Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel. Luzia Pfyl
Sie setzte ihr bestes Lächeln auf. Der Herr stellte sich als Lord Bromington vor, ehemaliger General der Royal Airship Divisions. »Lydia Frost, sehr erfreut, Lord Bromington.«
»Ach, nennen Sie mich Harold, ich bin zu alt für Höflichkeiten.«
Unweigerlich musste Frost lachen. Sie mochte den alten Mann auf Anhieb und ließ sich bereitwillig von ihm zu einem freien Tisch führen. Nach ein paar Minuten kamen Harolds Freunde hinzu, alle drei ebenfalls ältere Veteranen und heitere Charaktere. Frost unterhielt sich prächtig.
»Ich brauche Ihre Hilfe, meine Herren«, sagte sie in die Runde und hatte sofort aller Aufmerksamkeit. »Ein guter Freund von mir hat kürzlich eine Waffe erstanden, doch er glaubt, vom Käufer übers Ohr gehauen worden zu sein.«
»Madam, Sie glauben gar nicht, wie oft ich schon an solche Scharlatane geraten bin«, sagte Lord Winstonshire und nickte dabei ernst. »Diese Männer glauben, sie können mir die persönliche Muskete von König James II. andrehen und wissen dabei nicht, dass sie sich bereits in meiner Sammlung befindet.« Er gluckste zufrieden in seinen Sherry.
»Sie scheinen Experten auf dem Gebiet von Waffen zu sein«, meinte Frost und lächelte in die Runde. »Dürfte ich Sie um Ihre Meinung bitten, Mylords?« Sie zog das Foto des Prototypen aus einer eingenähten Tasche in ihrem Kleid und reichte es an Lord Harold weiter. »Dies ist die besagte Waffe, von der ich vorhin gesprochen habe. Es ist keine Antiquität, wie Sie unschwer feststellen werden, aber es ist ein absolutes Einzelstück.«
Sie wartete einen Moment, bis die erstaunten Ausrufe und Seufzer der alten Männer abgeklungen waren. »Mein Freund glaubt, dass er zu viel dafür bezahlt hat.«
»Ist sie funktionstüchtig?«, fragte Lord Harold.
Frost nickte mit einem wissenden Lächeln. »Oh ja.«
»Sehr modern«, bemerkte einer von Harolds Freunden. »Ich könnte mir vorstellen, dass Lord Greyson Interesse daran hätte.«
Frost horchte auf, ließ die Männer jedoch weiterreden.
»Ich glaube, da haben Sie recht, William«, sagte Lord Harold. »Lord Greyson kann mit Antiquitäten nichts anfangen, aber geben Sie ihm Stahl und Technik, und er wedelt mit den Geldscheinen.«
»Glauben Sie, mein Freund könnte die Waffe an ihn verkaufen?«, fragte Frost dazwischen. »Und gibt es sonst noch Gentlemen, die sich dafür interessieren könnten?«
»An Greyson ganz bestimmt«, pflichtete Lord Harold bei. »Ich glaube, Ihr Freund wird keine Schwierigkeiten haben, diese Waffe weiterzuverkaufen. Die Amerikaner scheinen ganz versessen auf solche Technik zu sein.«
Es war nicht die Antwort, die sie gehofft hatte zu erlangen. Greyson würde wohl kaum seine eigene Waffe stehlen lassen, nur um sie dann bei sich zuhause an die Wand zu hängen. Sie glaubte zudem nicht, dass Amerikaner dahintersteckten. Dafür war die Fabrik zu geheim. Das Militär ließ sich von fremden Mächten nicht gern auf die Finger schauen, was die Rüstungsindustrie anging.
Das Gespräch der vier Veteranen wandte sich den aktuellen Nachrichten in den Zeitungen zu. Frost steckte das Foto zurück in die Falten ihres Kleides und nippte am Whisky. In Gedanken ging sie immer wieder die spärlichen Informationen durch, die sie und Payne besaßen. Einer von vier Prototypen war gestohlen worden – warum nur einer? Dr. Baxter war verdächtig, weil er vermutlich Spielschulden hatte. Ein gewisser Henry Walker, Dampftechniker, wurde seit dem Diebstahl vermisst. War er der Langfinger? Oder nur der Zwischenmann? Dann war da noch die Tatsache, dass der Duke of Edinburgh am Samstag zur Präsentation der Prototypen erwartet wurde, ebenso wie Lord Greyson. Gab es ein politisches Motiv, oder war die Sache eine persönliche?
Sie hatte eine böse Vermutung, dass sie ohne das Motiv den Fall nicht lösen konnten und höchstwahrscheinlich das Leben des Dukes oder Lord Greysons in Gefahr brachten. Verschwundene Waffe und Besuch des Thronfolgers vertrugen sich nicht.
