Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel. Nadine Erdmann

Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann


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noch cooler war das Gedicht, das Evan vorgeschlagen hatte: The Raven von Edgar Allan Poe, in dem ein Mann nach dem Verlust seiner Geliebten mit Trauer, dunklen Gedanken und überreizten Nerven kämpft und eines Nachts von einem unheimlichen Raben in den Wahnsinn getrieben wird.

      Einige der Textzeilen sprachen Cam auf eine Weise an, wie es Gedichte nur äußerst selten schafften.

      Weniger cool war, dass sie nur diesen Freitag als gemeinsamen Nachmittag gefunden hatten, um ihre Rahmengeschichte zu schreiben.

      Cam verzog das Gesicht. »Sorry, nein, ich bin noch da. War nur eine verdammt lange Woche.« Er reckte sich auf seinem Stuhl und kratzte sich wieder den Arm.

      Die Schnitte heilten, juckten aber wie blöde.

      Evan musterte ihn. »Das glaub ich dir sofort.« Die dunklen Schatten unter Cams Augen waren nicht zu übersehen. »Und es tut mir leid, dass wir das alles nur meinetwegen heute noch machen mussten.«

      »Schon okay.« Ella tippte den letzten Absatz ihrer Geschichte, den sie und Evan gerade formuliert hatten, in den Laptop. »Ist doch schön, dass deine Cousine am Wochenende heiratet.«

      Evan schnaubte. »Das sagst du nur, weil du meine Familie nicht kennst. Seit Monaten gibt es kein anderes Thema mehr als diese blöde Hochzeit. Und du glaubst gar nicht, wie oft und wie lange man in unterschiedlichen Kombinationen miteinander telefonieren kann, um gemeinsam darüber zu jammern, dass es seit zwei Tagen dauerregnet.« Er verdrehte die Augen. »Als ob schönes Wetter am Hochzeitstag eine Garantie dafür ist, dass die Ehe halten wird.«

      Cam grinste. »Wenn deine Familie um die Hochzeit so einen Aufstand macht, ging Petrus das ganze Tamtam vermutlich irgendwann auch auf den Keks und er lässt es deshalb jetzt schütten ohne Ende.«

      »Toll«, meinte Evan ironisch. »Und warum bestraft er damit auch mich? Ich bin derjenige, der sich das ganze Gejammer nachher beim Abendessen wieder anhören muss.«

      Übertrieben leidend stützte er die Ellbogen auf die Tischplatte und vergrub sein Gesicht in den Händen.

      »Sieh es positiv«, versuchte Cam ihn aufzumuntern. »Es gibt bestimmt leckeres Essen, wenn sie die Feier so gut durchgeplant haben. Und Hochzeitstorte.«

      »Ein schwacher Trost.« Mit einem abgrundtiefen Seufzen tauchte Evan wieder aus seinen Händen auf. »Ich würde am Wochenende jedenfalls bedeutend lieber in London bleiben. Die Gesellschaft hier ist viel reizvoller.« Er warf einen spitzbübischen Blick zu Cam. »Und leckeres Essen gibt es hier auch. Ich kann dir gerne mal ein paar meiner Favoriten zeigen, wenn du willst. Auf was stehst du denn so? Gibt es Sachen, die du besonders gerne magst? Oder müssen wir auf irgendwelche Allergien oder Unverträglichkeiten aufpassen?«

      Hinter dem Laptopbildschirm biss Ella sich auf die Lippen, um nicht zu offensichtlich zu grinsen, als sie den Blick sah, mit dem Evan Cam anschaute. Still vergnügt tippte sie die Schlusssätze.

      »Ehm, nein – ich –«

      Ein Klopfen an der Tür des Medienraums rettete Cam davor, weiterreden zu müssen.

      Mr Fisher, der Hausmeister der Ravencourt Comprehensive School, kam zu ihnen herein. »Tut mir leid ihr drei, aber es ist gleich sechs und ich muss euch so langsam hier rausschmeißen.«

      »Kein Problem«, sagte Ella sofort. »Wir sind fertig. In fünf Minuten sind wir hier weg.«

      »Gut. Dann schließe ich schon mal die Seitentüren ab und wir treffen uns vorne am Haupteingang.«

      »Okay. Danke, dass wir hier arbeiten durften.« Evan begann seine Sachen in seinen Rucksack zu stopfen.

      »Kein Problem.« Der Hausmeister zog einen dicken Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und verschwand damit klimpernd auf dem Gang.

