Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel. Nadine Erdmann

Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann


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war es nur panisches Gekreische gewesen, jetzt mischten sich jedoch auch Worte darunter.

      »Hilfe! Sie ist tot! Oh Himmel! Sie ist tot! Hilfe! Hilfe!«

      Die Stimme klang nach einer Frau, nach und nach mischten sich aber auch noch andere hinzu. Leiser, sodass Jaz nicht mehr alles verstehen konnte, doch das »Sie ist tot!« hatte gereicht, um ihr einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen zu lassen.

      Sie raffte ihre Sachen zusammen und lief in Richtung des Tumults.

      Es war noch früh, sicher noch keine sechs Uhr und die Läden in den Straßen waren noch alle geschlossen. Jaz zog sich trotzdem die Kapuze ihres Hoodies über.

      Bloß nicht auffallen.

      Sie lief an einem Bordell vorbei und sah an der nächsten Straßenecke einige Menschen vor der Mündung einer schmalen Gasse stehen. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, waren die meisten von ihnen Sexworker. Eine junge Frau in Alltagskleidern hing schluchzend in den Armen einer älteren, die einen seidig schimmernden, ziemlich kurzen Morgenmantel im Kimonostil trug. Zwei weitere Frauen und ein junger Mann in ähnlicher Aufmachung standen daneben und starrten betroffen und verstört in die Seitengasse.

      Um sich im Hintergrund halten zu können, wechselte Jaz die Straßenseite und lief unauffällig näher heran. Eine Straßenlaterne spendete Licht, das jedoch nicht bis in die Seitengasse fiel. Trotzdem konnte Jaz im Schatten zwei bullige Männer ausmachen, vermutlich Türsteher oder Security aus den umliegenden Freudenhäusern. Sie hatten die Taschenlampenfunktion ihrer Handys aktiviert und knieten neben dem leblosen Körper einer jungen Frau.

      Jemand hatte ihr die Kehle durchgeschnitten.

      Jaz spürte, wie ihr flau im Magen wurde.

      Die junge Frau lag in einer Pfütze aus Blut. Ihr Gesicht war kreidebleich und wirkte wie aus Porzellan. Das Schrecklichste aber waren ihre Augen. Milchig trüb stierten sie ins Leere und schienen Jaz trotzdem genau anzusehen.

      Sie schauderte und spürte, wie ihr Herz plötzlich deutlich heftiger als zuvor gegen ihre Rippen pochte.

      »Wir müssen die Polizei rufen.« Einer der Securitymänner erhob sich und schaltete die Taschenlampe seines Handys aus, um zu telefonieren.

      Das war das Stichwort für Jaz.

      Mit der Polizei wollte sie nichts zu tun haben, sonst landete sie wieder in der Akademie. Oder man hängte womöglich ihr den Mord an, weil Totenbändiger ja ständig als Sündenböcke für alles Mögliche herhalten mussten.

      Bloß das nicht.

      Leise, damit niemand sie bemerkte, wandte sie sich um, hielt sich dicht an der Hauswand und huschte um die nächstbeste Straßenecke. Dann rannte sie so schnell sie konnte, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Tatort zu bringen.

      Rechts. Links. Gerade aus. Noch mal links.

      Rennen machte ihr nichts aus. Sie liebte es, joggen zu gehen. Laufen half, den Kopf freizubekommen.

      Jetzt gerade half es allerdings kein bisschen.

      In der vergangenen Nacht war eine junge Frau ermordet worden. Keine zwei Blocks von dem Hinterhof entfernt, in dem Jaz geschlafen hatte.

      Bei der Vorstellung schnürte sich ihre Brust zu und sie musste aufhören zu rennen, weil sie kaum noch Luft bekam.

      Himmel, reiß dich zusammen!

      Einatmen. Ausatmen.

      Einatmen. Ausatmen.

      Das Engegefühl ließ wieder nach und sie lief langsamer weiter.

      Hatte sie irgendjemanden gesehen, bevor sie sich in dem Hinterhof versteckt hatte?

      Nein.

