Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel. Nadine Erdmann
doch er war breiter, seine Konturen waberten und er schien aus nichts als undurchdringlicher Schwärze zu bestehen.
Von Sam und Lily war nichts mehr zu sehen.
Cam warf einen hastigen Blick zu Ella. »Wir reißen ihn auseinander, okay?«
Sie nickte knapp. Silbernebel wirbelte angriffsbereit um ihre Finger.
»Jetzt!« Cam ließ seine Energie auf den Schatten los.
Nebelfäden verästelten sich wie ein vielzackiger Blitz und krallten sich in die Schwärze. Auf der anderen Seite des Geistes tat Ella dasselbe, dann zerrten beide an der Todesenergie des Schattens.
Cam merkte sofort, wie stark ihr Gegner war – und die reine, pure Lebensenergie, die er den beiden Kindern raubte, machte ihn noch stärker.
Unbändige Wut rauschte durch Cams Körper. Er hasste dieses Drecksbiest dafür, dass es sich an unschuldigen Kinder vergriff, die sich kein bisschen wehren konnten.
Cam zerrte mit aller Kraft, die in ihm war. Spürte kaum die eisige Kälte, als die Todesenergie in seinen Körper drang. Hass und Wut brodelten so heiß, dass sie sie niederrangen und neutralisierten. Voller Genugtuung sah Cam, wie der Schatten allmählich durchscheinend wurde.
Das Biest wurde schwächer.
Cam konnte Sam und Lily in seinem Inneren sehen. Sie schwebten einen knappen Meter über dem Boden in der Schwärze und schienen bewusstlos zu sein.
Hoffentlich.
Sie durften nicht tot sein.
Sie waren noch so jung. Erst drei und fünf.
Ihre Leben durften einfach noch nicht vorbei sein, bloß weil dieser beschissene Geist sie erwischt hatte!
Wieder zerrte Cam mit aller Macht.
Seine Hände brannten vor Kälte, als er noch mehr Todesenergie in sich hineinzog. Er spürte den Zorn des Schattens, fühlte, wie die Kreatur dem Ende bewusst versuchte, den Spieß umzudrehen und Cam seine Energie zu rauben.
Vergiss es!
Grimmig presste er die Kiefer aufeinander.
Er würde dieses verfluchte Biest garantiert nicht gewinnen lassen!
Ihm gegenüber kämpfte Ella genauso entschlossen.
Gemeinsam mussten sie es einfach schaffen!
Wieder zerrte Cam eine Woge Todesenergie in sich hinein, löschte sie mit seinem silbernen Leben, griff nach noch mehr Tod – und plötzlich riss der Schatten auseinander.
Ella und Cam stolperten zurück, als ihre Silbernebel auf einmal ins Leere griffen, und Sam und Lily fielen reglos auf die regennasse Einfahrt.
Der Geist war zerfetzt.
Sie hatten es geschafft!
Ein paar letzte schwarze Schwaden zerfaserten ins Nichts, doch dafür hatte weder Cam noch Ella einen Blick übrig. Sie stürzten zu den beiden Kinder, legten ihre Hände auf ihre Stirn und suchten nach der Lebensenergie der Kleinen.
»Was ist mit ihnen?« Völlig aufgelöst kauerte Linda sich neben sie.
»Sind sie –« George brach ab, unfähig, den Satz zu Ende zu sprechen.
Cam hatte gar nicht mitbekommen, dass er aufgetaucht war. Er musste im Haus gewesen sein und die Schreie seiner Familie gehört haben.
»Lily lebt.« Ella hatte ihre Hände um die Stirn der Fünfjährigen gelegt.
»Sam auch. Aber nur noch gerade so.«
Die beiden Eltern keuchten erleichtert auf.
»Bitte, könnt ihr ihnen helfen?«, schluchzte Linda.
Cam schickte bereits Lebensenergie in Sam, konnte sich aber nicht gut genug konzentrieren, weil er gleichzeitig die Umgebung absuchte.
Wenn hier ein verdammter Geist gelauert hatte, konnte es auch noch andere geben.
