Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel. Luzia Pfyl
Sir.«
Welsh brummte etwas. Seine wässrigen Augen schienen einen Punkt auf der Tischplatte zu fixieren. Manjus Armreife klapperten, als sie unruhig auf dem Stuhl herumrutschte.
»Ich war damals schon seit über 20 Jahren im Yard. Erfahren, sicher, selbstbewusst. Ich war auf der Krim. Ich dachte, ich hätte alle menschlichen Abgründe gesehen.« Welsh machte eine Pause. Seine von Arthritis geplagten Finger griffen nach der Mappe. Es fiel ihm sichtlich schwer, sie aufzumachen. »Ich… Wir waren zu langsam. Das Yard steckte in einer Krise, wir hatten keine Ressourcen und zu wenig Männer.« Nachdenklich betrachtete er den obersten der ausgeschnittenen Zeitungsartikel. »Sie sind über uns hergefallen wie die Aasgeier.«
»Commissioner Lovett hat eine Informationssperre verhängt, was den Fall angeht«, sagte Jones. »Sir, ich habe die Akte von hinten bis vorne studiert. Hatten Sie wirklich keinen Verdacht, wer es sein könnte? Nicht einmal ein Bauchgefühl?«
Welsh brummte erneut. »Ich war mir beinahe sicher, dass es ein Arzt war. Oder ein Medizinstudent. Jemand, der sich mit dem menschlichen Körper sehr gut auskennt.«
Das war auch Dr. Taylors Meinung. Jones holte sein Notizbuch aus dem Jackett und schrieb zwei Sätze hinein. »Was glauben Sie, ist es derselbe Mann?«
Welsh zuckte mit den Schultern. »Es sind fast 20 Jahre vergangen. Warum er damals so abrupt aufhörte, konnte ich mir nie erklären. Vielleicht ist etwas schiefgegangen. Vielleicht haben wir ihn verscheucht. Kann sein, dass er so viele Jahre auf etwas warten musste, um weiterzumachen. Wer weiß das schon?«
»Wir werden es herausfinden«, meinte Manju selbstbewusst. »Und wir werden ihn diesmal schnappen.«
Jones räusperte sich vernehmlich. »Danke für Ihre Zeit, Mr. Welsh.« Er warf Manju einen warnenden Blick zu und nahm die Mappe an sich.
»Was?«, fragte sie, als sie wieder auf der Straße standen.
»Sie hätten dem alten Mann keine Versprechen machen sollen, die sie nicht halten können.«
»Aber, Sir, ich wollte doch nur …«
Jones blieb stehen und baute sich vor seiner jungen Partnerin auf. »Wir machen keine Versprechen, was das Einfangen von Mördern und Verbrechern angeht, haben Sie mich verstanden, Manju? Was, wenn der Nächste, dem Sie so ein Versprechen geben, damit gleich zum Herald rennt? Wie blöd stehen wir und das gesamte Yard dann da, wenn wir das Versprechen nicht halten können?«
Manju schluckte ihre Erwiderung hinunter und nickte dann. »Ich verstehe.«
»Gut. Sie sind neu im Yard und müssen noch viel lernen. Und jetzt sollten wir zurück. Dr. Taylor erwartet uns bereits mit dem Opfer aus Greenwich.«
Payne setzte sich in die nächste Kneipe und leerte das erste Pint in einem Zug, worauf er gleich das nächste bestellte. Auf dem Nachbartisch lag eine Zeitung. Es war die aktuellste Ausgabe, die jeweils kurz vor Mittag überall in der Stadt von Zeitungsjungen verkauft wurde. Auf der Titelseite prangte in großen Lettern »Erneut verstümmelte Leiche in der Themse gefunden! Greenwicher Studenten in Aufruhr!«, darunter befand sich ein Bild des Universitätsgebäudes. Im Hintergrund konnte man eine Traube Menschen, vermutlich Studenten, und einige Polizisten ausmachen. Hastig überflog Payne den Artikel, aber es standen keine neuen Informationen darin. Das Wichtigste hatte Cecilia ihm bereits berichtet.
Payne legte die Zeitung beiseite. Cecilias Bitte ging ihm wieder durch den Kopf. Er wollte ihr helfen, doch Frost hatte recht. Es war Sache der Polizei. Außerdem hatten sie nur noch weniger als zwei Tage Zeit, um die verschwundene Waffe zu finden. Falls der Mörder bis dahin nicht gefasst war, konnten sie sich immer noch des Falles annehmen.