»Schreckliche Sache, nicht?«, hörte sie Lord Winstonshire eben sagen. »Und das mitten in Greenwich. Unglaublich!«
»Die Polizei scheint nichts dagegen zu unternehmen«, pflichtete ihm der Mann zu seiner Rechten bei. »Dabei ist das alles schon einmal passiert.«
»Es sind schon einmal mechanische Kinder gefunden worden?«, rief Frost aus und klammerte sich an ihr Glas. Warum stand das nicht in der Zeitung?
Lord Harold nickte schwermütig. »Vor etwa zwanzig Jahren. Ich war damals in Manchester stationiert, befand mich aber gerade im Heimaturlaub, als sie den ersten Jungen bei der London Bridge herausgefischt haben. Man dachte damals, er sei ertrunken, es sei ein Unfall gewesen. Dann fanden sie am gleichen Tag zwei weitere. Alle ungefähr im gleichen Alter, zwischen zehn und fünfzehn Jahren. Und alle hatten mechanische Körperteile.«
»Doch nach der siebten Leiche hörte der Mörder auf«, fuhr Lord Winstonshire fort, »Scotland Yard hatte keinerlei Anhaltspunkte, keine Verdächtigen, dafür aber sieben Kinderleichen im Keller, die anscheinend niemand vermisste. Und jetzt hat es wieder angefangen.«
Frosts Gedanken drifteten ins Abseits. Die Metallplatte auf ihrem Rücken fühlte sich plötzlich kalt an, trotz der Wärme ihres Körpers. Sie spürte das Schlagen ihres Herzens, hörte das Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Auf einmal glaubte sie, das mechanische Rattern von winzig kleinen Zahnrädern zu hören, fein und ohne Unterbruch.
Das Aetherlicht um sie herum vermischte sich mit den roten Lampions einer Straße. Der bequeme Sessel und ihr raschelndes Kleid verschwanden. Auf einmal befand sie sich im Dunkeln in einer verlassenen Gasse. Es regnete in Strömen, und ihr war kalt, so eiskalt, weil sie nur ein schmutziges Leinenhemd trug. Ihre nackten Füsse waren wund vom Laufen, doch sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon unterwegs war. Sie wusste nicht, wo sie sich befand, sie wusste nicht, wer sie war.
Doch sie hatte Angst, schreckliche Angst, dass man sie finden und zurückbringen würde, wo auch immer das war, und so ging sie immer weiter. Auf ihrem Rücken spürte sie die Reste von Verbandsmaterial. Irgendwo hatte sie sich die Knie aufgeschlagen, doch die Schmerzen, die zwischen ihren Schulterblättern in alle Richtungen ausstrahlten, waren viel schlimmer.
Beim Gehen baumelte ein Schlüssel vor ihrer Brust, doch sie wusste nicht, wofür dieser Schlüssel war und welches Schloss er öffnete.
Völlig erschöpft und entkräftet kroch sie in eine halbwegs trockene Nische neben einem Hauseingang. Der Regen prasselte unaufhörlich auf die roten Laternen nieder, die die Straße beleuchteten. Manchmal gingen Menschen an der Nische vorbei, doch sie bemerkten sie nicht.
Sie musste trotz ihres unaufhörlich zitternden Körpers vor Erschöpfung eingeschlafen sein, denn als sie erwachte, war um sie herum Licht. Laternen. Eine Gruppe Menschen war direkt vor ihrer Nische stehen geblieben. Eine ältere Frau löste sich aus der Gruppe und kam auf sie zu. Sie ging an einem Stock, weil sie ein schlechtes Bein hatte, und ein dünner Mann ging neben ihr her und schützte sie mit einem Schirm vor dem Regen.
»Ist dir nicht kalt?«, fragte die Frau.
Sie nickte.
»Dies ist kein Ort für Mädchen ohne anständige Kleidung und Schuhe.« Die alte Frau streckte ihr die Hand hin und lächelte freundlich. »Komm, bei mir zuhause ist es trocken und warm. Ich wette, du hast Hunger.«
Sie war misstrauisch. Was, wenn man sie wieder dorthin zurückbrachte? Aber ihr Körper weigerte sich, noch länger in dieser eisigen und nassen Nische zu kauern. Und so ergriff sie die Hand der alten Frau.
»Mein Name ist Madame Yueh.«
Jemand berührte sie am Arm, und die Geräuschkulisse des Royal Guilds Clubs kehrte zurück.
»Miss Frost, geht es Ihnen gut? Sie sind ganz blass.« Lord Harold schaute sie besorgt an.
Frost atmete tief ein und nickte. Dann stellte sie das Glas auf den Tisch und stand auf. »Meine Herren, ich muss Sie leider verlassen. Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Vielen Dank für den netten Abend.«
Die