      Sie war vorsichtig gewesen.

      Hatte nicht gewollt, dass irgendjemand mitbekam, wo sie die Nacht verbrachte.

      Und vorher? Als sie durch die Gassen des West Ends geschlendert war? War ihr da jemand aufgefallen?

      Nicht wirklich.

      Aber was hätte ihr auch auffallen sollen?

      Wer immer der Frau die Kehle durchgeschnitten hatte, war sicher nicht vorher mit einem Messer in der Hand durchs halbe West End spaziert.

      Vielleicht war es ein unzufriedener Freier? Jemand, der irgendwas Perverses von ihr verlangt hatte, das sie aber nicht hatte tun wollen? Und aus Rache, Wut oder gekränktem Stolz hatte er sie dann umgebracht?

      Oder lief hier irgendein gestörter Moralapostel herum, für den Sexworker das Übel schlechthin waren und ausgerottet werden mussten?

      Oder ein Psychopath, der einfach Spaß am Töten hatte, und die arme Frau war bloß zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?

      Wenn dieser Mistkerl irgendwo in der Dunkelheit auf ein x-beliebiges Opfer gelauert hatte, hätte es genauso gut auch sie erwischen können.

      Shit.

      Jaz schluckte hart und kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. Sie war davon überzeugt gewesen, dass das West End nachts ein sicherer Ort war. Zwar keine Dauerlösung, aber zumindest ein paar Nächte lang, bis sie Geld organisiert und vielleicht einen Job hatte, um irgendwo unterzukommen.

      Jetzt sah es so aus, als müsste sie sich schnell etwas anderes einfallen lassen.

      Sie rannte weiter durch die Gassen.

      Etwas ließ ihren Nacken ungut kribbeln und sie fühlte sich beobachtet, als sie eine weitere leere Gasse entlanglief. Alarmiert fuhr sie herum. Doch es war niemand zu sehen.

      Nicht durchdrehen …

      Hastig lief sie weiter.

      Wenn hier nachts ein verdammter Killer herumschlich, konnte sie nicht im West End schlafen.

      Sie bog nach links in eine breitere Straße und sah in der Ferne das Dach der Charing Cross Station.

      Perfekt.

      Dort waren selbst zu dieser frühen Morgenstunde sicher schon genug Menschen unterwegs.

      Jaz griff in ihre Hosentasche und schloss ihre Hand um die kleine Wallnusshälfte. Heute musste sie mit dem Verkauf des Briefbeschwerers definitiv mehr Glück haben als gestern.

      Freitag, 6. September

      DEEP INTO THAT DARKNESS PEERING,

      LONG I STOOD THERE WONDERING, FEARING,

      DOUBTING, DREAMING DREAMS

      NO MORTAL EVER DARED TO DREAM BEFORE …

      Vielleicht ging er die Sache mit den verdammten Albträumen völlig falsch an.

      Gedankenverloren strich Cam sich über den Arm.

      Vielleicht sollte er sich nicht jeden Abend wünschen, dass sie wegblieben, sondern dass sie kamen. Wenn er sie einlud und sich ihnen ganz bewusst stellte, würde er sich dann vielleicht an sie erinnern können?

      »Hey.« Evan stupste ihn mit seinem Bleistift. »Nimmst du an dieser Gruppenarbeit noch teil oder hast du dich gedanklich schon ins Wochenende verabschiedet?«

      Es war Freitagnachmittag und neunzig Prozent ihrer Mitschüler waren nach Schulschluss schneller verschwunden als man gucken konnte. Der Rest hatte sich nach und nach getrollt. Cam dagegen saß noch immer mit Evan und Ella im Medienraum und erledigte die kreative Schreibaufgabe, die Mr Morris, ihr Literaturlehrer, ihnen gestellt hatte: Sie sollten sich ohne Vorgaben ein Gedicht aussuchen und um die Geschichte, die das Gedicht erzählte, eine eigene Rahmengeschichte herumschreiben. Dabei war es egal, ob das Gedicht am Anfang, in der Mitte oder am Ende


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