Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel. Luzia Pfyl
Agentur zu kommen. Sie musste mit Payne sprechen.
Vor dem Clubhaus winkte sie einer Droschke. Die Fahrt von Kensington nach Holborn schien ewig zu dauern, auch wenn um diese Uhrzeit nicht mehr viel Verkehr herrschte. Frost hoffte, dass Payne noch nicht nach Hause gegangen war. Dann fiel ihr das Aethercom ein. Sie hatte es zusammen mit dem Foto in die Tasche in ihrem Rock gelegt.
Nach einer halben Ewigkeit hörte sie endlich ein Knacken und dann Paynes blechern verzerrte Stimme. »Payne, falls sie noch in der Agentur sind, warten sie auf mich. Falls sie zuhause sind, kommen sie sofort her«, unterbrach sie ihn.
»Ist etwas passiert?«, fragte er und klang ein klein wenig besorgt.
»So etwas in der Art, ja. Payne, wir statten dem Yard heute Nacht einen Besuch ab.« Frost klappte das Aethercom zu und rief dem Kutscher zu, schneller zu fahren.
11.
»Warum der plötzliche Sinneswandel?«, fragte Payne, während Frost sich aus den Schichten ihres Kleides schälte. Er stand mit dem Rücken zu ihr, linste jedoch ein paar Mal über die Schulter.
»Vier überaus charmante Herren haben mir heute Abend erzählt, dass vor etwa zwanzig Jahren schon einmal Kinder aus der Themse geborgen worden sind, die unseren mechanischen Kindern sehr ähnlich waren. Sie sagten doch, dass der Sergeant etwas von ‚Er ist wieder da’ gesagt hatte, richtig?«
»Richtig. Trotzdem verstehe ich nicht ganz, warum Sie mir auf einmal zustimmen, was diese Sache angeht. Heute Mittag waren Sie noch strikt dagegen.«
»Darum.« Frost stand in Unterhemd und Pluderhosen vor dem Pinkerton. Sie drehte sich um und zog den Ärmel des Hemdes herunter, so dass ihr oberer Rücken entblößt war.
Payne zischte und unterdrückte einen Fluch. »Grundgütiger, Frost. Was ist das?« War das ein Schlüsselloch?
»Sie wollten doch wissen, warum ich jedes Schloss öffnen kann.« Sie bedeckte sich wieder und ging hinüber zum Schrank, wo sie eine schwarze Lederhose, ein schwarzes Hemd und ein marineblaues Korsett herauszog. »Ich habe ein mechanisches Herz.«
»Sie haben was?« Er hatte sich verhört, ganz bestimmt.
»Genau. Allerdings habe ich keine Ahnung, warum. Liegt vielleicht daran, dass ich mich nicht erinnern kann.« Die Worte sprudelten aus ihr heraus, und sie fuhr sich fahrig durch die langen Haare. »Ich habe das Gefühl, dass meine Vergangenheit etwas mit diesen Jugendlichen zu tun hat. Deswegen habe ich mich entschlossen, diesmal auf Sie zu hören. Vielleicht irre ich mich auch, aber etwas nachforschen kann nicht schaden, oder?«
Payne schaute sie schweigend an, während sie sich fertig umzog. Seine Blicke schienen sie nicht zu stören. Hastig band sie ihre Haare zu einem lockeren Knoten und schlang sich einen schwarzen Wollschal um den Hals.
Jetzt war ihm ihr Verhalten vom Mittag auch klar. Heilige Scheiße, die Frau hatte ein mechanisches Herz. Wer hatte ihr das angetan? Und warum?
Die Offenheit, die sie ihm gegenüber hatte walten lassen, war jedoch nur von kurzer Dauer gewesen. Payne bekam nichts mehr aus ihr heraus.
Eine halbe Stunde später gingen sie Whitehall entlang. Rechts von ihnen befand sich die Admirality. Zwei Wachmänner marschierten vor dem breiten Tor auf und ab. Frost und Payne bogen links in die Seitenstraße ab. Ein paar hundert Meter vor ihnen sahen sie durch die Lücke zwischen den Häusern den dichten Verkehr auf dem Victoria Embankment, einer der Hauptverkehrsadern durch London.
Scotland Yard schlief nicht, genauso wenig, wie London jemals schlief. Sie schauten dem Kommen und Gehen eine Weile zu, bevor sie das Yard betraten.