»Klar«, sagte Ella sofort. »Aber wir müssen ins Haus. Geister lieben Kinder und wir sind hier sechs Leute auf einem Haufen. Wenn wir hierbleiben, locken wir noch mehr Biester an.«
»Verdammt, natürlich! Kommt rein!«
Rasch nahm George seine Tochter auf den Arm, Linda ihren Sohn und sie hetzten ins Haus.
Cam wollte hinterhereilen, spürte aber, wie ihm beim Aufstehen schwindelig wurde, sodass er es langsamer angehen lassen musste, als ihm lieb war. Ella half ihm auf und sie stolperten so schnell sie konnten hinter George und Linda her ins Wohnzimmer der Familie.
Sam und Lily brauchten sie.
Wenn der Schatten sie zu sehr geschwächt hatte, bestand auch jetzt noch die Gefahr, dass ihre Herzen aufhörten zu schlagen.
»Was können wir tun?«, fragte George hektisch, als er Lily auf dem Sofa abgelegt hatte.
»Ruft bei uns zu Hause an und sagt Mum und Dad, dass sie herkommen sollen.« Ella hockte sich neben Lily.
Cam tat dasselbe bei Sammy, den Linda ans andere Ende des Sofas gelegt hatte. Der Kleine war kreidebleich. Hastig zog Cam den Reißverschluss von Sams Jacke auf, ließ seine linke Hand unter den Pullover des Kleinen gleiten und legte sie auf sein Herz. Mit der rechten berührte er wieder Sammys Stirn. Dann schloss er die Augen und blendete alles andere um sich herum aus.
Der Körper unter seinen Händen war eiskalt. Aber da war ein Herzschlag. Nur ganz schwach, doch das war alles, was Cam brauchte. Er bündelte seine eigene Lebensenergie und schickte sie zu Sammys Herz. Legte jede Menge Wärme hinein, um die Kälte zu vertreiben, und strich mit den Fingern sanft über Sammys Stirn. Er dachte an Sonnenschein, heißen Kakao mit bunten Marshmallows und warme Kuscheldecken vor einem fröhlich knisternden Kaminfeuer. Die Bilder schickte er Sam, in der Hoffnung, dass der Kleine merkte, dass jetzt etwas Gutes passierte und er keine Angst mehr haben musste. Und plötzlich spürte er, wie Sammys Herz kräftiger zu schlagen begann.
Cam wurde fast schwindelig vor Erleichterung.
Er hatte es geschafft!
Rasch schickte er mehr von sich durch Herz und Stirn des Kleinen.
Komm schon, Sammy! Du musst wieder aufwachen!
Es war ein unglaubliches Gefühl, jemandem Lebensenergie zu schenken. Cam merkte zwar, dass es ihn auslaugte, doch es tat seiner Seele gleichzeitig unfassbar gut und er konnte fühlen, wie es Sam immer besser ging, wie er wieder stärker wurde und –
»Cam, das ist genug.«
Er fuhr heftig zusammen, als Sues Stimme plötzlich direkt neben ihm erklang, und riss die Augen auf.
Böser Fehler.
Heftiger Schwindel hob die Welt um ihn herum aus den Angeln. Alles schien zu schwanken. Grelle Lichtpunkte flackerten vor seinen Augen und mörderische Kopfschmerzen bohrten sich durch seine Schläfen.
Er keuchte auf.
»Schon okay. Du bist nur erschöpft.« Beruhigend strich Sue ihm über die Schulter und legte ihre Hand über Cams, die noch immer auf Sammys Stirn lag. »Trenn die Verbindung zwischen euch.«
»Nein«, murmelte Cam. »Er muss wieder aufwachen.«
»Das wird er«, versprach Sue. »Aber du hast jetzt genug für ihn getan, den Rest übernehme ich.« Liebevoll zauste sie ihrem Sohn durch die regennassen Haare. »Du hast ihm das Leben gerettet, aber jetzt musst du an dein eigenes denken. Also lass ihn los. Ich sorge dafür, dass Sammy aufwacht.«
Cam spürte eine Welle von Übelkeit und merkte, wie er zitterte.
Sue hatte recht.
Sein Körper warnte ihn davor, dass seine Energiereserven zur Neige gingen.
Er schloss die Augen. Sam wollte