, um etwas anderes zu machen. Neue, witzige Menschen kennen zu lernen vielleicht? Sicher, hier wimmelt es doch nur so davon!«
Sie beendete wütend die Verbindung und hörte zugleich, wie die Haustür geöffnet wurde.
Olle kam nach Hause.
Ann-Sofie Dahlström hatte die trockensten Hände, die Knutas je berührt hatte. Außerdem rieb sie sie unaufhörlich aneinander, sodass Hautschuppen sich lösten und auf ihre Knie fielen. Sie hatte das braune Haar im Nacken mit einer Plastikspange festgesteckt. Ihr Gesicht war bleich und völlig ungeschminkt. Knutas sprach ihr als Erstes sein Beileid zum Tod ihres Exmannes aus.
»Wir hatten schon lange keinen Kontakt mehr. Ich habe seit Jahren nichts mehr von ihm gehört.«
Ihre Stimme erstarb.
»Wie war Henry damals, als Sie noch verheiratet waren?«
»Er hat fast immer gearbeitet, auch abends und am Wochenende. Wir hatten kaum ein Familienleben. Vor allem ich habe mich um unsere Tochter Pia gekümmert. Vielleicht war es auch mein Fehler, dass dann alles so gekommen ist. Ich habe ihn wohl ausgeschlossen. Und dann trank er nur noch mehr. Am Ende wurde es unerträglich.«
Typisch Frau, dachte Knutas. Expertinnen dafür, die Schuld für die Sauereien der Männer auf sich zu nehmen.
»In welcher Weise wurde es unerträglich?«
»Er war so gut wie nie mehr nüchtern und vernachlässigte seine Arbeit. Solange er seine Stelle bei der Zeitung hatte, kam er noch einigermaßen zurecht. Die Probleme fingen richtig an, als er sich selbstständig machte und niemand ihm mehr etwas zu sagen hatte. Irgendwann trank er dann auch mitten in der Woche, blieb über Nacht weg, kam seinen Aufträgen nicht nach, weil er nicht zu Terminen erschien oder die fertigen Bilder nicht ablieferte. Am Ende habe ich schließlich die Scheidung eingereicht.«
Während sie das alles sagte, setzten ihre Hände diese bizarre Massage fort. Sie knisterten dabei vor Trockenheit. Dann registrierte sie Knutas’ Blick.
»Ja, im Winter werden sie so, und dann hilft auch keine Salbe. Es kommt von der Kälte. Ich kann daran nichts ändern«, fügte sie mit einer gewissen Schärfe in der Stimme hinzu.
»Nein, natürlich nicht. Verzeihen Sie«, bat Knutas.
Er zog seine Pfeife hervor, um sich auf etwas anderes konzentrieren zu können.
»Wie hat Ihre Tochter Pia auf sein Trinken reagiert?«
»Sie wurde schweigsam und verschlossen. Und war immer seltener zu Hause. Ging angeblich zum Lernen zu Freundinnen, aber sie wurde in der Schule immer schlechter. Sie fing an zu schwänzen, und dann kam die Sache mit dem Essen. Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass hier wirklich ein ernstes Problem vorlag. Im zweiten Jahr stellten die Ärzte fest, dass sie an Magersucht litt, und das legte sich erst, als sie vom Gymnasium abgegangen war.«
»Ist sie denn trotz der Krankheit weiter zur Schule gegangen?«
»Ja, sie war wohl kein ganz schwerer Fall, aber dass sie unter Essstörungen litt, stand jedenfalls fest.«
»Und haben Sie Hilfe gefunden?«
»Glücklicherweise kannte ich einen Arzt hier im Krankenhaus, der auf dem Festland in einer Klinik für Magersüchtige gearbeitet hatte. Er hat mir geholfen. Ich konnte Pia überreden, mit mir zu diesem Arzt zu gehen. Sie wog damals bei einem Meter fünfundsiebzig nur fünfundvierzig Kilo.«
»Wie hat Ihr Mann reagiert?«
»Er wollte weder etwas sehen noch hören. Das war kurz vor unserer Scheidung.«
»Was macht Ihre Tochter heute?«
»Sie wohnt in Malmö und arbeitet als Bibliothekarin in der Stadtbibliothek.«
»Ist sie verheiratet?«
»Nein.«
»Kinder?«
»Nein.«
»Und was glauben Sie, wie geht es ihr?«
»Wie meinen