Kojas Wanderjahre. Alois Theodor Sonnleitner
von Dachschiefern stellt; langohrige Häschen, dickbeinige Hunde, Pferde und grossköpfige Reiter.
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Ein Wagen, auf dem ein grosses Fass liegt, fährt vom Wiesenbach herüber in den Garten. Der Kutscher lässt das Wasser aus dem Fass in den weiten Bottich laufen, der mitten im Garten unterm Zwetschgenbaum steht. Der Kegelbub und Koja baden in dem klaren Wasser. Dann klettert der Kegelbub auf den Baum und holt ein paar halbreife Früchte herunter. Koja isst eine Zwetschge und lässt den Kern ins Wasser fallen. Er schaut dem Kerne nach, wie er hin- und hergaukelnd zu Boden fällt. Plötzlich sieht er den Kern nicht mehr, an seiner Statt aber ein silberig glänzendes Fischlein, das seine Beine umschwimmt und wie neugierig an seine Knie stösst. — Und jetzt glaubt er etwas Wunderbares zu wissen: Wenn man einen Zwetschgenkern ins Wasser wirft, so wird daraus ein Fisch. Aber er behält seine erste Entdeckung für sich. Niemand soll’s wissen, nur er. Die Kerne aller Zwetschgen, die er von jetzt an essen wird, will er in Fische verwandeln. Er sammelt sie in den Hosensäcken, und so oft er es ohne Zeugen tun kann, wirft er einen Kern in ein Wassergefäss, da in ein Büttel, dort in ein Schaff, in den Wasserkrug, in das Waschbecken. — Aber die erwartete Wirkung bleibt immer wieder aus. Da gibt er sein wertlos gewordenes Geheimnis preis. Die Grossmutter kommt wieder einmal zu Besuch. Der sagt er’s. Da lacht sie, dass ihr die Schürzenbänder hüpfen: „Aber Koja! Das Fischerl in dem Bottich war ja aus dem Bach. Das hat der Kutscher beim Wasserschöpfen herübergefangen.“ „Na, und wie ist das, dass die kleinen Fischerln werden?“ fragt er unbefriedigt. „Dass die Henne Eier ins Nest legt, das weisst du?“ — „Ja.“ — „Dass sie mit ihrem warmen Leib auf den Eiern sitzt, dass dann aus den Eiern die jungen Hühnchen werden, weisst auch.“ „Ja.“ — „Nun, siehst du. So legt die Fischmutter ihre Eier ins Wasser, die liebe Sonne scheint warm darauf und aus den Fischeiern werden kleine Fischlein.“ — Mit Bedauern muss es Koja ertragen, dass seine erste Entdeckung ein Irrtum ist. So hat bei ihm die Naturgeschichte begonnen. Entdeckung, Fehldeutung, Erkenntnis. So erfuhr er frühzeitig, dass ein Ereignis, welches einem andern folgt, nicht vom erstern bedingt sein muss. Sein Sinn für das Geschehen in der Natur war geschärft, deren Rätsel ihn fortan beschäftigten, die Jugend hindurch, so dass er als Schauender und Forschender in die wissenschaftliche Arbeit seiner Mannesjahre hineinwuchs.
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Wieder ein halbes Jahr später: Ein frostklarer Februarmorgen. Noch warfen die Schlöte der Daschitzer Zuckerfabrik und die massigen Gebäude des Brauhauses lange Schlagschatten über die niederen Häuser des Ortes und in die pflasterlosen Gassen. In den Wagengleisen schimmerten weisse Eiskrusten, die grosse Luftblasen einschlossen. Mit schwachem Schellengeläute kamen die Strasse herauf zwei aneinandergekoppelte Karren, auf denen Langholz geführt wurde. Langsam und mit hangenden Köpfen zogen die beiden Pferde ihre Last. Es waren die letzten zwei Pferde der Lorentischen. Sie blieben vor dem Wirtshaus stehen. Sie frassen aus den vorgehängten Habersäcken. Sichtbar stieg der Dampf aus den schweissbedeckten Leibern der Pferde durch die Wolldecken auf, die der Knecht über ihren Rücken gebreitet hatte. Es waren schöne Pferde, das eine braun mit weissem Stirnfleck, das andere eisengrau. Und mit Stolz dachte Koja immer wieder: „Es sind unsere Pferde. Und sie bringen die Bäume aus unserem Wald. Und der ist dort irgendwo beim Kunietitzer Berg, wo die Grossmutter wohnt, und wo der Vater sein Bauerngut hat.“
Koja war damals ein Knirps von viereinhalb Jahren; aber wer’s nicht wusste, gab ihm sechs. Er war ein starker Bub und ein kleiner Gernegross, der alles beguckte und die Erwachsenen mit Fragen quälte. Gekleidet war er wie ein Jagdgehilfe; so hatte er sich’s von der Mutter erbettelt. Die flachsgelben Ringellocken fielen ihm auf den grünen Kragen des grauen Röckleins nieder, das grün gesäumt war. Die neuen Röhrenstiefel — es waren seine ersten — prahlten in der Pracht handbreiter lacklederner Stulpen. Sie knarrten mit dem hartgefrorenen Schnee um die Wette; die Eishäutchen in den Wagengleisen knisterten, wenn der Bub darauf trat. Und wo das Eis widerstand, schlug er’s mit den eisenbeschlagenen Absätzen auf, dass es klirrend zerbrach.
