Die Skrupellose - Schweden-Krimi. Inger Frimansson

Die Skrupellose - Schweden-Krimi - Inger Frimansson


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Sie hatten sich an dem Haus vorbeigeschoben, in dem sie wohnte, und Jerry hatte wahrscheinlich gehofft, sie würde aus dem Haus kommen, aber das tat sie nicht, und das war auch gut so, denn es wäre gar nicht so leicht gewesen, für eine weitere Person Platz zu finden.

      »Es ist nicht gerade ein Familienauto«, hatte Jerry gegrinst. Er war angespannt und überdreht gewesen, hatte sich überallhin umgedreht. »Pass lieber auf, wo du hinfährst«, hatte Daniel gesagt und darum gebeten, auch mal fahren zu dürfen, aber das war nicht drin gewesen, Jerrys Blick war hart geworden wie früher, als sie noch klein waren, er war verwöhnt, dieser Junge, allseits beliebt, konnte sich verstellen und schmeicheln und kuscheln, in den Armen von Åse liegen, der neuen Frau ihres Vaters. Jerry hatte sie im Stich gelassen, das hatte er. Er hatte seine Mutter im Stich gelassen. Ihre Mutter hatte im Krankenhaus gelegen und war gestorben. Und ihr Vater hatte sich von Åse trösten lassen, der besten Freundin ihrer Mutter. Da sieht man mal wieder, wie wichtig gute Freunde sind. Sobald ihre Mutter ihren letzten Seufzer getan hatte, zog Åse bei ihnen ein. Die alten Betten im Schlafzimmer waren hinausgeflogen und von einem Doppelbett mit Kopf- und Fußenden aus Eisen und mit Messingknäufen ersetzt worden. Darin hatten sie fortan jeden Sonntagmorgen gelegen, sein Vater und Åse, und Toast gemampft und Marmelade verkleckert.

      Seine Mutter war viele Jahre krank gewesen. Daniel konnte sich kaum noch an sie erinnern, am ehesten wohl an den kleinen, verschrumpelten Kopf auf dem Kissen, der wie eine Indianertrophäe ausgesehen hatte, war sie da vielleicht schon tot gewesen? Ja, vermutlich. Denn er erinnerte sich an keine Worte wie »passt gut auf euch auf, Jungs, und haltet zusammen« oder etwas Ähnliches in der Art, Dinge, die man wohl so sagt, wenn man auf dem Sterbebett liegt. Er wusste nur noch, dass man sie in das Zimmer geschoben hatte, und erinnerte sich an den Kotgeruch, so als hätte sich seine Mutter unter der Decke in die Hose gemacht. Auf dem Tisch hatte eine Kerze gebrannt. Sie hatte mit ihren knochigen Händen und einer Gerbera auf der Brust im Bett gelegen, ja genau, er erinnerte sich noch an das Wort Gerbera: Jemand hatte wahrscheinlich eine Bemerkung über die schlaffe Blume fallen lassen und gesagt, dass eine Rose eventuell angebrachter gewesen wäre. Ihre Hände kamen im Traum manchmal zu ihm, heute zwar nicht mehr, aber früher, als er noch ein Kind war. Seine Mutter in einem weißen und wallenden Nachthemd wie eine Lucia mit ausgestreckten Händen, die ihm wehtun wollten, ihm an die Kehle gehen wollten, denn er sollte dorthin hinabgezogen werden, wo sie bereits war. Er entsann sich eines Traums, in dem die Erde zur Seite geschlagen war wie eine Decke und von kleinen Löchern durchsetzt war, die Würmer und Wurzeln hinterlassen hatten. Er war aufgewacht und hatte geschrien. Bei Tag hatte er dann erkannt, wie dumm das war, so etwas würde seine eigene Mutter doch niemals tun! Oder doch? Vielleicht schon. Weil er, ohne es zu wollen, das Kind ihrer Freundin Åse geworden war. »Ihr bekommt jetzt eine neue Mama.« Er hatte die flehende Stimme seines Vaters noch im Ohr: »Ihr kennt sie ja schon und sie kennt euch.« Kein Wort über die alte Mama, was sie dazu gesagt und gedacht hätte, kein Wort über den Verrat.

      Sie hatten dann auch geheiratet. Jerry und Daniel wurden in Samtanzüge gesteckt und waren mit ins Rathaus gegangen, und die Rathausglocke hatte zwölf geschlagen.

      »Mein kleiner Daniel«, hatte seine Großmutter väterlicherseits gesagt, »jetzt wird alles wieder gut bei euch zu Hause, ihr braucht eine weibliche Hand.« Großmutter und Großvater hatten Konfetti geworfen, keine Reiskörner. Die waren nicht gut für die Vögel, denn ihre Mägen blähten sich davon auf und platzten. Er sah es vor sich, reihenweise aufgeplatzte Tauben. Er hätte es gerne mit eigenen Augen gesehen, aber die Großmutter hatte seine Hand genommen und ihn in der Tüte mit Konfetti wühlen lassen und er hatte es herausgeholt und mit Schwung geworfen. Die kleinen, bunten Papierschnipsel hatten Åses festgesprayte Frisur getroffen und waren anschließend auf die Treppe gefallen.