Trotzdem nagte es an ihm. Was, wenn die nächste Leiche tatsächlich Annabella war? So ziemlich alles sprach jedoch dagegen. Die Jugendlichen schienen nirgendwo hinzugehören, niemand vermisste sie. Annabella war erst halb so alt. Außerdem war da die Visitenkarte, die er in ihrem Zimmer gefunden hatte, in der Nacht nach ihrem Verschwinden. Er glaubte immer noch, dass der Russe etwas damit zu tun hatte.
Nein. Erst die Waffe, dann alles andere.
Die Kellnerin brachte ihm das dritte Bier und warf einen Blick auf die Zeitung, die vor ihm auf dem Tisch lag. »Schreckliche Sache, nicht? Diese armen Kinder!« Sie schüttelte den Kopf.
Payne schaute auf. »Hat die Polizei den Übeltäter schon gefasst?«
Die Kellnerin schnalzte mit der Zunge. »Diese Nichtsnutze vom Yard können oft nicht mal links von rechts unterscheiden. Was glauben Sie?«
Payne musste lächeln und bedankte sich für das Bier. Dann nahm er die Zeitung wieder zur Hand und blätterte durch den Rest. Beim Namen Greyson blieb er hängen. Es war ein kurzer Bericht über die Fabrikeröffnung in York.
Ein Gedanke setzte sich in seinem Kopf fest. Auch wenn er sich wohl wieder eine Faust einfing, vielleicht würde es sie weiterbringen. Das Risiko war es wert.
Payne legte Geld auf den Tisch und eilte aus dem Pub. Kurz darauf stand er wieder vor Newmans Büro. Die beiden Wachmänner standen langsam auf, als sie ihn kommen sahen, und starrten ihn an.
»Der Boss meinte, dass Sie nicht mehr willkommen sind«, sagte der eine. Er schob den Kautabak von einer Wange in die andere.
»Diesmal ist es geschäftlich«, erwiderte Payne gelassen. »Sagen Sie Newman, dass ich ihn sprechen muss.«
Die Männer warfen sich einen skeptischen Blick zu, dann drehte sich der eine um und betrat das Büro. Gleich darauf tauchte er wieder auf und deutete mit einem Kopfnicken an, dass Payne eintreten sollte.
»Ich dachte, wir hätten alles geklärt, Mr. Payne«, begrüßte ihn Newman ohne Umschweife. Im Zimmer hing der herbe Geruch des Pfeifentabaks. Newman schlug ein Buch zu und legte den Füller, mit dem er darin geschrieben hatte, daneben auf den Tisch.
»Ich habe eine Frage. Kennen Sie einen Mr. Sanderson? Er arbeitet für eine Waffenfabrikation in Southwark. Eine von Greysons Fabriken, wenn mich nicht alles täuscht.«
Newman runzelte die Stirn. »Sanderson … Sanderson … Ja, ich kenne einen Sanderson. Er ist einer von Mr. Greysons Sekretären und in dessen Abwesenheit verantwortlich für die Fabrik.«
Paynes Mundwinkel zuckten zufrieden. »Mr. Newman, Sie als Kopf von Greysons Sicherheitskorps, was können Sie mir über Sanderson erzählen?«
»Nennen Sie mir einen Grund, warum ich das tun sollte.« Newman lehnte sich zurück und hob das Kinn. »Worum geht es hier?«
»Miss Frost und ich arbeiten an einem Fall«, antwortete er nur und setzte ein Grinsen auf. »Mehr darf ich Ihnen leider nicht sagen, Sie verstehen.«
»Hat er etwas angestellt, worüber ich Bescheid wissen sollte?« Der Sicherheitschef runzelte die Stirn.
»Sie werden es frühzeitig erfahren, sollte Sanderson tatsächlich etwas mit unserem Fall zu tun haben.«
Newman schaute Payne abschätzig an. Dann stand er auf und ging zu einem Aktenschrank, wo er ein schmales Buch herauszog und darin zu blättern anfing. »Eric Sanderson, seit drei Jahren als Privatsekretär angestellt und mit der Aufsicht über eine der Fabriken in Southwark betreut. Tadellose Buchführung, äußerst zuverlässiger Mann.«
»Was hat er gemacht, bevor er bei Greyson Industries eingestiegen ist?«
»Lassen Sie mich sehen. Royal Navy, Marineoffizier. Mehr wissen wir nicht über den Mann.« Newman klappte das Buch zu und stellte es zurück ins Register.
Also daher kam die steife Art des Sekretärs, dachte Payne. Sanderson war bei der Marine gewesen. In seinem Unterbewusstsein rastete etwas ein, doch er bekam den Gedanken nicht zu fassen. »Danke. Und entschuldigen Sie die erneute Störung. Das war dann auch die letzte für heute.«
»Ihr Amerikaner habt einen wundervollen Sinn für Humor«, gab Newman mit gebleckten Zähnen zurück.
Payne schlenderte grinsend