Sofort hörten sie ein Jaulen und Heulen, das von einem Betrunkenen in den Ausnüchterungszellen kam. Ein Polizist schlug mit seinem Stock gegen die Eisengitter und blaffte den Trunkenbold an, still zu sein. Zwei weitere Uniformierte kamen aus einem Flur und eilten an ihnen vorbei. Hinter einem Tresen stand ein müde aussehender Sergeant mit Vollbart. Er übertrug Notizen in ein dickes Buch.
»Haben wir einen Plan?«, raunte Payne Frost zu.
Frost schaute sich um. »Sie lenken den Desk Sergeant da vorne irgendwie ab, während ich das tue, was ich am besten kann: stehlen.«
Payne schnaubte unwillkürlich auf. Die Sache war beinahe komisch. Wer hätte gedacht, dass er eines Tages einer stadtbekannten Diebin dabei helfen würde, Scotland Yard auszurauben?
Sie besprachen flüsternd einige Details und wollten sich gerade trennen, als sie von einer Frau in der blauen Uniform eines Constables angesprochen wurden.
»Hey, Sie, Amerikaner!«
Payne drehte sich verwundert um und sah sich einer kleinen, zierlichen Inderin gegenüber.
»Sie waren doch wegen der Zeugenbefragung letzte Woche hier – Sie wissen schon, wegen den beiden … Leichen, die am Ufer der Themse gefunden worden sind?«
Frost zupfte an seinem Ärmel. »Sie haben was? Das haben Sie mir gar nicht erzählt.«
»Es war nur eine kurze Befragung, nichts weiter«, gab er zurück und wandte sich dann wieder der Frau zu. »Sind Sie mit dem Fall betraut?«
Die Constable nickte, schüttelte dann aber gleich darauf den Kopf. »Ich darf nicht darüber sprechen.«
»Sie sind mit dem Fall betraut.« Payne lächelte zufrieden. Vielleicht brauchten sie doch nicht das Yard zu bestehlen. Er beugte sich verschwörerisch vor. »Ich war Pinkerton in New York. Sie können mir vertrauen.«
Die Constable schien mit sich zu ringen, dann schaute sie sich rasch im Raum um. Sie winkte Payne und Frost in eine ruhigere Ecke. »Das muss aber alles unter uns bleiben, verstanden?«
»Aber natürlich.«
Frost schaltete sich ein. »Stimmt es, dass es vor 20 Jahren schon einmal einen solchen Fall gegeben hat?«
»Woher wissen Sie das?«
Paynes Grinsen wurde breiter. Diese Constable war wohl ein Frischling. »Es gibt Leute, die damals schon hier gelebt haben. Man erinnert sich an solche Sachen.«
»Oh, da haben Sie wohl recht.« Sie wirkte etwas zerknirscht. »Ja, es stimmt. Inspektor Jones und ich haben die alten Akten gesehen. Gleiches Muster.«
Payne fing Frosts vielsagenden Blick auf. »Haben Sie schon einen Verdächtigen? Neue Hinweise?«, fragte er.
»Dr. Taylor vermutet, es ist ein Arzt«, sprudelte es aus ihr heraus. »Sehr professionelle Arbeit – mal abgesehen davon, dass die Opfer sterben.«
Wieder zupfte Frost an Paynes Ärmel. »Fragen Sie sie, ob wir eine Kopie bekommen«, wisperte sie.
»Sie wird uns bestimmt keine Kopie geben«, raunte er. »Sie mag zwar naiv sein, aber nicht dumm.«
»Ich bin was nicht?«
»Manju!«
Die junge Constable zuckte zusammen und beeilte sich dann, einem großgewachsenen Mann mittleren Alters entgegenzugehen. »Inspektor, ich dachte, Sie seien bereits nach Hause gegangen!«
»Mit wem haben Sie da gesprochen?« Er sah nicht gerade freundlich aus.
»Der Mann ist einer der Zeugen der ersten Befragung, Inspektor.« Die Constable namens Manju winkte nun Payne und Frost, damit sie nähertreten sollten.
Inspektor Jones musterte Payne. »Waren Sie nicht vor ein paar Monaten schon hier? Was war es, Kindesentführung?«
»Meine Tochter, ja«, gab Payne zähneknirschend zu. Die Leute hier hatten verdammt gute Gedächtnisse. »Ich nehme an, Sie wissen immer noch nichts über sie?«
»Dafür bin ich nicht zuständig«, brummte der Inspektor. »Gehen Sie nach Hause, Sir, Madam. Wir tun unsere Arbeit, so gut es geht.«
»Das war nicht sonderlich befriedigend«,