      »Wie weit bist du?«, fragte Evan an Ella gewandt. »Ich kann die Geschichte heute Abend zu Ende schreiben, wenn noch was fehlt. Gibt mir eine hervorragende Entschuldigung, um die gemeinsame Abendessenszeit knapp zu halten, wenn mir das Hochzeitsgelaber zu viel wird.«

      »Sorry, aber die Ausrede wird nicht funktionieren. Ich hab den Text fertig. Lenore hat ihren Tod nur vorgetäuscht und den Raben zum Ich-Erzähler geschickt, um ihn in den Wahnsinn zu treiben.« Ella fuhr den Laptop herunter. »Ich hab euch den Text zugeschickt, dann kann ihn jeder von uns noch mal gegenlesen und Änderungen vorschlagen.«

      »Perfekt. Dann hab ich ja doch eine Ausrede.« Evan griff nach seiner Tasche und stutzte, als sein Blick zufällig auf Cams Ärmel fiel. Am linken Unterarm war das Hemd voller kleiner Blutflecken. »Hey, was ist mit deinem Arm? Hast du dich verletzt?«

      Shit.

      Verärgert über sich selbst wischte Cam über den Ärmel, änderte damit an den Flecken aber natürlich gar nichts.

      Warum mussten die blöden Hemden der Schuluniform auch weiß sein? Zuhause trug er nur schwarz, da fiel es nicht weiter auf, wenn er an den Schnitten kratzte. Aber in der Schule musste er echt besser aufpassen.

      »Das sind bloß Kratzer vom Spielen mit unserem Kater«, tat er es ab und nahm seinen Rucksack. »Er ist noch ein Kitten und ziemlich ungestüm. Deshalb fließt manchmal ein bisschen Blut, weil er seine Kräfte noch nicht einschätzen kann. Aber er meint es nicht böse.«

      Gedanklich entschuldigte er sich bei Holmes, fand die Ausrede mit den Katzenkratzern aber eigentlich ziemlich genial.

      »Klingt nach einem kleinen Tiger«, meinte Evan, als die drei den Medienraum verließen.

      »Eigentlich ist er eher ein Panther.«

      Evan deutete zur Klotür. »Willst du dich waschen?«

      »Quatsch. Es sind nur Kratzer und das Hemd geht sowieso in die Wäsche. Und Mr Fisher sollte nicht noch länger auf seinen Feierabend warten.«

      Sie holten ihre Jacken aus den Spinden und verabschiedeten sich vom Hausmeister, der am Haupteingang auf sie wartete und die Schule abschloss, nachdem alle das Gebäude verlassen hatten.

      Kalter Wind blies ihnen entgegen und Regen fiel in dichten Schleiern auf London herab. Es war erst sechs Uhr und trotzdem schon recht dunkel. Die Magnesiumlaternen auf dem Schulhof brannten bereits, genauso wie die Straßenlampen.

      »Na toll.« Grummelnd zog Evan sich die Kapuze seiner Regenjacke über.

      Die drei rannten über den Schulhof zur Straße und suchten Schutz unter dem Häuschen der Bushaltestelle.

      »Kommst du sicher nach Hause?«, fragte Cam. »Gibt es überall Straßenlaternen auf deinem Weg?«

      Evan nickte. »Sind allerdings nicht die Zuverlässigsten. Sobald es Stromschwankungen im Netz oder Probleme mit der Versorgung gibt, fällt die Beleuchtung bei uns gerne mal aus.«

      »Und dagegen macht keiner was?« Ella runzelte die Stirn. »Das kann doch echt gefährlich sein.«

      Evan hob die Schultern und verfiel in einen sarkastischen Zitierton. »Die Stadtwerke bitten um Verständnis, dass es in einer so großen Stadt wie London manchmal zu Engpässen kommen kann, und sie an erster Stelle sicherstellen müssen, dass öffentliche Gebäude wie Krankenhäuser, Pflegeheime, Schulen und Kindergärten sowie wichtige Straßenzüge und andere Orte des öffentlichen Interesses einwandfrei versorgt werden. Ach ja, und selbstverständlich die Viertel der Schönen und Reichen«, fügte er spöttisch hinzu. »Aber das steht natürlich nicht in den tollen Mitteilungen, die man uns Durchschnittsbürgern in den ganz normalen Wohnvierteln jedes Jahr vor der dunklen Jahreszeit zuschickt. Bekommt ihr die nicht?«

      »Nope«, antwortete Ella. »Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Aber in unserer Straße gibt es auch keine Laternen. Vielleicht liegt es daran.«

      »Jetzt echt? Wo wohnt ihr denn?«

      »In einer kleinen Sackgasse direkt am Wald vom Hampstead Heath. Die ist zu unbedeutend, als dass die Stadt dort Geld in eine Straßenbeleuchtung investieren würde.«

      »Aber wenn eure


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