      Seine Knie schmerzten. Er hätte zu gerne die Beine ausgestreckt und geschlafen. In einem weichen, frisch bezogenen Bett. Er war verzweifelt und wurde immer hungriger. Er saß da und lauschte auf Geräusche, aber es war still im Haus.

      Sein Vater und Åse bekamen dann noch ein Kind. Ein eigenes Kind, eine Halbschwester für Jerry und ihn. Sie wurde Martina getauft und war geistig zurückgeblieben, es hing irgendwie mit den Chromosomen zusammen. Manchmal dachte er, dass es die Rache seiner Mutter gewesen war.

      Als er das letzte Mal von ihr gehört hatte, war sie gerade in eine Art Wohngemeinschaft gezogen. Sein Vater hatte erleichtert geklungen, als er es erwähnte. Sie war so anstrengend, ließ keinen anderen zu Wort kommen, schrie und bekam heftige Wutanfälle. Vielleicht war der Geist seiner Mutter in sie gefahren und strafte seinen Vater und seine neue Frau, indem er die beiden isolierte, denn niemand mochte sie mehr besuchen. Dieses Kind hatte allen Raum eingenommen.

      Er döste ein, träumte von Ratten, die sich zu ihm vornagten und in seine Schuhe bissen, und erwachte von einer Bewegung an seiner Wange. Er stöhnte auf und konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken, wusste augenblicklich wieder, wo er war, und dass er vorsichtig sein musste. Wie lange hatte er geschlafen? War es schon Morgen? Mühsam kam er auf die Beine. Seine Gelenke knackten und schmerzten, er presste das Ohr an die Tür, hörte jedoch nichts, also öffnete er und trat in den Flur hinaus und lauschte. Nein, es kam niemand. Er ließ Wasser in den Eimer laufen und nutzte die Gelegenheit, um in den Ausguss zu pinkeln.

      Er putzte gerade den Fußboden, als die Kellertür aufgeschlossen wurde. Er holte tief Luft, hörte die leichten Schritte einer Frau. Sie hielt einen Helm in der Hand, den sie gerade abgenommen hatte. Ihre Haare hatten sich gelöst und hingen auf die Schultern herab.

      Sie blieb stehen.

      »Ach, sieh an, du bist das?«, sagte sie freundlich.

      Da erkannte er sie. J. Bosch.

      »Wie viel Uhr ist es?«, fragte er.

      »Fünf vor sechs.«

      Er starrte auf den Schrubber hinunter, die groben Troddeln erinnerten an Raupen.

      »Du putzt schon wieder?«, fragte sie.

      Daniel nickte.

      Sie kam auf ihn zu, ein Geruch aus Parfüm und Frau schlug ihm entgegen, ihre Hand legte sich auf seine Augenbraue. »Was ist denn mit dir passiert? Was hat man mit dir gemacht?«

      Er verbarg sich nicht vor ihr, wandte ihr vielmehr sein Gesicht zu und seine Unterlippe hing herab wie bei einem Kind. Er weinte lautlos, schluchzte ein wenig, aber sie bekam keine Angst, zog sich nicht zurück, nahm seine Hand und drückte sie. »Jetzt stell das Zeug weg, komm mit mir nach oben und lass mich mal hören, was los ist, was der arme Junge angestellt hat.«

      15. Magda

      Er blieb eine gute Stunde bei ihr. Während der gesamten Zeit seines Besuchs war er der fremde Florian, nicht der Florian, den sie liebte. Er hatte nicht die Kraft, sie zu trösten, die Sorge um seine Tochter wog zu schwer, verwandelte ihn und ließ ihn grausam werden.

      Geh bitte, dachte sie, geh!

      Aber gleichzeitig auch: Geh nicht!

      Denn wenn er ginge, würde sie alleine zurückbleiben und sie würden sich unversöhnt getrennt haben. Wie sollte sie dann die Sehnsucht nach ihm ertragen?

      So wie jetzt war er auch früher manchmal gewesen. Er konnte launisch sein. Etwas, das sie sagte oder tat, eine Geste, eine Miene, konnte er leicht falsch verstehen. Dann reagierte er verletzt. Da machte sich sein rumänisches Temperament bemerkbar. Floss in seinen Adern vielleicht sogar Zigeunerblut? Sie war dann stets gezwungen, ihr eigenes Ich auszulöschen und dafür zu sorgen, dass er wieder bessere Laune bekam. Ab und zu hatte sie das als einen gewaltsamen Übergriff empfunden, aber die anschließende Versöhnung hatte sie dies wieder vergessen lassen, wenn er sie an seine Brust zog, wenn sie sein Herz durch den dünnen Stoff schlagen hörte. Dieses sanfte Glücksgefühl. Halte meine Brüste, Florian, ich schenke sie dir. Mach mit mir, was du willst.

      Und jetzt? Gab es für sie noch eine Chance auf Versöhnung? Was sie getan hatte, war unverzeihlich und nicht wieder gutzumachen. Er hatte sein einziges Kind in ihre Hände gegeben, und sie hatte zugelassen, dass Angelica verschwand.

      Er stand an der Tür. Sie hatte sich angekleidet ins Bett gelegt und die Decke bis an


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