Die Sonne war über den Giebel des Brauhauses emporgestiegen und ihre Strahlen strichen über die Fichtenstämme, die hochgeschichtet auf den beiden Karren lagen und mit ihren niederhangenden Wipfeln den Boden streiften. Ihre harzverquollenen Schlagwunden begannen zu duften. Es roch nach Weihnachten. Da sah Koja den Glasermeister kommen. Er liess ihn nicht vorbei. „Unsere Bäum’!“ rief er ihm zu. „Aus unserem Wald — ja.“ „So? — Noch?“ gab der alte Mann zurück und sah das Kind mit seinen guten grauen Augen traurig an; dann hastete er weiter. Ihn mochte in die Finger frieren, mit denen er eine dicke Glasscheibe unterm Arm trug. Das Wörtlein „Noch“ war verklungen mit seinem tieftraurigen, verlustvordeutenden Sinn, vom Knaben unverstanden, wie von vielen, die sich im sicheren Besitz eines hinschwindenden Gutes wähnen. Koja umschritt den Wagen. Zwei grüne Fichtenreiser, die zwischen den Stämmen eingeklemmt waren, zog er heraus. Eins für sich und eins für die Agi. Ah, wie die dufteten! —
Gern wäre er durch die Gaststube ins Wohnzimmer gegangen, dass die Gäste seine neuen Röhrenstiefel gesehen hätten und die Reiser von den Bäumen aus „unserm“ Wald. Aber die Mutter duldete nicht, dass die Kinder die Gaststube betraten. So machte Koja den Umweg durch den Hof; er gelangte ins Wohnzimmer und von da in die Schlafstube. Seinen Zweig steckte er hinter das Bild seines Namenspatrons, das über seinem Bette hing. Der Schwester aber verbarg er den ihren im angefangenen Strickstrumpf. Als sie aus der Schule kam, führte er sie ganz nahe dazu; da musste sie riechen und raten. Richtig brachte sie es heraus. Früh am Nachmittag, als es zu schneien begann, so dass es in der Stube dunkel wurde, zündete sie die Lampe an, setzte sich in den Lehnstuhl und begann dem Brüderlein im Bilderbuch alles zu zeigen, was es in „unserm“ Walde gäbe. Nur um zwei Jahre älter als Koja, spielte sie gerne Grossmutter; sie setzte sich eine alte gläserlose Hornbrille auf die Nase und begann die Bilder zu erklären. Da belebte sich der Wald mit Hirschen, Rehen, Bären, Löwen, Hasen, Füchsen, Wölfen und mit jenen wunderbaren Vögeln, die den Kindern aus den Märchen und Legenden der Grossmutter längst vertraut waren. Der geizige Specht, der barmherzige Kreuzschnabel, der Bluthänfling, sie alle lebten im Walde, der für die Kinder die Heimat des Wunderbaren, des Grossen, des Schönen und Geheimnisvollen war. Weiter, weiter und weiter hin dehnte sich der Wald, und wo er am dunkelsten war, stand die Hütte der Knusperhexe.
Das Nachtmahl nahmen die Geschwister in der grossen Küche ein, beim „Katzentischerl“ in der Fensternische. Die Mutter aber stand mit glühenden Wangen beim Herde. Sie kochte und briet für die Gäste, dass es zischte und prasselte und brotzelte.
Aus der Wirtsstube drang ein Stimmengewirre, ein Lachen und Gläserklirren; und ab und zu hörte man, wie die Spielkarten auf den Tisch klatschten. Da drinnen sass mitten unter seinen vielen Freunden der Vater. Nur selten bekamen die Kinder ihn zu sehen. Nach dem Abendessen kehrten sie in die Wohnstube zurück und bezogen wieder den Märchenwinkel beim warmen Kachelofen. Die alte Hauskatze ringelte sich auf Kojas Schoss zusammen und schnurrte. Da begann er von der Schwester Märchen zu erfragen, die er schon oft gehört, und die ihm immer schöner wurden. Agi musste erzählen, immerzu vom Walde; es waren alte Märchen. „Sag, Agi, warum nennst du den Specht geizig?“ Und sie erzählte: „Als der Heiland noch auf Erden gewandelt ist, da ist er auch einmal zu Frau Gertrude gekommen; die hat gerade Kuchen gebacken. Und weil er hungrig gewesen ist, hat er sie gebeten um etwas zu essen. Sie hat ihm wollen den Kuchen geben, der gerade in der Pfanne war. Und der Kuchen ist gewachsen und ist gar wunderlich gross geworden. Da hat sie gesagt: „Den kann ich dir nicht geben, der ist zu gross geworden.“ So ist es auch mit dem zweiten gewesen und mit dem dritten. Und sie hat den Heiland hungrig weggehen lassen. Da hat er sie zur Strafe für ihren Geiz in einen Vogel verwandelt. Der ist durch den Rauchfang hinausgeflogen und ist ganz schwarz geworden vor Russ. Nur das rote Kopftuch ist rot geblieben, drum heisst der schwarze Specht bis heute Gertrudsvogel; er hat kohlschwarze Federn und ein rotes Käppchen.“ — „Und wie ist das mit dem Kreuzschnabel? Warum nennst du ihn barmherzig?“ — „Der Heiland ist an dem Kreuze gehangen. Da ist der gute Vogel geflogen gekommen und hat sich auf das Kreuz gesetzt. Und weil ihm der Heiland erbarmt hat, hat er ihm wollen die Nägel aus den Füssen und den Händen ziehen. Dabei ist sein Brüstlein rot geworden vom Blute des Heilandes und den Schnabel hat sich der Vogel verbogen.“ Und von der Natternkönigin, jener aschfarbenen Schlange, wusste Agi zu berichten, dass sie ein Goldkrönlein auf dem Haupte